BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Erster Theil. I. Abtheilung.

 

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Dreizehntes Capitel.

 

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Vom nördlichen Deutschland.

 

Die ersten Eindrücke, die man im nördlichen Deutschland erhält, sind, vorzüglich im Winter, ungemein traurig; und ich erstaune gar nicht darüber, daß diese Eindrücke die meisten Franzosen, welche die Verbannung in dieses Land geführt hat, verhindert haben, es ohne Vorurtheil zu beobachten. Die Rheingränze ist feierlich; indem man sie überschreitet, fürchtet man das schreckliche Wort zu [105] hören: jetzt bist du außerhalb Frankreich. Vergeblich bemüht sich der Geist, mit Unpartheilichkeit von dem Geburtslande zu urtheilen, unsere Gefühle trennen sich nie davon; und ist man genöthigt, es zu verlassen, so hat die Existenz ihre Wurzel verloren, so fühlt man, daß man sich selbst fremd geworden ist. Die einfachsten Gebräuche, wie die vertrautesten Beziehungen, die wichtigsten Angelegenheiten, wie die kleinsten Freuden, alles gehörte dem Vaterlande an, und dies Alles ist nicht mehr. Man begegnet Keinem, der uns von der Vergangenheit etwas sagen könnte, Keine[m], der im Stande wäre, die Identität verlebter Tage mit den gegenwärtigen zu bezeugen; das Schicksal hebt von neuem an, ohne daß das Vertrauen der Jugendjahre sich erneuert; mit unverändertem Herzen, verändert man seine Welt. Die Verbannung verdammt also zur Ueberlebung seiner selbst; das Lebewohl, die Trennungen sind wie ein Augenblick des Todes, und doch ist man dabei mit allen Kräften des Lebens.

Vor sechs Jahren befand ich mich auf dem linken Rheinufer, die Barke erwartend, die mich zum rechten hinüber führen sollte; es war kalt, dunkel, und alles schien mir eine traurige Weissagung. Bewegt der Schmerz unsere Seele heftig, so kann man sich nicht einbilden, daß die Natur dabei gleichgültig bleibe; es ist dem Menschen erlaubt, seinen Leiden eine gewisse Kraft beizumessen; dies ist nicht Stolz, dies ist Vertrauen zum himmlischen Mitgefühl. Ich war beunruhigt wegen meiner Kinder, wiewohl sie sich noch nicht in einem Alter befanden, jene Bewegungen der Seele zu empfinden, welche über alle außerlichen Gegenstände Schrecken verbreiten. Meine französischen Bedienten wurden ungeduldig über die deutsche [106] Langsamkeit, und wunderten sich darüber, daß man nicht die einzige Sprache verstand, die sie für die Sprache aller civilisirten Länder hielten. In unserer Fähre war ein altes deutsches Mütterchen, das auf einem Karren saß, von welchem sie nicht einmal bei der Ueberfahrt über den Fluß absteigen wollte. – „Sie sind sehr ruhig,“ sagte ich zu ihr. – Freilich, antwortete sie; wozu auch so viel Lärm machen? – Diese einfachen Worte fielen mir auf. In Wahrheit, wozu Lärm machen? Aber wenn auch ganze Generationen schweigend durch das Leben wanderten, so würden Unglück und Tod sie nicht minder beobachten und sie zu erhaschen verstehen.

Nach meiner Ankunft auf dem jenseitigen Ufer hörte ich das Posthorn, dessen schneidende und falsche Töne eine traurige Reise nach einem traurigen Aufenthalte anzukündigen schienen. Die Erde war mit Schnee bedeckt, die Häuser mit kleinen Fenstern, aus welchen die Köpfe einiger Einwohner hervorguckten, die das Gerassel des Wagens ihren eintönigen Verrichtungen entzogen hatte; eine Art von Zugwerk, welche den Balken bewegt, womit man die Barriere schließt, überhebt den Einnehmer der Landstraße der Mühe, aus seinem Hause zu treten, um das Chaussee-Geld zu erhalten. Alles ist aufs Unbewegliche berechnet, und der Denker, wie derjenige, dessen Existenz ganz materiell ist, verabscheuen gleich sehr die Zerstreuung der Außenwelt.

Die öden Fluren, die von Rauch geschwärzten Häuser, die gothischen Kirchen, scheinen für Hexen- und Gespenstergeschichten gemacht zu seyn. Deutschlands Handelsstädte sind groß und gut gebaut: aber sie geben keine Idee von dem, was den Ruhm und das Interesse des Landes ausmacht, von [107] dem literarischen und philosophischen Geist. Die kaufmännischen Interessen reichen hin, um den Verstand der Franzosen zu entwickeln, und man kann in Frankreich in einer aus lauter Handelsleuten zusammengesetzten Stadt einige gesellschaftliche Unterhaltung antreffen; aber die Deutschen, mit ihrer hohen Empfänglichkeit für abstracte Studien, behandeln die Geschäfte, wenn sie sich damit befassen, so methodisch, so schwerkräftig, daß sie sich zu keiner allgemeinen Idee darüber erheben. Sie bringen in den Handel die Rechtlichkeit, welche sie auszeichnet; aber sie geben sich demselben auch dermaßen hin, daß sie im Umgange nur noch einen munteren Zeitvertreib suchen, und von einer Zeit zur andern grobe Späße vorbringen, um sich selbst zu belustigen. Dergleichen Späße machen den Franzosen niedergeschlagen; denn man findet sich leichter in die Langeweile, welche in ernsten und eintönigen Formen auftritt, als in jene spaßbafte, welche so recht plump und vertraulich die Tatze auf die Schulter legt.

Die Deutschen haben sehr viel Universalität in Literatur und Philosophie; aber durchaus nicht in Geschäften. Diese behandeln sie immer stückweise, so daß sie sich nur mechanisch damit befassen. In Frankreich das Gegentheil; der Geist der Geschäftsführung ist hier sehr entwickelt, und nur in der Literatur und Philosophie gestattet man keine Universalität. Wäre ein Dichter zugleich Gelehrter, oder ein Gelehrter zugleich Dichter, so würde er bei uns den Dichtern und Gelehrten verdächtig vorkommen. Dafür aber trifft man nicht selten in dem einfachsten Handelsmann sehr klare Ansichten von den politischen und militärischen Angelegenheiten seines Landes. Daher, daß man in Frankreich mehr Leute von Verstand und weniger [108] Denker findet. In Frankreich studirt man die Menschen, in Deutschland die Bücher. Die gewöhnlichsten Fähigkeiten reichen aus, um Theilnahme zu finden, wenn man über Menschen spricht; man braucht beinahe Genie, um Seele und Bewegung in den Büchern zu entdecken. Deutschland kann nur diejenigen fesseln, die sich mit alten Thatsachen und abstracten Ideen beschäftigen. Für Frankreich gehört das Gegenwärtige und Wirkliche; und bis eine neue Ordnung der Dinge eintritt, scheint es nicht darauf verzichten zu wollen.

Ich lege es, dünkt mich, nicht darauf an, die Nachtheile Deutschlands in den Schatten zu stellen. Diese kleinen norddeutschen Städte, wo man Menschen von großen Fähigkeiten antrifft, bieten oft keine Art von Belustigung dar: kein Schauspiel, keinen Umgang; tropfenweise rinnt hier die Zeit, und durch kein Geräusch unterbricht sie die einsame Betrachtung. Die kleinsten Städte Englands stehen mit einer freien Verfassung in Zusammenhang, und senden Abgeordnete, die Angelegenheiten der Nation zu verhandeln; die kleinsten Städte Frankreichs stehen in Verbindung mit der Hauptstadt, wo so viele Wunder vereinigt sind; die kleinsten Städte Italiens genießen des Himmels und der schönen Künste, deren Strahlen sich über die ganze Landschaft verbreiten. Im Norden Deutschlands giebt es keine repräsentative Verfassung, keine große Hauptstadt; und die Strenge des Clima, die Mittelmäßigkeit der Glücksgüter, der Ernst des Charakters würden das Daseyn höchst beschwerlich machen, wenn die Macht des Gedankens sich nicht hinausgeschwungen hätte über diese langweiligen und begränzten Umstände. Die Deutschen haben sich eine lebendige und unabhängige Gelehrten-Republik geschaffen, und das Interesse der Begebenheiten [109] durch das der Ideen ersetzt. Sie brauchen keinen Mittelpunkt, weil sie alle demselben Ziele zustreben, und ihre Einbildungskraft vervielfältigt die Schönheiten, welche Natur und Kunst ihnen darbieten können.

Die Bürger dieser idealen Republik, größtentheils frei von allen öffentlichen und besonderen Verrichtungen, arbeiten im Verborgenen, wie Bergleute, und, wie diese, unter verschachteten Schätzen hingestellt, bringen sie die intellectuellen Reichthümer des menschlichen Geschlechts an den Tag.