BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Erster Theil. II. Abtheilung.

 

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Drittes Capitel.

 

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Von den Haupt-Epochen der deutschen Literatur.

 

Die deutsche Literatur hatte nie, was man ein goldnes Zeitalter zu nennen pflegte: eine Epoche nämlich, wo die Fortschritte in den Wissenschaften durch den Schutz derer, die an der Spitze des Staates stehn, belebt werden. In Italien hat Leo der Zehnte, in Frankreich Ludwig der Vierzehnte, und im Alterthume haben Perikles und August ihre Namen ihren Zeitaltern aufgeprägt. So kann man auch die Regierung der Königin Anna als die glänzendste Bahn der Englischen Literatur betrachten; doch dies Volk, das durch sich selbst besteht, hat nie seine großen Männer seinen Königen verdankt. Deutschland war getheilt; es fand in Oestreich keine Liebe für die Wissenschaften, und in Friedrich dem Zweiten, der allein ganz Preußen war, kein Interesse für die deutschen Schriftsteller; die Wissenschaften waren in Deutschland also nie in einem Mittelpunkt vereinigt, und fanden keine Stütze im Staate. Vielleicht verdankt die Literatur dieser Isolirtheit, wie jener Unabhängigkeit, ihre größere Eigenthümlichkeit und Energie.

Schiller sagt von der deutschen Kunst: [175]

 

Von dem größten deutschen Sohne,

Von des großen Friedrichs Throne

Ging sie schutzlos, ungeehrt.

Rühmend darfs der Deutsche sagen.

Höher darf das Herz ihm schlagen.

Selbst erschuf er sich den Werth.

 

Darum steigt in höhern Bogen,

Darum strömt in vollern Wogen

Deutscher Barden Hochgesang;

Und in eigner Fülle schwellend,

Und aus Herzenstiefe quellend,

Spottet er der Regeln Zwang 1).

 

Doch mußte daraus, daß deutsche Gelehrte von ihren Regierungen keine Aufmunterung erhielten, die Folge entstehen, daß sie seit geraumer Zeit im verschiedenartigsten Sinne individuelle Versuche machten, und spät nur erst zu der wahrhaft merkwürdigen Epoche ihrer Literatur gelangt sind.

Seit einem Jahrtausend ist die deutsche Sprache, zuerst von Mönchen, dann von Rittern, dann von Handwerkern, wie Hans Sachs, Sebastian Brand und andern, um die Zeit der Annäherung der Reformation, endlich in den neuesten Zeiten von Gelehrten ausgebildet worden, die ihr die Fähigkeit gegeben, alle Feinheiten des Gedankens auszudrücken.

Wenn man die Werke prüft, aus welchen die deutsche Literatur besteht, so trifft man darin, nach dem Genie der Schriftsteller, die Spuren dieser verschiedenen Ausbildungen an, wie in den Bergen die verschiedenen Lagen der Steine, die von den Revolutionen der Erde zusammengehäuft worden. Der Stil ändert fast gänzlich seine Natur, je nachdem man einen oder den andern Schriftsteller betrachtet, und Ausländer sind genöthigt, bei jedem [176] neuen Buche, das sie zu verstehen trachten, die Sprache von neuem zu studieren.

Die Deutschen hatten wie die meisten europäischen Nationen, in den Ritterzeiten Troubadours und Krieger, die Liebe und Schlachten sangen. Man hat in der neuesten Zeit ein Heldengedicht unter dem Namen: «der Nibelungen Lied» aufgefunden, dessen Entstehen in das dreizehnte Jahrhundert fällt. Man findet darin den Heroismus und die Treue, die die Menschen in jener Zeit auszeichnete, wo alles wahrhaft, stark und ausgesprochen war, wie die Urfarben der Natur. Die Sprache ist in diesem Gedichte klarer und einfacher, als die gegenwärtige, allgemeine Ideen waren damals noch nicht im Umschwung, man begnügte sich also damit, Charakterzüge zu erzählen. Die deutsche Nation war in jener Zeit unter allen Europäischen die kriegerischeste, und ihre alten Sagen sprechen von nichts, als festen Burgen und schönen Damen, für die man das Leben opferte. Als Maximilian später versuchte, den Rittersinn wieder zu beleben, hatte der menschliche Geist nicht mehr diese Richtung; damals fingen schon die religiösen Streitigkeiten an, die den Gedanken der Metaphysik zuwenden, und die Stärke der Seele mehr in Meinungen, als in Thaten, sichtbar werden lassen.

Luther vorzüglich war es, der seine Sprache vervollkommnete, indem er sich ihrer zu theologischen Erörterungen bediente; seine Psalmen- und Bibel-Uebersetzungen sind noch jetzt schöne Muster. Die Wahrheit und poetische Gedrungenheit seines Stils sind dem Geiste des Deutschen durchaus angemessen, und in dem Schall seiner Worte selbst liegt, ich weiß nicht, was für eine kräftige Freimüthigkeit, auf die man sich vertrauend stützt. [177] Die politischen und Religions-Kriege, in denen die Deutschen zu ihrem Unglück einander bekämpften, wandten die Geister von der Literatur ab, und nur erst im Jahrhunderte Ludwigs des Vierzehnten, in dem Zeitraume, in welchem das Streben, den Franzosen nachzuahmen, sich der meisten Höfe und Schriftsteller Europa's bemächtigte, fing man wieder an, sich damit zu beschäftigen.

Hagedorns, Gellerts, Weiße's Schriften waren nichts, als schwerfällig gemachtes Französisch; man findet in ihnen weder Eigenthümlichkeit, noch irgend etwas dem natürlichen Geiste ihres Volkes Angemessenes. Diese Schriftsteller strebten nach französischer Anmuth, ohne daß weder ihr Leben, noch ihre Gewohnheiten sie dazu begeisterten, sie schmiegten sich in die Fessel der Regel, ohne weder die Eleganz, noch den Geschmack zu besitzen, die selbst dem Despotismus Annehmlichkeit verleihen können. Auf die Französische folgte bald eine andre Schule, die in der deutschen Schweiz entstand, und zunächst auf die Nachahmung englischer Schriftsteller begründet war. Bodmer, sich auf des grossen Haller Beispiel stützend, suchte zu beweisen, daß die englische Literatur dem deutschen Geist verwandter sey, als die französische. Gottsched, ein Gelehrter ohne Geschmack und ohne Genie, bestritt diese Behauptung. Aus dem Streite dieser beiden Schulen entsprühte großes Licht. Einige Männer fingen schon damals an, sich einen eignen Weg zu bahnen. Klopstock nahm den ersten Platz in der englischen, Wieland in der französischen Schule ein, aber Klopstock eröffnete Nachfolgern eine neue Laufbahn, während Wieland einzeln dasteht, der Erste und der Letzte in der französischen Schule: der Erste, weil in dieser Gattung niemand ihn erreichen konnte, und der Letzte, weil [178] nach ihm die deutschen Schriftsteller einen durchaus verschiedenen Gang nahmen.

In allen Nationen teutonischen Stammes finden sich Funken jenes heiligen Feuers, das die Zeit mit Asche bedeckt hat; und so geschah es, daß Klopstock, indem er zunächst die Engländer nachahmte, die Einbildungskraft und den eigentümlichen Charakter der Deutschen weckte, während, fast in demselben Augenblicke, Winkelmann in der Kunst, Lessing in der Critik, und Göthe in der Poesie, eine wahrhaft deutsche Schule gründeten: wenn Schule kann genannt werden, worin eben so viel Verschiedenheiten bestehen, als Individuen, oder verschiedenartige Talente. Ich werde im Verlaufe dieses Werks die Poesie, die dramatische Kunst, die Romane und die historische. Literatur besonders behandeln; aber da jeder Schriftsteller von Genie in Deutschland, so zu sagen, eine eigne Schule bildet, so schien es mir nöthig mit der Zeichnung der Hauptzüge jedes einzelnen zu beginnen, und die berühmtesten Gelehrten persönlich zu schildern, bevor ich zur Analyse ihrer Werke übergehe.

 

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1) Die deutsche Muse.