BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Ernst Haeckel

1834 - 1919

 

Kunstformen der Natur

 

Vorwort

 

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Die Natur erzeugt in ihrem Schoße eine unerschöpfliche Fülle von wunderbaren Gestalten, durch deren Schönheit und Mannigfaltigkeit alle vom Menschen geschaffenen Kunstformen weitaus übertroffen werden. Die Naturprodukte, aus deren Nachahmung und Modellierung die bildende Kunst des Menschen hervorgegangen ist, gehören be­greiflicherweise solchen höheren Gruppen des Pflanzenreichs und des Tierreichs an, mit denen der Mensch in beständiger Berührung lebte, vor allem den Blütenpflanzen und Wirbeltieren. Dagegen ist den meisten Menschen größtenteils oder ganz unbekannt jenes uner­meßliche Gebiet der niederen Lebensformen, die versteckt in den Tiefen des Meeres wohnen oder wegen ihrer geringen Größe dem unbewaffneten Auge verschlossen bleiben. Der größte Teil dieser verborgenen Schönheiten der Natur ist erst durch die ausgedehnten Forschungen des 19. Jahrhunderts aufgedeckt worden.

Besonders ergiebig an eigenartigen und wundervollen Gestalten ist das weite Reich der Protisten oder Zellinge, jener einfachsten Organismen deren ganzer lebendiger Körper nur aus einer einzigen Zelle besteht: Radiolarien, Thalamorphoren und Infusorien unter den Urtieren (Pro­tozoen) Diatomeen, Kosmarieen und Peridineen unter den Urpflanzen (Protophyten). Die erstaunliche Fülle von zierlichen und phantastischen Formen, die diese einzelligen Protisten hervorbringen ist uns erst durch dass verbesserte Mikroskop, die verfeinerten Beobachtungsmethoden und die plan­mäßige Meeresforschung der Neuzeit zugänglich gewor­den. Diesen ver­danken wir aber auch einen überraschenden Reichtum an Ent­deckungen auf den benachbarten Gebieten, auf denen größere Orga­nismen niederen Ranges ihre bewunderungswürdige Gestaltungs­kraft entfalten: Algen, Pilze und Moose unter den niederen Pflanzen; Polypen, Korallen und Medusen unter den Nesseltieren.

Die Mehrzahl der vorhandenen Abbildungen dieser formenschönen Organismen ist in teuren und seltenen Werken versteckt und dem Laien schwer erreichbar. Die vorliegenden „Kunstformen der Natur“ dagegen verfolgen den Zweck, jene verborgenen Schätze ans Licht zu ziehen und einem größeren Kreise von Freunden der Kunst und der Natur zugänglich zu machen. Seit frühester Jugend von dem Formenreize der lebendigen Wesen gefesselt und seit einem halben Jahrhundert mit Vorliebe morphologische Studien pflegend, war ich nicht nur bemüht, die Gesetze ihrer Gestaltung und Entwickelung zu erkennen, sondern auch zeichnend und malend tiefer in das Geheimnis ihrer Schönheit einzudringen. Auf zahlreichen Reisen, die sich über einen Zeitraum von fünfundvierzig Jahren erstrecken, habe ich alle Länder und Küsten Europas kennen gelernt und auch an den interessantesten Gestaden des nördlichen Afrika und des südlichen Asien längere Zeit gearbeitet. Tausende von Figuren, die ich auf diesen wissenschaftlichen Reisen nach der Natur gezeichnet habe, sind bereite in meinen größeren Monographien publiziert; einen anderen Teil will ich bei dieser Gelegenheit veröffentlichen. Außerdem werde ich bemüht sein, aus der umfangreichen Litteratur, die schönsten und ästhetisch wertvollsten Formen auszulesen und zusammenzustellen. Wenn die ersten Hefte beifällig anfgenommen werden, so sollen später auch die selteneren und weniger bekannten Schönheiten aus dem Gebiete der höheren Tier- und Pflanzenwelt eine entsprechende Darstellung finden.

Zunächst werden von den „Kunstformen der Natur“ 50 Tafeln erscheinen (fünf zwanglose Hefte zu je zehn Tafeln), jede Tafel von einem erläuternden Textblatt begleitet. Im Falle einer günstigen Aufnahme ist eine größere Zahl von Heften in Aussicht genommen; ich hoffe dann, nach Vollendung von zehn Heften (100 Tafeln), eine allgemeine Einleitung zu dem Werke geben zu können, welche die systematische Ordnung sämtlicher Formengruppen enthält, ferner eine ästhetische Erörterung ihrer künstlerischen Gestaltung sowie Angaben über die wichtigsten Quellen der betreffenden Litteratur.

Die moderne bildende Kunst und das moderne, mächtig empor­geblühte Kunstgewerbe werden in diesen wahren „Kunstformen der Natur“ eine reiche Fülle neuer und schöner Motive finden. Bei ihrer Zusammenstellung habe ich mich auf die naturgetreue Wiedergabe der wirklich vorhandenen Naturerzeugnisse beschränkt, dagegen von einer stilistischen Modellierung und dekorativen Verwertung abgesehen; diese überlasse ich den bildenden Künstlem selbst.

Für die künstlerische Ausführung der Figuren und ihre naturnahe Lithographie bin ich meinem treuen, bewährten Mitarbeiter, Herrn Adolf Giltsch in Jena, zu aufrichtigem Dank verpflichtet. Seinem lebhaften Interesse für die gestellte Aufgabe, seinem morphologischen Ver­ständnis und künstlerischen Talente ist es zu verdanken, daß ich den schon vor langer Zeit entworfenen Plan dieses Werkes endlich in der gewünschten Form ausführen konnte.

Lebhaften Dank schulde ich außerdem für materielle und intel­lektuelle Förderung meines Unternehmens Herrn Dr. Paul von Ritter in Basel, dem begeisterten Freunde und opferwilligen Gönner der Na­turwissenschaft. Als er im Jahre 1886 die „Paul von Ritter'sche Stiftung für phylogenetische Zoologie“ an der Universität Jena gründete, sprach er den Wunsch aus, daß deren Mittel nicht nur zur Förderung akademischer Studien und Forschungsreisen verwendet würden, sondern auch zur Erweckung des Interesses an den Wunderwerken und Schönheiten der Natur in weiteren Volkskreisen. Die Quellen ästhetischen Genusses und veredelnder Erkenntnis, die überall in der Natur verborgen sind, sollen mehr und mehr erschlossen und Gemeingut weitester Bildungskreise werden.

Diesen Anschauungen kam auch das Bibliographische Institut in Leipzig entgegen, das die kostspielige Ausführung und die Veröffent­lichung der Tafeln bereitwillig übernahm; auch ihm statte ich für seine Opfer und Mühen meinen besten Dank ab. Möge unsere gemeinsame Absicht erreicht werden, durch die Bekanntschaft mit den „Kunst­formen der Natur“ gleichzeitig das künstlerische und das wissen­schaftliche Interesse an der herrlichen uns umgebenden Gestaltenwelt zu fördern!

 

Jena, am 16. Februar 1899.

Ernst Haeckel.