BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Erster Theil. II. Abtheilung.

 

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Eilftes Capitel.

 

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Von der classischen und der

romantischen Poesie.

 

Der Name romantisch ist in neuern Zeiten in Deutschland der Gattung von Poesie beigelegt worden, deren Ursprung die Gesänge der Troubadours waren, und die die Ritterzeit und das Christenthum erzeugten. Giebt man nicht zu, daß Heidenthum und Christenthum, der Norden und der Süden, das Alterthum und das Mittelalter, das Ritterthum und die Griechischen und Römischen Einrichtungen sich in das Reich der Literatur getheilt [223] haben; so wird man nie dahin gelangen, den antiken und den modernen Geschmack aus einem philosophischen Gesichtspunkt zu beurtheilen.

Man nimmt zuweilen das Wort classisch für gleichbedeutend mit vollkommen. Ich bediene mich hier desselben in einem anderen Sinne, indem ich die classische Poesie als die der Alten und die romantische Poesie als diejenige betrachte, die in gewisser Hinsicht mit den Sagen aus der Ritterzeit zusammenhängt. Diese Eintheilung paßt auch zu den beiden Zeitrechnungen der Welt, vor und nach Einführung des Christenthums.

Eben so hat man in verschiedenen deutschen Werken die antike Poesie mit der Sculptur, die romantische mit der Malerei verglichen; kurz, auf alle Weise den Gang des menschlichen Geistes in seinem Ueberschritt von der materialistischen zu der spiritualistischen Religion, von der Natur zur Gottheit zu bezeichnen gesucht.

Die Französische Nation, die cultivirteste unter den Nationen lateinischen Ursprungs, neigt sich gegen die den Griechen und Römern nachgeahmte classische Poesie hin. Die englische Nation, die glorreichste Nation germanischen Stammes, liebt die romantische Ritterpoesie, und darf sich der Meisterstücke rühmen, die sie in dieser Gattung besitzt. Ich will hier nicht untersuchen, welche von diesen beiden Gattungen der Poesie den Vorzug verdiene: es ist hinreichend zu zeigen, daß die Verschiedenheit des Geschmacks, in dieser Hinsicht, nicht allein aus zufälligen Ursachen, sondern aus ursprünglichen Quellen der Einbildungskraft und des Gedankens herrührt.

In dem Epos und in den Tragödien der Alten herrscht eine Gattung von Einfalt, die daher entsteht, daß die Menschen jener Zeit mit der Natur [224] eins waren, und so vom Schicksal abzuhängen glaubten, wie sie von der Nothwendigkeit abhängt. Der Mensch, der damals nur wenig dachte, wandte alle Thätigkeit der Seele nach Außen; das Gewissen selbst wurde durch äußerliche Gegenstände dargestellt, und die Fackeln der Furien schüttelten die Qualen der Reue auf das Haupt des Schuldigen hinab. Im Alterthum war das Ereigniß Alles, in unsrer neueren Zeit greift der Charakter mehr Platz; und das unruhige Reflectiren, welches oft, wie der Geier des Prometheus, an uns nagt, würde den Alten bei ihren klaren und bestimmten bürgerlichen und geselligen Verhältnissen als eine Thorheit erschienen seyn.

In der ersten Zeit der Kunst machte man in Griechenland nur einzelne Statuen; Gruppen wurden erst später zusammengesetzt. Man könnte gleichergestalt mit Wahrheit sagen, daß es in allen Künsten keine Gruppen gab; die dargestellten Gegenstände folgten aufeinander, wie in den Basreliefs, ohne Verbindung oder Verknüpfung irgend einer Art. Der Mensch personificirte die Natur; Nymphen bewohnten die Gewässer und Hamadryaden die Wälder, aber die Natur ihrerseits bemeisterte sich des Menschen; man hätte sagen mögen, daß er dem Sturm, dem Blitz, einem Vulkan gleiche: so sehr handelte er nach einem unwillkührlichen Antrieb und ohne daß die Reflexion irgend weder die Motive noch die Folgen seiner Handlungen zu ändern fähig war. Die Alten hatten, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine körperliche Seele, deren Bewegungen stark, gerade und consequent waren; anders verhält es sich mit dem durch das Christenthum entwickelten menschlichen Herzen; die Neueren haben aus der christlichen Buße die Gewohnheit geschöpft, immer in sich selbst zurückzugehen. [225]

Um nun diese völlig innere Existenz zu offenbaren, muß eine große Mannichfaltigkeit der Thatsachen unter allen Gestalten die unendlichen Nuancen dessen, was in der Seele vorgeht, darstellen. Wenn in unsern Tagen die schönen Künste in die Einfachheit der Alten eingezwängt würden, so würden wir die ursprüngliche Kraft, die jene auszeichnete, nicht erreichen, wohl aber die innigen und vielfachen Rührungen, deren unsre Seele fähig ist, einbüßen. Die Einfachheit der Kunst bei den Neueren würde leicht eine Wendung von Kälte und Abstraction nehmen, während die der Alten voller Leben war. Ehre und Liebe, Tapferkeit und Mitleid sind Gefühle, die das ritterliche Christenthum bezeichnen, und diese Regungen des Gemüths können nur in Gefahren, Heldenthaten, Liebes-Abentheuern, Unfällen, endlich in dem romantischen Interesse, sichtbar werden, welches unaufhörlich in jenen Darstellungen wechselt. Die Quellen der Kunsteindrücke sind also in vieler Hinsicht verschieden in der classischen und romantischen Poesie; in der ersteren herrscht das Schicksal, in der andern, die Vorsehung. Das Schicksal achtet des Menschen Gefühle für nichts, die Vorsehung beurtheilt seine Handlungen nur nach seinen Gefühlen. Wie sollte die Poesie nicht eine Welt ganz anderer Natur schaffen, wenn das Werk eines blinden und tauben Schicksals, das immer mit den Sterblichen in Streit liegt, oder wenn die weise Ordnung, die ein höheres Wesen leitet, das unser Herz befragt und das unserm Herzen antwortet, dargestellt werden soll?

Die heidnische Poesie muß einfach seyn, und in die Augen springend, wie die äußerlichen Gegenstände; die christliche Poesie braucht tausend Regenbogenfarben, um sich nicht in den Wolken [226] zu verlieren. Die Poesie der Alten ist reiner, als Kunst betrachtet, die der Neueren lockt die Thränen mehr hervor; aber hier ist die Rede nicht von der classischen und von der romantischen Poesie, als solche, sondern von der Nachahmung der einen und der Begeisterung der andern. Die Literatur der Alten ist bei den Neueren ein verpflanztes Gewächs, die romantische oder ritterliche Literatur ist einheimisch unter uns; unsre Religion und unsre Gesetze haben ihre Blüthe gezogen. Die Schriftsteller, welche die Alten nachahmen, haben sich den strengsten Geschmacksregeln unterworfen; denn, da sie weder ihre eigene Natur, noch ihre eigenen Erinnerungen zu Rathe ziehen konnten, mußten sie sich den Gesetzen fügen, nach welchen die Meisterstücke der Alten unserm Geschmack angepaßt werden konnten, obgleich alle politische und religiöse Verhältnisse, die diesen Meisterstücken das Daseyn gaben, verändert waren. Darum sind diese Poesieen im Geiste des Alterthums, wie vortrefflich sie auch sonst seyn mögen, selten populär, weil sie in der gegenwärtigen Zeit mit nichts, was national ist, zusammenhängen.

Da die französische Poesie die am meisten classische aller modernen Poesieen ist, so ist sie die einzige, die nicht im Volke lebt. Die Stanzen des Tasso werden von den Gondolieren in Venedig gesungen, die Spanier und Portugiesen aller Classen wissen ihren Calderon und Camoens auswendig, Shakspeare wird in England eben so sehr vom Volke, als von den höheren Standen bewundert, Gedichte von Bürger und Göthe mit Volksweisen ertönen vom Rhein bis zur Ostsee. Unsre französischen Dichter finden überall Bewunderung, weil es cultivirte Geister bei uns und im übrigen Europa giebt; aber sie sind dem Volke und selbst dem Bürgerstande [227] in den Städten völlig unbekannt, da die schönen Künste in Frankreich nicht, wie anderwärts, in dem Lande der Entstehung ihrer Schönheiten selbst ihren Ursprung haben.

Einige französische Critiker haben behauptet, die Literatur der Germanischen Völker läge noch in der Kindheit der Kunst; diese Meinung ist durchaus falsch: die Deutschen, welche die Sprachen und die Werke der Alten am besten inne haben, mißkennen gewiß eben so wenig die Nachtheile, als die Vortheile einer Gattung der Kunst, die sie annehmen oder die sie verwerfen. Aber Charakter, Sitten und Raisonnement haben sie dahin geleitet, die Literatur, welche sich auf die Erinnerungen der Ritterzeiten, auf das Wunderbare des Mittelalters, gründet, der vorzuziehn, deren Basis die Mythologie der Griechen ist. Die romantische Literatur ist die einzige, die noch der Vervollkommnung fähig ist, weil, da ihre Wurzeln im eignen Boden ruhen, sie allein wachsen und sich neu beleben kann; sie spricht unsre Religion aus; sie ruft unsre geschichtlichen Erinnerungen zurück: ihr Ursprung ist alt, aber nicht antik.

Die classische Literatur muß durch die Erinnerungen des Heidenthums ihren Durchgang nehmen, um zu uns zu gelangen; die Poesie der Deutschen ist die christliche Zeitrechnung der schönen Künste: sie bedient sich unsrer persönlichen Eindrücke, um uns zu rühren; der Genius, der sie beseelt, richtet sich unmittelbar an unser Herz, und scheint unser Leben selbst wie das mächtigste und das schrecklichste aller Phantome vor uns aufsteigen zu lassen.