BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Theodor Herzl

1860 - 1904

 

 

Buch der Narrheit

 

1888

 

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Telegraphen-Märchen.

 

He, heda, ihr Dichter, auf, auf die Versfüße!

Sie naht, die Tannenbaumzeit, die süße;

Selbst Leute von spöttischer Lebensführung

Ergreift eine kalendarische Rührung.

Stillschweigend sind wir übereingekommen,

Zu spielen die Sanften, Kindlichen, Frommen.

Die blutige Jagd nach den Gütern der Welt

Uns nicht mehr alleinig in Athem hält.

Gar ernste Männer könnt sprechen hören

Ihr jetzt vom Preise der Bonbonnièren,

Sowie vom Hampelmanne, der nicht

Im Reichstag sitzet und Reden spricht;

Von schön gepußten wächsernen Docken,

Die Keinen zur Ehe wollen verlocken.

Da ist er wieder, der wunderbare

Und alberne Traum der Kinderjahre . . . .

Die rosenrothen, die himmelblauen

Gestalten ließe ich gern euch schauen;

Bestiege so gern den berühmten Greifen,

Mit ihm das Fabelland jäh zu durchstreifen.

Doch ist es mir, ach! zu deutlich bekannt:

Ihr Thörichten glaubt nicht ans Fabelland!

Ja, selbst in der sogenannten Dichtung

Regiert jetzt die realistische Richtung.

Das ist eine Schule von lärmenden Schülern,

Ergeben nur dem „Verstande“, dem kühlern;

Die saueren Trauben der Phantasie

Verabscheuen und verschmähen sie.

Sie leugnen, daß der zum Dichter tauge

Dem Sonnenstrahlen wohnen im Auge;

Randfarben voll Regenbogenglanzes

Entstellen der Wirklichkeit graues Ganzes . . .

 

Ich werde mich also weislich hüten,

Unglaubliche Dinge auszubrüten.

 

Von denen ich melde, die beiden Kinder,

Ich hab' sie gesehen, und ihr nicht minder.

Das Bild, im Schaufenster hat es gehangen:

Zwei Kinder, lauschend an einer Stangen;

Was oben die Drähte ins Ferne leiten,

So meinen die zwei, das hörten sie läuten.

Und weil sie es glauben, so wird es wahr –

So war es im Märchen immerdar . . .

Es wispern oben im Winde die Drähte.

„He, hörst Du?“ sagt Hänschen flüsternd zur Grete.

„Ei freilich!“ lügt sie nun zögernd und nickt,

„Ich höre die Nachricht, die man jetzt schickt“.

Er hört nur den schwingenden Ton, ist empört,

Daß er nicht auch deutlich die Worte hört.

Allein ihm verbietet die Eitelkeit,

Zu zeigen, daß er noch nicht so weit

Gediehen im Deuten. Das Windeswehen,

Erklärt er, ebenfalls gut zu verstehen.

Hans:

Sie sagen da oben, Krieg werde sein,

Blutwellen wird wälzen so Donau wie Rhein . . .

Du, Grete, ich höre doch richtig, nicht wahr?

Grete:

Ganz richtig. Alles stimmt auf ein Haar.

Hans:

Es rüsten die Dänen, die Russen, die Franzen,

Wir müssen nun auch nach der Kriegspfeife tanzen.

Der Vater zieht mit, wir bleiben allein.

Grete (schluchzend):

Ach, Hans, der Vater! Muß es denn sein?

Hans:

Jawohl, wenn es die da oben sagen.

Grete:

Wir wollen sie lieber noch einmal fragen.

Du hast Dich vorhin vielleicht geirrt.

Hans (verlegen):

Hm, wahr ist, daß es verworren schwirrt.

Grete (lauscht):

Was rufen [s]ie, Hans? Ich hab's nicht verstanden.

Hans:

Sehr gute Aussichten sind vorhanden!

Es bleibt bis auf Weiteres noch beim Alten.

Grete (jauchzt):

Wir werden unseren Vater behalten?

 

Und wieder lauschen die Kleinen und flüstern,

Nach kommender Dinge Enthüllung lüstern.

Das thörichte, kichernde, frohe Pärchen

Erfindet sich telegraphische Märchen.

Es schwinden die wallenden Zukunftsnebel:

Sie kriegt eine Puppe und er einen Säbel.

Und weil sie es glauben, so wird es wahr –

So ist es im Märchen immerdar . . .

 

Hoch oben laufen Geheimnißdrähte:

Wir selber, wir Großen, sind Hans und Grete.