BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Erster Theil. I. Abtheilung.

 

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Siebentes Capitel.

 

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Wien.

 

Wien liegt in einer Ebne, und wird von mehreren malerischen Hügeln umgeben. Die um- und durchströmende Donau theilt sich in mehrere Arme und bildet reizende Inseln, verliert aber, als Fluß, durch diese Abtheilungen viel von ihrer Würde, und bringt nicht den Eindruck hervor, zu welchem ihr alter Ruf zu berechtigen schien. Wien ist eine alte, ziemlich kleine Stadt, mit weitläuftigen Vorstädten. Man behauptet, die ehemals befestigte Stadt sey nicht größer, als sie es zur Zeit der Gefangennehmung Königs Richard Löwenherz war. Die Straßen sind eng wie in den italienischen Städten; die Paläste erinnern an Florenz, und nicht an Deutschland, ausgenommen einige alte gothische Gebäude, wodurch die Einbildungskraft in die Zeiten des Mittelalters zurückgeführt wird.

Das vorzüglichste unter diesen Gebäuden ist der Thurm der Stephanskirche; er erhebt sich über alle übrigen Kirchthürme Wiens, und sieht majestätisch auf die gute ruhige Stadt herab, deren Menschengeschlechter und Ruhm er an sich vorüberziehen sah. Der Bau fing im Jahre 1100 an, und dauerte zwei ganze Jahrhunderte; die gesammte Geschichte Oestreichs schließt sich, so zu sagen, an dieses ehrwürdige Monument an. Es kann kein patriotischeres Gebäude geben, als eine Kirche; keines, welches alle Classen der Nation in seine Mauern sammle; keines, welches nicht nur [64] die öffentlichen Begebenheiten, sondern die geheimsten Gedanken, die innigsten Gefühle der Staatshäupter und der Staatsbürger in sich schließe. Der Tempel der Gottheit scheint, wie die Gottheit selbst, verflossene Jahrhunderte zu vergegenwärtigen.

Seit langen Zeiten ist das Grabmahl des Prinzen Eugen das einzige Monument, das in dieser Kirche errichtet wurde. Es harret auf mehrere Helden. Als ich es besuchte, fand ich an einer der umgebenden Säulen einen Zettel angeheftet, und darauf geschrieben: eine kranke junge Frau empfehle sich den Gebeten der Gläubigen. Der Name der Kranken stand nicht auf dem Zettel; eine Unglückliche wendet sich an Unbekannte, nicht Hülfe, sondern Gebete begehrend, und das einige Schritte von einem berühmten Todten, der vielleicht auch seinerseits Mitleiden gegen die Lebende fühlte. Es ist ein frommer Gebrauch der Römisch-katholischen, den wir von ihnen entlehnen sollten, die Kirchen beständig offen zu halten; es giebt der Augenblicke so viel, wo wir das Bedürfnis fühlen, an diese Zufluchtsorte zu eilen; nie treten wir in die Halle, ohne eine innere Rührung zu empfinden, die der Seele wohl thut, und derselben, wie vermittelst eines heiligen Bades, ihre vorige Kraft und Reinheit wiederschenkt.

Es giebt keine große Stadt, welche nicht ein Gebäude, einen Spaziergang, ein merkwürdiges Kunst- oder Naturwerk hätte, woran die Erinnerungen der Kindheit haften. Dieses Interesse dürfte, dünkt mich, für die Wiener der Prater haben. Nirgends findet man so nahe bei der Stadt einen Spazierort, der zugleich und in gleichem Grade, die Schönheiten der wilden und der ausgeschmückten Natur vereinigte. Ein majestätischer Wald erstreckt sich von der Stadt bis [65] zum Donauufer; von weitem sieht man ganze Rudel Hirsche über die Wiese hinziehen; mit jedem Morgen kehren sie wieder, mit jedem Abend entweichen sie, sobald die Schaar der Spazierenden ihre Einsamkeit stört. Ein Schauspiel, welches in Paris nur drei Tage im Jahre auf der Straße nach Longchamp stattfindet, wiederholt sich täglich in Wien, so lange das schöne Wetter anhält. Das tägliche Lustwandeln im Prater zu einer bestimmten Stunde, ist eine italienische Sitte.

Eine solche Gleichförmigkeit im Vergnügen wäre in Paris, in einer Stadt und in einem Lande, wo die Vergnügungen so abwechselnd sind, unmöglich; die Wiener hingegen dürften, bei allem übrigen Lebenswechsel, dieser Ordnung nicht entsagen. Nichts ist übrigens reizender, als die ganze städtische Menge unter dem Schatten majestätischer Bäume und auf den Rasen, den die Donau beständig grün und frisch erhält, zerstreut und versammelt zu sehen. Alle Abende stellt sich hier die gute Gesellschaft zu Wagen, das Volk zu Fuß ein. In einem so ruhigen Lande wird das Vergnügen wie eine Pflicht behandelt, und führt noch obenein den Vorzug mit sich, daß man dessen, bei aller seiner Einförmigkeit, nicht müde wird. Man legt in die Zerstreuungen eben so viel Genauigkeit als in die Geschäfte, und verliert seine Zeit eben so methodisch als man sie benutzt.

Der Eintritt in einen der Redoutensäle von Wien, wo an den Sonn- und Festtagen getanzt wird, hat für den Fremden etwas Auffallendes. Er sieht Männer und Frauen kalt und ernst einander gegenüber, das bestellte und bezahlte Vergnügen einer Menuet abtanzen. Hin- und Hergehende durchkreuzen das tanzende Paar; dieses läßt sich nicht mehr stören, als wenn es ein Gelübde [66] zu erfüllen hätte; jedes von ihnen dreht sich allein, rechts, links, vor- und rückwärts, ohne sich um den Andern zu bekümmern, der es grade eben so macht; nur bisweilen stoßen sie einen kleinen Freudenruf aus, ziehen sich aber sogleich wieder in die ernsthaften Gesichtsfalten zurück.

Im Prater fällt die Wohlhabenheit und der Wohlstand der Wiener vorzüglich auf. Die Stadt steht in dem Ruf, mehr Lebensmittel zu verbrauchen, als jede andere Stadt von gleicher Bevölkerung, und dieser etwas physische Vorzug dürfte ihr nicht streitig gemacht werden. Man sieht ganze Familien von Bürgern und Handwerkern gegen fünf Uhr Abends nach dem Prater ziehen, um im Grünen so reichlich zu vespern, als wäre es ein vollständiges Mittagsessen; das viele Geld, was dort verzehrt wird, beweiset, wie arbeitsam der Wiener, und wie sanft die Regierung ist. Alle Abende kehren die Männer bei Tausenden in die Stadt zurück, ihre Frauen am Arm, ihre Kinder bei der Hand führend; keine Unordnung, kein Streit erhebt sich in dem Gewirre; kaum hört man sie sprechen, so still und stumm ist ihr Vergnügen. Ihr Stillschweigen hat nichts weniger als eine gemächliche Traurigkeit zum Grunde; es ist weit eher eine Folge des physischen Wohlbehagens, das im südlichen Deutschland über Empfindungen, wie im nördlichen über Ideen, brüten läßt. Das Pflanzenleben im südlichen Deutschland hat einige Berührungspunkte mit dem innern Leben im nördlichen; in beiden liegt Ruhe, Trägheit und Nachdenken.

Man denke sich einen Augenblick eine eben so große Anzahl Pariser an einem Orte versammelt; wie würde die Luft mit Witzfunken, mit Scherzen aller Art, mit Zank und Lärmen angefüllt seyn? Hat je der Franzose ein Vergnügen gehabt, in [67] welches sich nicht die Eigenliebe auf diese oder jene Art eingedrängt hätte?

Die Wiener Großen fahren in prächtigen, geschmackvollen, schön bespannten Kutschen spazieren; ihr ganzes Vergnügen besteht darin, in den Alleen des Praters, diejenigen wieder zu erkennen, die sie so eben in einer Gesellschaft verließen, aber die Mannigfaltigkeit der Gegenstände verhindert jede ruhige Erzeugung eines Gedankens, und die Menschen finden ein Wohlgefallen daran, auf diese Weise lästige Betrachtungen zu verscheuchen. Die östreichischen Großen, die reichsten und ältesten in Europa, mißbrauchen diese Vorzüge nicht, und geben zu, daß ihre Paradekutschen von den unscheinbarsten Miethswagen unterbrochen werden. Der Kaiser und seine Brüder schließen sich, wie alle übrigen, der Reihe an, und wollen bei einem gemeinschaftlichen Vergnügen nicht mehr ausgezeichnet seyn, als jeder Privatmann. Sie bedienen sich ihrer Rechte, nur wann sie ihre Pflichten erfüllen. Man bemerkt oft in diesem bunten Gewimmel, orientalische, ungarische, polnische Trachten. Diese regen die Einbildungskraft auf, so wie in gewissen Entfernungen aufgestellte Musikchöre durch ihre Harmonie, dem Haufen das Ansehen eines ruhigen Landfestes geben, wo jeder für sich genießt, ohne sich um seine Nachbarn zu bekümmern.

Nie stößt man in diesen Versammlungen auf Bettler; überhaupt sieht man keine auf den Straßen in Wien; in den Armenanstalten herrscht eine große Ordnung, eine schöne Liberalität; die Gaben der öffentlichen und Privat-Wohlthätigkeil werden mit großer Gleichheit und Genauigkeit vertheilt und angewandt, und da im Volke überhaupt mehr Industrie und Handelsgeist herrscht als im übrigen Deutschland, so weiß es diesen Theil der [68] Verwaltung gehörig zu leiten. Es giebt in Oestreich wenig Verbrecher, die den Tod verdienen; alles trägt in diesem Lande das Gepräge einer väterlichen, weisen und religiösen Regierung. Die Grundlagen des gesellschaftlichen Gebäudes sind gut und ehrwürdig; „aber noch müssen Kuppeln und Säulen dazu kommen, wenn es der Tempel des Ruhms und des Genies werden soll.“ 1)

Ich war im Jahr 1808 in Wien, als der Kaiser Franz II. sich mit der Tochter seines Vaterbruders, des verstorbenen Erzherzogs von Mailand und der Erzherzogin Beatrix, der letzten Prinzessin aus dem Hause Este, vermählte, welches Ariost und Taßo um die Wette besangen. Der Erzherzog Ferdinand und seine erhabene Gattin sahen sich beide ihrer Länder durch die Kriegsereignisse beraubt, und die in jenen grausamen Zeiten 2) erzogene junge Kaiserin vereinigte in sich das doppelte Interesse der Größe und des Unglücks. Die Neigung allein, sonst keine politische Rücksicht, schloß diese, in jeder Hinsicht ehrenvolle Verbindung. Man fühlte zugleich eine geheime Sympathie und eine tiefe Ehrfurcht, je nachdem man an den Familienbund dachte, der eine solche Ehe den unsrigen näher rückte, oder an den hohen Rang, der sie so weit von uns entfernte. Ein junger Prinz aus der kaiserlichen Familie, der Bischof von Waizen, traute seinen Souverain mit seiner Schwester; die Mutter der Kaiserin, deren Tugenden und Einsichten mächtig über ihre Kinder walten, stieg in der Zeit eines Augenblicks zu den Unterthanen [69] ihrer Tochter herab, und trat mit einem Gemisch von Nachgiebigkeit und Würde hinter ihr einher, welches zugleich an die Rechte der Krone und an die der Natur mahnte. Die Brüder des Kaisers und der Kaiserin, insgesammt Diener des Staats im Felde oder im Cabinett, auf höhern oder niedrigern Stufen, und alle gleich sehr dem öffentlichen Wohl ergeben, folgten dem kaiserlichen Paare zur Kirche, in welcher die Großen der Monarchie, die Gemahlinnen, Töchter und Mütter der ältesten Edelleute aus den germanischen Stämmen versammelt waren. Man hatte zur Verherrlichung des Festes keine neue Bestellungen gemacht; hinreichend wars zur Pracht, was man bereits besaß, zur Schau zu bringen. Das Geschmeide der Damen war ein Familiengut; ihre Juwelen, von Mutter auf Tochter vererbt, schmückten die Jugend mit den Erinnerungen der Vorzeit; das ehrwürdige Alter der Jahrhunderte zeigte sich in der Gegenwart, und dem Auge strahlte eine Pracht entgegen, die das Werk mehrerer Zeitalter war, die aber dem Volke keine neuen Opfer kostete.

Die Hoffeste, die auf das Vermählungsfest folgten, entwickelten beinahe eben so viel Würde, als jenes. Familienfeste im Volke können anderer Gattung seyn; vielleicht aber ist es schicklich, wenn Monarchen, allem, was sie thun, den hohen Stempel ihrer erhabenen Bestimmung aufdrücken.

Nicht weit von der Kirche, vor welcher aufgefahrne Kanonen und aufgestellte Musikchöre die erneute Verbindung der Häuser Este und Habsburg, verkündeten, sieht man den Ort, welcher seit zweihundert Jahren die Grabstätte der Kaiser von Oestreich und ihres Hauses ist. Hier, in der Capuzinergruft, hörte dreißig Jahre hinter einander Maria Theresia täglich die Messe im Angesichte der [70] Ruhestelle, die sie für sich selbst, neben den Gebeinen ihres Gemahls, hatte bereiten lassen. Diese erhabene Kaiserin hatte in ihren jüngern Jahren so viel leiden müssen, daß das fromme Gefühl der Wandelbarkeit aller Dinge im Leben und des Lebens selbst, sie nie, auch nicht auf der höchsten Stufe der menschlichen Größe, verließ. Es giebt unter den Monarchen dieser Erde der Beispiele einer ernsten, festen Frömmigkeit viel; da sie dem Tode allein unterthan sind, so wirkt dessen unwiderstehliche Macht desto mehr auf sie. Bei uns stellen sich die Beschwerden des Lebens zwischen uns und das Grab; für Könige und Fürsten ist alles bis zum Grabe geebnet und leicht; um so sichtbarer winkt es ihnen aus der Ferne entgegen.

Feste sind von Natur geeignet, den Gedanken an das Grab aufzuregen; von jeher fand die Dichtkunst Vergnügen daran, beide Bilder näher zu rücken, und auch das Schicksal ist ein furchtbarer Dichter, der sie nur zu oft mit einander verband.

 

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1) Von der Censur gestrichen. 

2) Von der Censur gestrichen.