BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Zweiter Theil. I. Abtheilung.

 

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Sechszehntes Capitel.

 

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Lessings Schauspiele.

 

Vor Lessings Zeiten hatten die Deutschen keine Schaubühne; sie begnügten sich mit Uebersetzungen oder mit Nachahmungen fremder Stücke. Das Theater fühlt mehr als alle übrigen Zweige der Literatur, das Bedürfniß einer Hauptstadt, welche die Hilfsquellen des Reichthums und der [16] Künste vereinige: und in Deutschland ist alles noch vereinzelt. In der einen Stadt giebt es Schauspieler, in der andern dramatische Schriftsteller, in einer dritten das Publikum; aber nirgends ein gemeinschaftlicher Vereinigungspunkt. Lessing machte von der natürlichen Thätigkeit selnes Characters Gebrauch, um seine Landeleute mit einem Nationaltheater zu beschenken, und schrieb eine Zeitschrift unter dem Titel Dramaturgie, in der er die aus dem französischen übersetzten Stücke, welche vorzüglich in Deutschland aufgeführt wurden, kritisch beleuchtet: die Richtigkeit seiner Recensionen beweiset, daß er noch mehr Philosoph als Theaterkenner war.

Lessing dachte überhaupt, wie Diderot, über die dramatische Kunst. Er war der Meinung, die strenge Regelmäßigkeit der französischen Tragödie sey ein großes Hinderniß zur Behandlung einfacher rührender Gegenstände; und um die Lücke auszufüllen, bliebe nichts übrig, als das Drama. Mit dem Unterschiede, daß Diderot, in seinen Stücken, die Ziererei der Natürlichkeit an die Stelle des Regelzwangs der Herkömmlichkeit setzte, und daß Lessings Talent wirklich einfach und natürlich ist. Er ist der erste, der den Deutschen den ehrenvollen Antrieb gab, mit eigenem Genie für das Theater zu schreiben. Die Originalität seines Gemüths zeigt sich in seinen Stücken; diese Stücke sind gleichwohl eben den Grundsätzen unterworfen, als die unsrigen; ihre Form hat nichts besonders, und obschon er sich über die Einheit des Orts und der Zeit wegsetzte, so hat er sich doch nie, wie Göthe und Schiller, zur Geburt eines neuen Systems erhoben. Minna von Barnhelm, Emilia Galotti und Nathan der Weise verdienen, vor allen Dramen Lessings, eine nähere Auseinandersetzung. [17]

Ein edelmüthiger, verabschiedeter Stabsoffizier, der im Kriege mehrere Wunden erhielt, wird zuletzt durch einen ungerechten Prozeß an seiner Ehre gekränkt, und will von seiner Geliebten abstehen, um sie nicht in sein Unglück zu ziehen. Dieses ist der ganze Inhalt des Stücks, Minna von Barnhelm. Mit so einfachen Mitteln hat Lessing ein großes Interesse zu erwecken gewußt; der Dialog ist voller Geist und Reiz, der Stil überaus rein, und alle Charaktere so entwickelt und klar, daß jede Schattirung ihrer Gefühle den Zuschauer so lebhaft anspricht, als das anvertraute Geheimniß eines Freundes. Die Rolle eines alten Wachtmeisters, der seinem unterdrückten Major mit Leib und Seele ergeben ist, enthält eine angenehme Mischung von Lustigkeit und Empfindsamkeit; eine Gattung, die auf allen Bühnen Glück macht, denn die Lustigkeit gefällt mehr, wenn man sie für keine Folge der Fühllosigkeit hält, und die Empfindsamkeit scheint natürlicher, wenn sie nur von Zeit zu Zeit aufblickt. In seinem Stücke hat Lessing auch die Person eines französischen Glücksritters angebracht; sie ist durchaus verfehlt; es bedarf einer überaus leichten Hand, um das aufzufinden, was in den Franzosen zur Lächerlichkeit gemacht werden kann; die meisten Ausländer haben sie plump und mit groben Zügen dargestellt, die weder eine zarte, noch eine treffende Aehnlichkeit mit ihnen haben.

Emilia Galotti ist die römische Virginia, einer neuen ähnlichen Begebenheit angepaßt; nur sind die Gefühle für den Rahmen des Gemäldes zu stark; die Handlung ist an sich zu kraftvoll, um sie auf einen unbekannten Namen übertragen zu können. Lessing wollte sonder Zweifel seine republikanische üble Laune gegen die Classe der Höflinge [18] auslassen; er malt con amore und mit stark aufgetragenen Farben einen von ihnen, der seinem Herrn .ein unschuldiges Mädchen verführen hilft; aber sein Marinelli ist beinahe zu schlecht und zu verworfen, um Wahrscheinlichkeit zu haben; seine Niederträchtigkeit ist nicht originell genug; man sieht, daß Lessing ihn in feindseliger Absicht also darstellte, und nichts ist für die Schönheit einer Dichtung nachtheiliger, als irgend eine fremde Absicht, die diese Schönheit selbst nicht zum Gegenstand hat. Der Charakter des Prinzen wird vom Verfasser mit größerer Feinheit durchgeführt; in seinem ganzen Betragen blicken die heftigen Leidenschaften und der Leichtsinn des Gemüths durch, die, in einem Großen vereint, so gefährlich, so verderblich werden können. Ein alter Rath legt dem Prinzen Papiere zur Unterschrift vor; es befindet sich ein Todesurtheil darunter; in seiner Ungeduld, die geliebte Emilia nicht zu verfehlen, ist der Prinz im Begriff zu unterschreiben, ohne gelesen zu haben; jetzt findet der alte Rath einen Vorwand, ihm das Papier vorzuenthalten, und schaudert bei dem Gedanken an den unüberlegten Mißbrauch einer solchen Macht. Die Rolle der Gräfin Orsina, die der Prinz vorher liebte, und um Emilien verließ, ist mit dem größten Talent bearbeitet. In der Orsina ist ein Gemisch von Leichtsinn und Heftigkeit, ein Charakter, wie man ihn leicht bei einer Italienerin, die an einem Hofe lebt, finden kann; man entdeckt zugleich in ihr, was die große Welt aus ihr gemacht hat, und was die große Welt in ihr nicht ersticken können; die Natur des Süden[s] mit der ganzen Künstlichkeit des Hoflebens verbunden, Stolz mit dem Laster, Eitelkeit mit Empfindelei; ein seltsames Gemisch! Bei den Gesetzen, die uns der Vers und die feststehende [19] Formen auflegen, kann ein solches Gemälde nicht Statt finden, aber darum ist es nicht minder tragisch.

Der Auftritt, in welchem die Gräfin Orsina Emiliens Vater aufreizt, den Fürsten zu morden, um seine Tochter der Schande, die auf sie wartet, zu entreißen, ist außerordentlich schön. Das Laster giebt der Tugend die Waffen in die Hand; man hört die Leidenschaft alles sagen, was die strengste Moral sagen könnte, um die gekränkte Ehre eines alten Vaters zu entflammen; man sieht das menschliche Herz in einer neuen Lage aufgedeckt; und eben in solchen Schöpfungen zeigt sich das wahre dramatische Genie. Der Vater empfängt den Dolch von der Gräfin; und, da er den Prinzen nicht durchbohren kann, ersticht er die Tochter. Ohne es selbst zu wissen, ist die Orsina die Urheberin des Mordes: sie hat ihre vorübergehende Wuth in ein tiefes Gemüth eingegraben; den unsinnigen Klagen ihrer strafbaren Liebe floß das unschuldige Blut.

Man stößt in den Hauptrollen der Stücke Lessings auf gewisse Familienzüge, woraus man den Schluß ziehen möchte, er selbst habe sich in diesen Rollen aufstellen wollen: der Major Tellheim in Minna, Odoardo in Emilia, der Templer in Nathan treten alle drei mit einer stolzen Empfindlichkeit auf, in welcher ein Anstrich von Menschenhaß liegt.

Nathan der Weise ist Lessings Meisterstück. Es ist unmöglich, die religiöse Toleranz mit mehr Natur und Würde handelnd darzustellen und auf die Bühne zu bringen. Ein Muselmann, ein Tempelherr und ein Jude sind die Hauptpersonen des Drama, dessen erster Gedanke aus der Erzählung .des Boccaz von den drei Ringen entnommen ist: die ganze Anordnung gehört Lessing. Der Muselmann [20] ist der Sultan Saladin, den die Geschichte so groß schildert; der junge Tempelherr trägt im Herzen die ganze Strenge seines Ordens; der Jude ist ein Greis, der im Handel reich geworden, aber durch Aufklärung und Wohlthun sich ein edles Wesen zu eigen gemacht hat. Ihm ist alles, was im verschiedenen Glauben der Menschen aufrichtig ist, wahr; im Herzen jedes Tugendhaften sieht er das Bild der Gottheit. Dieser Charakter ist von bewundernswürdiger Einfalt. Man erstaunt über die Rührung, die er hervorbringt, obschon er weder von lebhaften Leidenschaften, noch von hinreissenden Umständen fortgezogen wird. Nur da man dem weisen Nathan ein Mädchen entreißen will, dem er Vater geworden, die er seit ihrer Kindheit mit Sorgfalt gepflegt, übermannt ihn der Schmerz, sich von ihr zu trennen; und, von dem Gefühl der Ungerechtigkeit überwältigt, erzählt er, wie er zum Besitze des Mädchens gekommen ist.

In einer Nacht erschlugen die Christen alle Juden in Gaza; unter ihnen befand sich Nathans Frau mit sieben hoffnungsvollen Söhnen. Drei Tage und Nächte hatte Nathan in Staub und Asche vor Gott gelegen, und der Christenheit den unversöhnlichsten Haß zugeschworen; doch nun kam die Vernunft allmählig wieder. Er rief aus: „Doch ist Gott! Doch war auch Gottes Rathschluß das!“ – Indem kam ein Klosterbruder, überreichte ihm ein christliches Waisenkind, bat ihn, sich desselben anzunehmen. Nathan nahms und schluchzte: „Gott! auf sieben doch nun schon eines wieder!“ Nathans Rührung bei dieser Erzählung ist desto rührender, da er sich ihrer zu erwehren strebt, und, als Greis, sich schämt, was in ihm vorgeht, hervorblicken zu lassen. Seine erhabene [21] Geduld ermüdet nicht; und ob man schon seinem Glauben und seinem Stolze zugleich tiefe Wunden schlägt; ob man es ihm schon zum Verbrechen macht, seine Recha in der jüdischen Religion erzogen zu haben: so hat doch seine Rechtfertigung keinen andern Zweck, als ihm das Recht zu verschaffen, diesem angenommenen Kinde fernerhin Gutes zu thun.

Das Stück Nathan der Weise ist durch die Charakterschilderungen anziehender, als durch die Handlung. Der Tempelherr zeigt im Charakter Rauhigkeit, aus Furcht, zu viel Empfindung zu verrathen. Die orientalische Verschwendung Saladins steht mit der edeln Sparsamkeit Nathans im Widerspiel. Als jenen sein Schatzmeister, ein alter strenger Derwisch, warnt, sein Schatz sey leer, giebt Saladin zur Antwort: „Nun schlägst du meine Freudigkeit auf einmal nieder. Mir, für mich, fehlt nichts: Ein Kleid, Ein Schwert, Ein Pferd und Einen Gott! was brauch' ich mehr. – Aber dem Schatze fehlt's, und, in ihm, uns allen.“ – Nathan ist ein Menschenfreund; aber der Name Jude, den er in der Welt führt, und der einen so ungünstigen Anstrich über ihn verbreitet, läßt selbst, indem er den Menschen wohlthut, eine Art von Verachtung gegen die menschliche Natur durchblicken. Jeder Auftritt entwickelt mit Feinheit und Witz neue Schönheiten in diesen verschiedenen Charakteren; nur greifen sie nicht tief und lebhaft genug in einander, um das Ganze zu Einem großen rührenden Gemälde zu machen.

Ganz zuletzt entdeckt sich's, daß der Tempelherr und Nathans an Kindesstatt angenommene Tochter, Bruder und Schwester, und Saladins Bruderkinder sind. Die Absicht des Verfassers war ohnstreitig, in seiner dramatischen Familie das [22] Beispiel einer ausgebreiteten Religionsverwandtschaft zu geben. Dieser philosophische Zweck, auf welchen das ganze Stück hindeutet, schwächt allerdings das theatralische Interesse. Ein Drama, dessen Augenmerk war, eine allgemeine Idee zu entwickeln, muß nothwendig, so schön und erhaben diese Idee an sich seyn mag, kalt seyn, und verirrt sich in das Gebiet der Fabel. Es stellt seine Personen nicht um ihrer selbst willen auf, sondern bloß der Belehrung, der Aufklärung wegen. Freilich giebt es keine Dichtung, nicht einmal einen wirklichen Vorfall, aus welchem sich nicht eine Idee abziehen ließe; nur muß die Begebenheit der Sittenlehre, nicht die Sittenlehre der Begebenheit zum Grunde dienen. In den schönen Künsten gebührt der Einbildungskraft der Vortritt.

Seit Lessing ist Deutschland mit Dramen überschwemmt worden; jetzt fängt man an, ihrer müde zu werden. Das Zwittergeschöpf, Drama genannt, verdankt sein Daseyn der großen Schwierigkeit, schulgerechte Tragödien zu schreiben; es ist bei uns eine Art von Schle[i]chwaare, die in das Gebiet der Kunst eingeschwärzt wird; wo aber, wie in Deutschland, volle dichterische Handelsfreiheit verstattet ist, bedarf es nicht des Behelfes der Dramen, um einfache, natürliche Vorfälle auf die Bühne zu bringen. Dem Drama bliebe folglich nur der Vortheil, wie der Roman, wirkliche Lebensumstände, wirkliche Sitten der heutigen Welt zu malen; und auch hier, wo man unbekannte, erdichtete Namen auf der Bühne nennen hört, geht einer der größten Genüsse verloren, den die Tragödie geben kann, nemlich die Rückerinnerung an die Weltgeschichte. Man bildet sich ein, im Drama mehr Interesse zu finden, weil es uns vor Augen stellt, was wir täglich vor Augen haben; aber, [23] in der Kunst, ist eine Nachahmung der uns zu nahe liegenden Wirklichkeit ohne Reiz. Das Drama verhält sich zur Tragödie wie die Wachsfiguren zu den Statuen; zu viel Wahrheit, zu wenig Ideal; zu viel, um für die Kunst, und bei weitem zu wenig, um für Natur zu gelten.

Lessing kann nicht in die erste Reihe der dramatischen Dichter gestellt werden; sein Geist hat sich mit zu vielen und verschiedenartigen Gegenständen beschäftiget, um in einem einzelnen Fach ein hervorstechendes Talent entwickeln zu können. Der Geist ist überall, ist universell; aber die natürliche Fähigkeit zu einer der schönen Künste ist nothwendig auf ein Fach beschränkt. Lessing war, vor allem, ein starker Logiker; Logik ist ein Hinderniß zur dramatischen Beredtsamkeit; denn die Empfindung verschmäht die Uebergänge, die Abstufungen, die Motive; sie ist eine beständige unwillkürliche Begeisterung, die sich keine Rechenschaft über sich ablegen kann. Lessing war nichts weniger als ein trockener Philosoph, hatte aber in seinem Charakter mehr Lebhaftigkeit als Tiefgefühl; das dramatische Genie ist abspringender, finsterer, einfallender, als es ein Mann seyn konnte, der den größten Theil seines Lebens der Betrachtung und dem Nachforschen gewidmet hatte.