BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Karl Grünberg

1891 - 1972

 

Brennende Ruhr.

Ein Roman aus dem Kapp-Putsch

 

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5. Kapitel

 

Jedermann im Industriegebiet fühlte: es lag wieder mal etwas in der Luft.

Die Nahrungsmittelschwierigkeiten nahmen zu. Die Lebensmittel-karten konnten oftmals nicht beliefert werden. Wieder, wie in den Zeiten der letzten Kriegsjahre, gab es für Fleisch Salzheringe, für Fett Kunstho-nig oder Marmelade. Die Polonäsen wuchsen. Das schuf eine gereizte Stimmung.

Die Geschäftsleute schimpften auf Zwangswirtschaft und Karten-system. «Im freien Handel gibt es wieder alles in Hülle und Fülle», schwatzten ihnen viele Arbeiter, vor allem natürlich die vielgeplagten Frauen, nach. Andere aber schoben die Schuld auf die Geschäftsleute, die mit «freiem Handel» freien Wucher meinten. Im «freien Handel» bekam man schon heute alles. Nicht einmal hintenherum, sondern öffentlich, unter den Augen der Regierung, als «Auslandsware» deklariert und zu Apothekerpreisen. Die Behörden taten nichts, um dem Wucher zu steuern. Wurde wirklich mal eine große Schiebung entdeckt, wie jene Kahnladung Rohkaffee, die ins besetzte Gebiet verschoben werden sollte, wurde die Ware nicht einfach enteignet, sondern man zahlte den Spekulanten für die Beschlagnahme noch die üblichen Preise. Von einer wirksamen Bestrafung hörte man nie.

Nachrichten aus dem Ausland steigerten die Erbitterung. In Argentinien feuerte man die Dampfmaschinen mit dem unverkäuflichen Getreide, und in Brasilien wurde der Kaffee ins Meer geschüttet. Leute, die aus dem benachbarten Holland kamen, berichteten, daß dort Fische und Gemüse massenhaft verfaulten, weil bei einem Guldenkurs von achtzig Mark die Deutschen nicht einmal die Frachtkosten hätten zahlen können. Dabei erstickte Holland förmlich in deutschem Papiergeld.

Zeigte die Regierung gegenüber Schiebern und Wucherern jede Nachsicht, so ging sie gegen Arbeiter mit umso größerer Strenge vor. Im Bergbau hatte das Überstundenabkommen Streikbewegungen ausgelöst. Mit der wachsenden Teuerung flammten überall Lohnkämpfe auf. In Bottrop streikten die Straßenbahner, in Gladbach die Textilarbeiter, in Düsseldorf die Buchdrucker! Auch im übrigen Reich gärte es; sogar im besetzten Saargebiet traten die Hüttenarbeiter in eine Bewegung: Überall bot die Regierung den gesamten Machtapparat: Polizei, Militär und Justiz auf, die Bewegungen niederzuringen. Besonders erbittert waren die Arbeiter auf die Technische Nothilfe, die nicht allein in so genannten lebenswichtigen Betrieben, sondern auch dort eingesetzt wurde, wo keine vitalen Allgemeininteressen auf dem Spiele standen. Die Provokation der Unternehmer trat klar zutage.

Die Gewerkschaften erklärten fünfundneunzig Prozent aller Streiks von vornherein als «wild», und selbst die wenigen, die von ihnen anerkannt wurden, endigten günstigstenfalls mit einem faulen Schlichtungskompromiß. Scharenweise verließen die Arbeiter deshalb die Verbände, wurden gleichgültig oder traten der «Union» bei. Damit erhielten die Gewerkschaftsführer ein neues Argument, allen Kämpfen auszuweichen, weil die Zahl der Unorganisierten zu groß sei. Daneben lastete noch immer der Belagerungszustand mit Versammlungs- und Presseverboten und Schutzhaft schwer auf dem Proletariat.

«Noske!»

Dieser Name wurde zum Symbol für alle Gewalt und für alles Unrecht, das man der Arbeiterschaft antat.

«Noskegeist», «Noskeregime», «Noskesöldner», «Noskemethoden». Die Bergarbeiter nannten ihre Grubenhunde nach ihm.

Für das ruhe- und ordnungsliebende Bürgertum aber war Noske «noch der einzig Vernünftige» in der schlappen Reichsregierung. Unter dem Schutz seiner harten Faust konnte man wieder in Ruhe seine Geschäfte tätigen. Die Profite schossen hoch in den Halm. Die Aachener Lederfabrik verteilte nach Aufhebung der Lederzwangswirtschaft vierzig Prozent Dividende. Mit den Abschreibungen wurden es aber hundert Prozent. Und auch die kleinen Kläffer und Aasgeier verdienten! In Düsseldorf und Essen, in Duisburg und Dortmund saßen die Parasiten des Schleichhandels, mit ihren Fängen das ganze Industriegebiet aussaugend. Niemand konnte sich der Tributleistung an sie entziehen. Und weil dem nun so war, schob jeder, der irgendwie Zeug oder Mittel dazu hatte, fleißig mit. Genau wie im Kriege.

Leicht, wie man das Geld verdiente, gab man es wieder aus. In den lauschig verhängten Bars und Animierkneipen flogen allabendlich bei Wein, Weib und Gesang die Banknoten bündelweise auf den Tisch. War man dann auf der Höhe der Gefühle, so intonierte die Kapelle «Deutschland, Deutschland über alles!», wobei alles begeistert «von der Etsch bis an den Belt» mitsang.

Kam aber in vorgerückter Stunde «Fridericus Rex» an die Reihe, gab es kein Halten mehr.

«Hie Frontgeist allweg!»

«Runter mit den Gläsern vom Tisch!»

«Hier ist ein Tausender!»

«Ober, Sekt her!»

Alles lärmte und tobte, trampelte mit den Füßen. Wehe dem, der nicht schleunigst mit aufstand!

«Kinder, die gute alte Zeit soll leben!»

«Nieder mit dem Erzberger! Nieder mit der Judenregierung!»

«Musike!»

«Haut den Hund, den Wirth, auf den Schädel, daß er klirrt. Schießt ab den Walter Rathenau, die gottverfluchte Judensau!»

«Was wollen die Schangels? – Unseren Kaiser ausgeliefert haben? – Unsere Generäle? – Sollen doch kommen, sie holen! – Wir werden ihnen schon zeigen, was 'ne Harke ist! – Jawohl, sizilianische Vesper, die schwarze Schmach hat ohnehin schon lange genug gedauert. – Ich gehe auch noch mal mit!»

Und donnernd brauste «ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall...»

«Was wollen die Kumpels? – Sollen das Maul halten und Überstunden machen. – Überhaupt der ganze Achtstundentag ist nur schuld an der Teuerung! – Nur Arbeit kann uns retten! – Wenn sie länger arbeiten, können sie auch die Preise bezahlen. – Alle Streikenden müßten ausgepeitscht werden, die Hetzer aber an die Wand! – Wenn man der Noske so könnte, wie er will! – Na, lange geht's so ja sowieso nicht mehr. – Paßt nur auf, eines schönen Tages gibt's einen Bums ... na, mehr will ich nicht sagen!» –

Für Ernst Sukrow war seit seinem Eintritt in das Laboratorium des Stahlwerkes Flaschner die Politik sehr in den Hintergrund geraten. Seine neue Tätigkeit, der er sich voll hingab, nahm sein ganzes Interesse in Anspruch. Durch die schwere körperliche Arbeit waren seine Finger plump und ungeschickt geworden, und auch theoretisch bedurften seine chemischen Kenntnisse sehr der Auffrischung. Bis in die späte Nacht hinein saß er über den Büchern, so daß seine Besuche bei Ruckers ganz unterbleiben mußten.

Dennoch hatte er bei seiner Arbeit anfangs mit vielen Mißerfolgen zu kämpfen. Die Mitarbeiter waren ausnahmslos Nichtakademiker, und er quälte sich lieber stundenlang allein, wo vielleicht eine Frage genügt hätte, die Schwierigkeit zu überwinden. Daran hinderte ihn aber nicht allein sein Akademikerstolz, sondern in viel größerem Maße die Art und Weise, wie sich diese Leute aufspielten. Vielleicht war es auch nur sein krankhaftes Ehrgefühl, jedenfalls hatte er den Eindruck, daß sich die lediglich durch Fachschulen oder gar nur durch Selbstunterricht gebildeten Laboranten über den «Schippenakademiker» insgeheim lustig machten. Niemals hatte er diesen Ausdruck gehört, und doch glaubte er ihn von jedem Gesicht ablesen zu können. Insbesondere die Art und Weise, wie sie – obwohl meist selbst aus dem Arbeiterstande hervorgegangen – sich über die Arbeiter erhaben fühlten, verletzte sein Empfinden zutiefst.

Eine Ausnahme davon machte nur Herr Kraft, ein stiller, kriegsbeschädigter Mensch, dem er sich daher etwas näher anschloß. Von ihm erfuhr er auch, was er schon längst vermutete, daß ein Teil der Mitarbeiter in nationalen Verbänden, in der Technischen Nothilfe und in Vereinen waren, die studentische Unsitten nachäfften. Daß diese Leute durchweg reaktionär und zur Arbeiterschaft in einer ganz anderen geistigen Beziehung standen, hatte er schon am ersten Tage erfahren, als man über die Ereignisse auf Zeche «Beate» und die Zusammenstöße auf der Lichstraße diskutierte. Und noch etwas anderes erfuhr er von Kraft: Das Gehalt, das ihm Dr. Grell zahlte, betrug rund zweihundert Mark weniger als das der anderen, die dieselbe Arbeit verrichteten.

«Das sieht unserem Doktor ähnlich», sagte Kraft, «der benutzt jede Möglichkeit, Neueintretende übers Ohr zu hauen. Wer es versteht, sich bei ihm beliebt zu machen, wozu vor allem nationale Gesinnung und Eintritt in die Technische Nothilfe gehört, der kriegt auch Zulage. Passen Sie auf, mit der «Teno» wird man Ihnen bald kommen.»

«Sind Sie Mitglied?» fragte Sukrow beunruhigt. «Ich werde ihnen was, ich berufe mich immer auf meine Beschädigung», lachte Kraft. «Aber ich bin auch die einzige Ausnahme. Zahlen Sie doch Ihren Beitrag und denken Sie im übrigen wie Götz von Berlichingen. Wenn man Sie irgendwohin aufbieten will, melden Sie sich einfach krank».

«Übrigens», fuhr er fort, «sind die Ansichten über die Technische Nothilfe hier selbst bei den Arbeitern nicht einheitlich. Eine ganze Menge Sozialdemokraten, darunter der Vorsitzende Oversath, sind Mitglied.»

Sukrow beschloß daher, die Dinge an sich herankommen zu lassen.

Der Streik auf Zeche «Beate» war schon nach zwei Tagen infolge Verhandlungen, die durch die freien Gewerkschaften unter Mithilfe des Swertruper Bürgermeisters und des Regierungspräsidenten mit der Zechenverwaltung gepflogen wurden, beigelegt. Die Polizei wurde zurückgezogen, und die Zechenverwaltung erklärte, keinerlei Druck auf die Leistung von Überstunden ausüben und keine Maßregelung vornehmen zu wollen. Andererseits sollten die Arbeiter auch der Leistung von freiwilligen Überschichten nichts in den Weg legen. Die Belegschaft hatte viel weitergehende Forderungen gestellt: grundsätzliche Ablehnung der Überschichten, Entfernung und Bestrafung des Direktors und Bezahlung der Freiheitsberaubung als Überstunden. Nach erregter Debatte wurde der Kompromiß mit Vierfünftelmehrheit angenommen.

Aber als die Belegschaft am anderen Morgen einfuhr, fanden alle, die dagegen gesprochen hatten, ihre Stempelkarten nicht mehr am Brett. Am folgenden Tage wurden sieben weitere Arbeiter, die zur Wiederaufnahme des Streiks zugunsten der Gemaßregelten aufforderten, ebenfalls entlassen.

Und noch ein anderer Vorfall brachte nicht nur die Arbeiter, sondern auch das Bürgertum und die Behörden, und zwar weit über den Stadtkreis Swertrup hinaus, in Bewegung.

Am meisten aufgeregt war aber unbestritten Direktor Dr. Grell vom Stahlwerk Flaschner, wo durch eine plötzlich erscheinende Kontrollkommission der Entente zehn Geschützrohre, vierzehn Maschinengewehre, vierhundert Gewehre nebst zahlreicher Munition und verschiedene Maschinen zur Geschoßfabrikation gefunden wurden. Unzweifelhaft mußte Verrat vorliegen, da die Kommission ohne jegliche Führung sofort den zugemauerten Keller fand.

Dr. Grell schäumte vor stiller Wut, und mit ihm alle jene, die mit Revanchekrieg, Regierungssturz und Kommunistenbekämpfung rechneten. Der «Swertruper Anzeiger» entrüstete sich vierzehn Tage lang über Vaterlandsverräter, die auch noch nach dem Friedensdiktat ihre Dolchstoßpolitik fortsetzten, und deutete dunkel Vergeltungsmaßnahmen an.

Der sozialdemokratische «Volkswille» klagte, daß die Waffen anstatt an die deutschen Behörden, an die Entente ausgeliefert wurden. Weiter nach links hin aber erkannte man deutlich, daß diese Waffen zum Kampf gegen die Arbeiter bestimmt waren. Die erregten Debatten, die infolge dieses Ereignisses auch im Laboratorium des Stahlwerks entstanden, gaben Sukrow weitere Gelegenheit, Einblick in die reaktionäre Gesinnung seiner Kollegen zu tun. Mit Ausnahme des pazifistisch eingestellten Kraft ergingen sich alle in mehr oder minder heftigen Ausdrücken gegen den Feindbund und dessen Verbündete, als welche ganz allgemein die Arbeiterschaft angesehen wurde.

Die überhitzte Atmosphäre ließ es Sukrow zwecklos erscheinen, hiergegen Front zu machen. Als er doch einige schüchterne Versuche unternahm, fuhr man ihm derartig über den Mund, daß er es für klüger hielt, schleunigst einzulenken, um nicht gar in den Verdacht eines Verteidigers zu kommen. Besonders hervor tat sich hierbei ein kaum zwanzigjähriger junger Mensch.

Walter Peikchen, der Sohn eines Zollinspektors, hatte die nationale Gesinnung sozusagen schon mit der Muttermilch eingesogen. Sein größter Schmerz war, daß der Krieg zu Ende gegangen, ehe er selbst ins Feld gehen und sich das EK sowie wenigstens das Feldwebelportepee, wie sein «alter Herr», verdienen konnte. Seine einzige Hoffnung war die Wiederkehr der «guten, alten Zeit», mit strenger Zucht, Sitte und Revanche. Bis dahin betätigte er sich als Mitglied nationaler Verbände, der Einwohnerwehr und der technischen Nothilfe, und trug neben seiner nationalen Gesinnung stolz sein Hakenkreuz zur Schau.

Sukrow interessierte dieser blutrünstige junge Mensch schon rein psychologisch. In der Nähe betrachtet, fand er einen ziemlich harmlosen Jüngling, bei dem sich beschränkter Horizont und persönliche Feigheit ziemlich die Waage hielten. Letzteres trat besonders in Erscheinung, wenn der alte Hövelmann eine saftige Anekdote aus seinem schier unerschöpflichen Vorrat zum Besten gab.

Hövelmann, ein fünfundsechzigjähriger Zecheninvalide, bereitete im Laboratorium die Proben vor und war darüber hinaus ein unentbehrliches Faktotum. Schloß eine Fensterklappe nicht, Hövelmann mußte helfen, ging eine Flasche nicht auf, Hövelmann schaffte es, ohne sie zu zerschlagen. Verlor jemand seinen Gummiabsatz, Vater. Hövelmann besserte den Schaden aus, brauchte einer eine Brotkarte, der Alte wußte Bescheid. Hövelmann hinten und Hövelmann vorne. Der weißbärtige Alte humpelte mit seinem steifen Fuß unermüdlich hin und her, wobei er jede Hantierung mit Späßen und witzigen Erzählungen begleitete, so daß sich seine Anwesenheit stets durch lautes Gelächter ankündigte.

Peikchen konnte nie genug von Hövelmanns Anekdoten hören. Die Kollegen wußten das, ermunterten den Alten stets zu neuen Erzählungen und freuten sich köstlich, wenn nach kurzer Zeit Peikchen wieder einmal der Speichel aus dem Munde floß. Durch geschickte Fragen stellten sie fest, daß er aus Angst vor dem anderen Geschlecht noch «ungeküßt» war, was Anlaß gab, ihn nach Herzenslust aufzuziehen.

Sukrow amüsierte sich ebenfalls über den originellen Alten, bis er eines Tages durch Kraft erfuhr, daß sich hinter dessen lustigem Äußeren eine todwunde Seele verbarg. Von seinen fünf Söhnen hatte er vier auf dem «Altar des Vaterlandes» geopfert. Den letzten hatte im vergangenen Jahre beim Bergarbeiterstreik in Bottrop die Sipo erschossen. Jetzt lebte der einsame Alte bei einer Schwiegertochter, deren Kinder er in seiner freien Zeit betreute.

Dem stets hilfsbereiten Hövelmann verdankte Sukrow auch schließlich seine lang ersehnte eigene Wohnung. Möblierte Zimmer waren in Swertrup ein ebenso teurer wie seltener Artikel. Wer von den ledigen jungen Leuten der Abhängigkeit von den Massenquartieren der Werke entfliehen wollte, geriet dabei meist in die noch schlimmere der so genannten «Kosthäuser». Familien, die ein Zimmer übrig hatten, stellten eine Anzahl Bettstellen auf und nahmen die Mieter auch gleich in volle Pension. Die Mühe lohnte immer. Es gab aber auch zahlreiche Leute, die daraus ein regelrechtes Gewerbe machten, ganze Stockwerke und Häuser auf diese Weise ausnutzten und dabei dick in die Wolle kamen.

Das Ehepaar Schapulla betrieb sein Kosthaus schon fünfzehn Jahre. Im Erdgeschoß befanden sich Küche und Speisewirtschaft, die Zimmer in den beiden oberen Stockwerken waren ständig vermietet. Schapullas selbst wohnten ganz oben in den beiden Dachstuben. Selten, daß eines der Betten, von denen immer je drei in einem Zimmer standen, mal einen Tag ohne Mieter war. Herr Schapulla hatte gute Beziehungen, sowohl zu den Pförtnern der Werke als auch zum katholischen Gesellenverein, die ihm die Mieter zuwiesen.

Als der Krieg und die Kriegsindustrie den Wohnungsbedarf in Swertrup steigerten, sagten Schapullas: «Wir müssen auch etwas für das Vaterland tun», und brachten ein viertes Bett in die Zimmer. Auch stellte Herr Schapulla, über entsprechende Beziehungen verfügend, seine Kraft dem Vaterland als Munitionsaufseher in einem Granatenlaborierwerk zur Verfügung, da ihn Rheumatismus an seiner Reservepflicht hinderte. Man kaufte eine vier Meter lange schwarzweißrote Fahne, die bei jeder Siegesmeldung von 10000 Gefangenen an zum Dachfenster hinausgehangen wurde. – Als nach dem Krieg die Wohnungsnot besonders groß wurde, schaffte Schapulla die Schränke, in denen die Leute ihre Sachen aufbewahrten, auf den Flur und stellte ein fünftes Bett hinein. Mutter Schapulla verstand es, mit ihrem stets freundlichen Wesen, den Gästen die soziale Notwendigkeit des Zusammenrückens klarzumachen, und kochte bei solchen Anlässen eine Extramehlspeise, während Vater Schapulla einige Mißvergnügte durch ein paar Flaschen Bier versöhnte.

Überhaupt verstand es Frau Schapulla ausgezeichnet, aus minderwertigen Materialien unter Verwendung von Gewürzkörnern, Lorbeerblättern und frischem Wasser schmackhafte Speisen, die sehr viel «hermachten», zu bereiten. Dabei verfehlte sie niemals, die Mahlweiten durch Klagen über Knappheit, Lebensmittelkarten, hohe Preise usw. zu würzen, so daß man annehmen mußte, sie betriebe das Geschäft nur aus reiner Menschenfreundlichkeit und setze dabei zu.

«Ja, wenn Vater Schapulla nicht so gut einzukaufen verstände», sagte sie oftmals.

Er hatte gute Verbindungen mit Kaufleuten, die ihm minderwertige und verdorbene Lebensmittel für eine Kleinigkeit abließen. Mehl, das von Motten, Nudeln, die von Maden, Backobst, das von Milben, Reis, der von Mäusedreck wimmelte, fanden ihren Weg ebenso in die Schapullasche Küche, wie stinkige Fische und Fleisch von kranken, schwarzgeschlachteten Tieren. Daher konnten Schapullas einen schwunghaften Handel mit den Lebensmittelkarten ihrer Kostgänger treiben. Hierfür hatte Herr Schapulla seine regelmäßigen Abnehmer in der St. Rochusbrüderschaft, in der er Schriftführer war.

Überhaupt waren Schapullas sehr fromm. «Bete und arbeite.» Dieser Spruch hing in Brandmalerei zweimal einen halben Meter groß im Speisesaal. In den Zimmern befand sich über jedem Bett irgendein Öldruck mit der schmerzensreichen Maria, durch deren Herz ein Dolch ging, ein sterbender Jesus oder sonst ein Heiliger. Das Beten besorgte in der Hauptsache Vater Schapulla, der nicht nur sonntags zur Predigt mit Hochamt, sondern auch wochentags zweimal zur Frühmesse ging. Auch die beiden Sprößlinge wurden fleißig dazu angehalten, während Mutter Schapulla wegen ihrer wirtschaftlichen Obliegenheiten vom Kirchenbesuch Dispens hatte.

Auch auf Arbeit wurde im Schapullaschen Hause fleißig gehalten. Mutter Schapulla sorgte, daß ihre beiden Tagesfrauen nicht einen Augenblick zu Atem kamen. Vater Schapulla besorgte das bei seinen Gästen, wenn einer mal krank feierte oder «in den Sack gehauen» hatte. Entweder hatte man bald wieder Arbeit, wobei eine Empfehlung des Wirtes oft Wunderwirkung tat, – oder man machte anderen Gästen Platz.

So ruhte denn auch der Segen des Himmels wunderbar auf dem Schapullaschen Hause in der Flingerstraße, das die Eheleute im rechten Augenblick als eigen erworben hatten. Dabei brachten sie noch ein anständiges Scherflein auf die Seite und nahmen täglich zu an Wohlwollen, Leibesumfang und Gnade vor Gott und den Menschen.

Eines Sonntags kam Schapulla ganz zerknirscht aus der Kirche nach Hause. Kurator Spectatius hatte so eindringlich über die schwere Zeit der Not und den Spruch: «Was ihr einem der ärmsten dieser Brüder getan habt, das habt ihr mir getan», gepredigt, daß der Kostwirt gleich nach Tisch mit seiner Ehehälfte auf dem Sofa hinter dem Schanktisch eine vertrauliche Beratung pflog. Das Ergebnis dieser Beratung war, daß zunächst der elfjährige Tönnies eine tüchtige Tracht Prügel erhielt, weil er den väterlichen Zollstock zur Anfertigung eines Flitzbogens verbraucht hatte. Mit einem ausgeliehenen Zollstock gingen sie dann durch die Logierzimmer, maßen die Länge, Breite und Höhe, rechneten und veranschlagten, ohne aber zum Ziel zu kommen. Endlich stiegen sie auch in die eigene Behausung hinauf, wobei sie übereinkamen, daß der elfjährige Tönnies und das dreizehnjährige Trautchen auch ganz gut im elterlichen Zimmer mit schlafen könnten und das vordere Mansardenzimmer sich noch vermieten ließe. «In solchen Zeiten muß sich eben jeder einschränken», sagte Schapulla, der gleich sechs Feldbettstellen hineinstellen wollte; aber seine Gattin widersprach. Die guten Möbel konnte man doch nicht auf den Speicher stellen. So kam man denn überein, das Zimmer möbliert an einen «besseren Herrn» zu vermieten, was Herr Schapulla noch am selben Abend seinem Skat-bruder im «Goldenen Hahn», dem Oberpförtner vom Flaschnerwerk, mit auf den Weg gab.

Als Sukrow am folgenden Abend in Grothes Begleitung das Kost- und Logierhaus betrat, schallten ihnen ein heiseres Grammophon und trunkene Stimmen entgegen. «Na, hier hast du dich ja auch gut verheiratet», sagte Grothe in Bezug auf die zahlreichen Bier- und Schabauflaschen. Aber schon hatte Herr Schapulla, der hinter der Theke in Hemdärmeln und weißer Schürze hantierte, die Besucher erblickt, und ihren wahren Zweck ahnend, sie auf den Flur hinaus-komplimentiert. «Heute geht's hier ein bißchen lustig zu, einer unserer Leute feiert nämlich Namenstag und hat einen ausgegeben», sagte er verlegen lächelnd.

«Das ist man bloß auch heut, sonst aber sind wir ein anständiges Haus», sagte Frau Schapulla, die, sich die Hände an der Schürze abwischend, so schnell wie es ihre Beleibtheit erlaubte, aus der Küche gewalzt kam. «Wollen die beiden Herren zusammen wohnen?»

Sukrow antwortete, daß er für sich ein ruhiges Zimmer suche, wo er abends in Ruhe studieren könne. «Herr Sukrow ist nämlich Chemiker auf Stahlwerk Flaschner und bereitet sich auf sein Doktorexamen vor», schaltete Grothe ein. Sukrow knuffte ihn in die Seite.

«Da werden wir sehr gut zueinander passen, Herr Doktor», rief Frau Schapulla eifrig. Das Zimmer liegt ganz oben, mit denen da unten haben Sie gar nichts zu tun. Wir lassen Ihnen Ihr Essen raufbringen. Es ist unser bestes Zimmer, mit unseren besten Möbeln, und da will man doch auch nicht all und jeden drin haben. Eigentlich wollten wir es gar nicht vermieten, aber wir kommen ja tagsüber doch nicht herein, – solch Logierhaus macht Arbeit – und warum soll das Zimmer leer stehen, wo doch Wohnungen so knapp sind.»

Das Zimmer machte mit seinen grünen Polstermöbeln, den sauberen Tapeten und dem weißen Bett in der Tat keinen schlechten Eindruck.

Sukrow, der für Mansardenwohnungen schwärmte, war sogleich entschlossen, das Zimmer zu mieten. Als er aber den Preis: 550 Mark für Zimmer und Kost, hörte, fiel er beinahe auf den Rücken. Die beiden Schapullas machten süßsäuerliche Gesichter: «Ja, unter dem werden Sie wohl in Swertrup nichts kriegen. Es ist ja man auch alles rein zu teuer. Aber dafür haben Sie doch auch alles frei, Essen bekommen Sie reichlich und kräftig, wie es jetzt wohl selten jemand bieten kann, Stiefelputzen ist auch dabei.»

«So viel kann ich nicht ausgeben», sagte Sukrow niedergeschlagen und griff nach seinem Hut.

«Was hatten Sie denn gedacht?»

«Na, höchstens 400», antwortete Grothe entschieden vorweg.

«Ach du lieber Gott, dabei würde ich nicht mal auf meine Unkosten kommen», seufzte Frau Schapulla und polierte mit der Schürze den Glassturz, unter dem ihr Silberkranz auf blauem Atlas ruhte.

Sukrow sah sich unschlüssig in dem Zimmer um, dachte an die kar-tenspielenden Radaubrüder im Junggesellenheim, an die flohwim-melnden Etagenbetten, an die ganze kasernenhafte Ungemütlichkeit und wurde schwankend.

«Legen Sie noch etwas zu», drängte Frau Schapulla. «Die Stiefel habe ich mir immer selber geputzt», sagte er schüchtern.

«Also sagen wir glatt 500 Mark.» Schapulla warf seiner Frau einen mißbilligenden Blick zu. «500 Mark, und alles so, wie wir es besprachen», wiederholte die Frau. Nachdem die beiden jungen Leute gemietet hatten und gegangen waren, erklärte sie ihrem Mann ihre Nachgiebigkeit. Den Doktor würde sie schon zu Nachhilfestunden für ihren Tönnies heranziehen, der abermals in der Mittelschule sitzenzubleiben drohte. Außerdem mache es nach außen etwas her, einen richtigen angehenden Doktor im Hause zu haben. Da war auch ihr Gatte zufrieden.

Sukrow zog noch am Abend zu. Am folgenden Tage ging er in Grothes Begleitung hinaus nach Hasdrubal, um von Ruckers die Bücher fortzuschaffen. Die Kiste hätte er auch ebenso gut allein bewältigen können, aber er scheute sich seit seinem verunglückten Ausgang mit Mary, ihr wieder allein unter die Augen zu treten.

An jenem verabredeten Sonntag waren sie zum Konzert nach dem Rathauskaffee gegangen. Für ihn war trotz seiner vierundzwanzig Jahre das Weib noch ein ungelöstes Problem. In seinem freudlosen Leben hatte, abgesehen von einigen Gymnasialschwärmereien, die Liebe noch keinen Platz gefunden. Wie so manchem jungen Blut vermittelte ihm auch erst das Kriegsleben mit den vom AOK sanitär überwachten Bordellen die ersten näheren Beziehungen zum anderen Geschlecht. In der Einsamkeit seiner Nachkriegsstudien hatte er sich ein paar Mal auf öffentliche Tanzböden gewagt. Aber das ideale Weibliche schien ihm in diesem wüsten Treiben abermals durch den Schmutz gezogen. So war er einsam und einspännig geblieben. Hier erst in der Fremde waren ihm die beiden ersten Mädchen begegnet, die ihm höheres Interesse abnötigten. Eine noch neben der schönen Fabrikantentochter, die er ungeachtet aller Bemühungen noch nicht wieder gesehen hatte, Mary Ruckers.

Aneinandergeschmiegt hatten sie an jenem Nachmittag im Kaffee sitzend der Musik zugehört. Zwischendurch sprach er von seinem harten Leben, von seinen Ideen und von seinen Zukunftsplänen. Mary hatte mit eigenartig müdem Lächeln zugehört. Schließlich fiel es ihm auf, daß, wenn er zu sprechen aufhörte, auch das Gespräch aus war. Sie schien Arger gehabt zu haben. So war man denn schließlich verstimmt aufgebrochen, lange bevor es neun Uhr war. Auf der Ratinger Straße lief ihm Max Grothe in die Arme, was Mary Veranlassung gab, sich kurz zu verabschieden.

Grothe schleppte ihn noch in ein Bierlokal, wo eine Damenkapelle konzertierte. Unterwegs mißbilligte er das Rendezvous, und Sukrow war so ehrlich, ihm recht zu geben.

«In Bekanntenkreisen fängt man so etwas, wenn man nicht gerade ernste Heiratsabsichten hat, gar nicht an», hatte er gesagt.

Grothe ging öfters in solche Lokale. Sukrow verstand es einfach nicht, wie man für Proletariat und Weltrevolution kämpfen kann, während man gleichzeitig Tanzböden und karnevalistische Sitzungen nicht verschmähte. Grothe schalt ihn einen Philister und zitierte einen Spruch, den Goethe mal im lustigen alten Köln an einen Brunnen angeschrieben hatte:

«Lustig ist ein tolles Streben, Wenn es kurz ist und voll Sinn.»

«Und was ist hierbei der Sinn?» fragte Sukrow. «Daß ich, wenn ich mich mal einen Sonntag richtig ausgetobt habe, wieder vier Wochen lang arbeiten, studieren und kämpfen kann», war die Antwort.

Sukrow segnete seinen Entschluß, Grothe mitgenommen zu haben, als sie Mary, abgesehen von dem Kriegskrüppel, allein mit einer Handarbeit beschäftigt antrafen. Während er nebenan in der Kammer die Bücher zusammenpackte, beobachtete Grothe das flinke Spiel ihrer Finger.

«Man sollte gar nicht meinen, daß diese flinken Finger auch Ohrfeigen austeilen können», sagte er schließlich. «Wollen Sie vielleicht eine Kostprobe haben?» entgegnete sie, und ein schelmisches Lächeln flog über ihr Gesicht.

«Danke, die sparen Sie für den nächsten Sipo», gab Grothe zurück und blätterte in der auf dem Tisch liegenden «Freiheit».

«Na, das Ding ist ja gelungen, das muß ich doch gleich mal Ernst zeigen», sagte er plötzlich, auf eine fettgedruckte Meldung schlagend. «Komm mal her, mein Junge, und lies dir das durch», rief er, begann aber sogleich schon selbst mit dem Vorlesen: «So muß es erst mal kommen!

In einer deutschnationalen Versammlung in Eberswalde sprach General von Ludendorff. Der Redner wandte sich gegen die Verlängerung der Nationalversammlung und erging sich in heftigen Ausfällen gegen den Reichspräsidenten Ebert. Ludendorff forderte sofortige Auflösung der Nationalversammlung, Wahl des Reichstages sowie des Reichspräsidenten durch das Volk, wofür Ludendorff den Feldmarschall von Hindenburg vorschlug.»

«Ein verfrühter Aprilscherz», lachte Sukrow, «du glaubst doch nicht etwa im Ernst, daß Hindenburg jemals Reichspräsident werden könne.»

«Und warum denn nicht? Ist er denn nicht wählbarer deutscher Staatsbürger? Leben wir nicht in einer ‹demokratischen› Republik? Was sollte ihn da wohl hindern?»

«Nun, wenigstens ein Mangel an Stimmen!»

«Das ist ein schwacher Trost», fiel Mary ein.

«Es ist sogar ein falscher», schalt Grothe. «Denke doch nur an die «Wahlen zur Nationalversammlung, die eine bürgerliche Mehrheit brachten. Ich halte es durchaus für möglich, daß sich die bürgerlichen Parteien auf den ‹Ostpreußenretter› Hindenburg einigen. Daß die breiten Massen ihm zujubeln, dafür hat doch die Sozialdemokratie während des Krieges genügend gesorgt. ‹Ich gehe zu meinem Hindenburg›, gab Heilmann die Parole heraus.»

«Das tun sie sogar noch heute», rief Mary. «Vater griff mal in einer Versammlung Hindenburg als Mitschuldigen an den Annexionsplänen an. Da verteidigte ihn Reese und sagte, schuld habe allein nur Ludendorff. Aber vor Hindenburg müsse auch jeder deutsche Arbeiter achtungsvoll den Hut abnehmen.»

«Warum auf ungelegten Eiern brüten», wehrte Sukrow ab.

«Gib nur acht, wenn aus den ungelegten Eiern eines Tages der Hohenzollernkuckuck ausschlüpft», rief Grothe.

«Sieh doch keine Gespenster, solange wir noch einen Ebert haben, kommt kein Hindenburg dagegen auf», behauptete Sukrow.

«Wohl, weil kein kaiserlicher General so brutal gegen die Arbeiter vorging, als euer Ebert und Noske? Bei der ‹Beate› hat es zwei Tote und zahlreiche Verwundete gegeben. Also bitte», rief Grothe, als Sukrow eine ärgerliche Geste machte, «bekenne endlich mal Farbe. Billigst du dieses Blutregime gegen die Proletarier oder nicht?» Auch Mary war erregt aufgesprungen. Mit ihren auflodernden Augen erinnerte sie an jenen schrecklichen Abend bei dem Zusammenstoß in der Lichstraße, als sie den rohen Sicherheitssoldaten ohrfeigte.

Billigen konnte Sukrow das Vorgehen der Behörden natürlich nicht. «Fehler werden aber auch auf der Gegenseite gemacht. Schuld trägt einerseits die Gewaltpsychose des Krieges, andererseits aber die traurige Tatsache, daß die Ausführungsorgane noch in Händen reaktionärer Elemente liegen.»

«Siehst du, das ist ein Wort. Und warum sind keine Arbeiter in führender Stellung bei der Sipo, bei der Reichswehr, in der Justiz und so weiter? Weil der Arbeiter heute noch, genauso wie früher, nur als Objekt betrachtet wird. Daran hat auch eure ganze famose demokratische Republik nichts geändert!»

Sukrow sah, daß er hier in eine Sackgasse geraten war. Immer wieder diskutierte man um den einen Punkt herum, nur um ihn mürbe zu machen. Wenigstens glaubte er die Absicht zu merken und wurde verstimmt.

«Kritisieren kann ein jeder, wie soll's denn besser gemacht werden?» fragte er gereizten Tones.

«Indem die Arbeiter selbst die Macht...»

Sukrow lachte höhnisch auf: «Ich kenne schon den Vers: Diktatur des Proletariats – alle Macht den Räten – Bündnis mit Sowjetrußland und so weiter. Nee, mein Lieber, die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube! Diktatur des Proletariats? – Ich habe die Arbeiter kennen gelernt. Sieh dich doch nur hier in Swertrup um. In der Junggesellenbaracke bei Flaschner. Die große Mehrzahl ist politisch indifferent oder sind doch nur Mitläufer und Krakeeler. Und mit dieser ungebildeten Masse willst du den Staat beherrschen, die Zechen und Werke in Gang halten? So weit werden wir vielleicht in fünfzig oder hundert Jahren sein. Erst müssen wir dem Arbeiter Bildung beibringen, ihn lehren, eine Bilanz zu lesen, die Betriebe technisch zu leiten und so weiter.»

«Ihr dreht euch doch immer wie der Furz um eure eigene Achse. Wenn wir darauf warten wollen, müssen wurden Sozialismus auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben, denn der Kapitalismus und der von ihm beherrschte Staat wird die Arbeiter auch geistig auf einem solchen Niveau halten, daß sie nie dahin gelangen, deinen Anforderungen zu entsprechen.»

«Du widersprichst dir ja selbst. Kennst du nicht schon Arbeiter, die sich geistig so weit gehoben haben, bist nicht du, ist nicht Peter Ruckers ein gewisses Beispiel dafür», rief Sukrow triumphierend.

«Du machst eben den Fehler, diese Beispiele als Normalleisten zu nehmen, über den jeder Schuh passen soll. Es gibt Leute, die zwei Meter hoch springen, und doch wird es die Masse nicht nachmachen», sagte Grothe.

«Doch, doch, wenn man sie fleißig trainierte, würde es ein ganzer Teil lernen», nahm Sukrow das Gleichnis auf.

«Ja, wenn!» rief Mary. «Läßt man denn dem Arbeiter, der elend wohnt, hungert und überlange arbeitet, überhaupt Zeit und Gelegenheit zum geistigen Trainieren?»

«Tut man nicht vielmehr alles, um sie durch Schule, Kirche und Presse geistig zu knebeln und durch den Alkohol noch mehr zu verdummen?» fuhr Grothe fort.

«Denken Sie doch bloß an sich selber. Läßt man Sie denn dahin, wohin Sie wollen und wohin Sie gehören, an die Universität?» fragte das junge Mädchen vorwurfsvoll.

«Ja, aber wie denn nun?» rief Sukrow, der sich wie im Kreis bewegt vorkam, verzweifelt.

Grothe holte tief Atem. «Indem die – sagen wir also, um bei dem Beispiel zu bleiben – geistigen Zweimeter-und-Eindreiviertelmeter-springer sich an die Spitze stellen, sich politisch organisieren und die unterdrückten und leidenden Klassengenossen zum Befreiungskampf mit fortreißen!»

Wie es in Sowjetrußland geschehen ist», rief Mary. «Das werdet ihr bei uns nie erleben», antwortete Sukrow mit Bestimmtheit.