BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Zweiter Theil. II. Abtheilung.

 

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Acht und zwanzigstes Capitel.

 

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Von den Romanen.

 

Von allen Erdichtungen sind die Romane die leichteste; es giebt also keine Bahn, in welcher die Schriftsteller der neueren Nationen sich mehr versucht hätten. Der Roman bildet, so zu sagen, den Uebergang zwischen dem wirklichen Leben und dem eingebildeten. Die Geschichte eines Jeden ist bis auf wenige Modificationen ein Roman. der große Aehnlichkeit mit denen hat, welche im Druck [234] erscheinen; und persönliche Zurückerinnerungen ersetzen nicht selten die Erfindung. Man hat dieser Gattung größere Wichtigkeit dadurch geben wollen, daß man die Poesie, die Geschichte und die Philosophie hinein gemischt hat; allein mir scheint es, als ob man sie dadurch nur entstelle. Moralische Reflexionen und leidenschaftliche Beredsamkeit können in Romanen Platz finden; aber das Interesse der Situationen muß immer das erste Triebrad in Werken dieser Art bleiben, und nichts kann dessen Stelle ersetzen. Ist die theatralische Wirkung die unumgängliche Bedingung jedes ausgeführten Dramas, so kann eben so gewiß ein Roman weder ein gutes Werk, noch eine glückliche Dichtung seyn, wenn er nicht eine lebhafte Neugierde einflößt. Vergeblich würde man diesen Mangel durch geistreiche Digressionen ersetzen wollen, die getäuschte Erwartung der Belustigung würde eine unüberwindliche Langeweile verursachen.

Die große Menge der in Deutschland erschienenen Liebes-Romane hat den Mondschein, die Harfen, welche des Abends im Thale ertönen, und alle die Mittel, wodurch man das Gemüth sonst noch einwiegt, ein wenig lächerlich gemacht; bei dem allen ist in uns eine natürliche Anlage, welche bei dieser leichten Leserei ihre Rechnung findet, und die Sache des Genie's ist es, sich dieser Anlage zu bemächtigen, die man vergeblich bekämpfen würde. E[s] ist so schön, zu lieben und geliebt zu werden, daß dieser Hymnus des Lebens bis ins Unendliche modulirt werden kann, ohne daß das Herz darüber ermattet. Auf gleiche Weise kommt man immer auf einen Gesang zurück, der durch glänzende Noten verschönert ist. Ich mag indeß nicht leugnen, daß selbst die allerreinsten Romane Böses stiften; sie haben uns von den innersten [235] Geheimnissen unseres Herzens allzuviel aufgedeckt; man kann zuletzt nichts mehr fühlen, ohne sich zu erinnern, daß man es bereits gelesen habe, und alle Schleier des Herzens sind zerrissen. Nie würden die Alten ihr Gemüth zum Gegenstand einer Erdichtung gemacht haben: Es blieb ihnen ein Allerheiligstes übrig, in welches mit eigenen Blicken einzudringen sie gefürchtet haben würden. Indeß, wenn einmal die Gattung der Romane gestattet wird, so bedarf es des Interesse; dies ist, wie Cicero von der Aktion des Redners sagt, «die dreimal nöthige Bedingung.»

Die Teutschen sind, wie die Engländer, sehr fruchtbar an Romanen, welche das häusliche Leben mahlen; aber die Sittengemählde sind in den englischen Romanen zierlicher, und mannigfaltiger in den teutschen. Trotz der Unabhängigkeit der Charaktere giebt es in England eine allgemeine Art des Seyns, welche von der guten Gesellschaft gegeben wird. Hiervon findet sich in Teutschland keine Spur. Von den auf unsere Gefühle und unsere Sitten gegründeten Romanen, welche unter den Büchern den Rang der beliebtesten Schauspiele einnehmen, könnten mehrere angeführt werden; allein keiner reicht an den Werther, der in der That nicht seines Gleichen hat. Man sieht, was Göthe's Genie hervorbringen konnte, als es noch von Leidenschaft voll war. Es heißt, daß er auf dieses Werk seiner Jugend wenig Werth lege; jene Gluth der Einbildungskraft, die ihn für den Selbstmord beinahe begeistert hatte, mag ihm jetzt tadelnswerth scheinen. Ist man noch sehr jung und hat die Entwürdigung unseres Wesens noch in nichts begonnen; so erscheint das Grab leicht als ein poetisches Bild, als ein Schlummer, umgeben von knieenden Gestalten, die uns beweinen. Man ist nicht mehr so in der Mitte [236] des Lebens, und man begreift alsdann, warum die Religion, diese Wissenschaft unseres Herzens, das Grausenerregende des Mordes, der gewaltsamen Verfügung über uns selbst, beigemischt hat.

Göthe würde indeß sehr Unrecht haben, wenn er auf das bewundernswürdige Talent, das sich im Werther offenbart, mit Stolz herabsehen wollte. Nicht blos die Leiden der Liebe, sondern auch die Krankheiten der Einbildungskraft in unserem Jahrhundert, hat er darzustellen gewußt: diese Gedanken, die sich in unserem Geiste drängen, ohne daß man sie in Willens-Akte zu verwandeln vermag. Der seltsame Contrast eines Lebens, das bei weitem eintöniger ist, als das der Alten, und einer innern Existens, welche bei weitem belebter ist, verursacht eine Art von Betäubung, gleich der, die man am Rande eines Abgrundes empfindet, und die Ermüdung, die man, nach einer langen Beschauung, in sich wahrnimmt, kann uns leicht zum Herabsturz fortreißen. Göthe hat mit diesem, in seinen Resultaten so philosophischen Gemählde der Unruhen des Gemüths, eine zwar einfache, aber dem Interesse nach wunderbare, Fiktion zu verbinden gewußt. Wenn man in allen Wissenschaften für nöthig erachtet hat, die Augen durch äußerliche Zeichen zu treffen, ist es dann nicht natürlich, das Herz zu gewinnen, um große Gedanken einzuprägen ?

Romane in Briefen setzen immer mehr Empfindung als Thatsachen voraus. Nie würden die Alten auf den Einfall gerathen seyn, ihren Dichtungen diese Form zu geben ; erst seit zwei Jahrhunderten hat sich die Philosophie so bei uns eingeschlichen, daß die Zergliederung dessen, was man empfindet, einen so großen Raum in den Büchern einnimmt. Diese Manier, Romane zu schreiben, [237] ist unstreitig minder poetisch, als die, welche gänzlich in Erzählungen besteht; allein der menschliche Geist ist gegenwärtig bei weitem weniger lüstern nach Begebenheiten, wären sie auch noch so glücklich ersonnen, als nach Bemerkungen über das, was in unseren Herzen vorgeht.

Diese Hinneigung hängt mit den großen intellectuellen Veränderungen zusammen, welche in dem Menschen Statt gefunden haben. Im Allgemeinen strebt er immer mehr dahin, sich in sich selbst zurückzuziehen. Im Innersten seines Wesens sucht er die Religion, die Liebe und den Gedanken.

Mehrere deutsche Schriftsteller haben Gespenster- und Hexengeschichten gefordert, und glauben, es sey mehr Talent in Erfindungen dieser Art, als in einem Roman, der auf einen Umstand des gemeinen Lebens gegründet ist. Dieß alles ist recht hübsch, wenn man durch natürliche Anlagen dazu bewogen wird. Indeß, zum Vortrag des Wunderbaren werden Verse erfordert, indem die Prosa dazu nicht ausreicht. Stellen die Erdichtungen Jahrhunderte und Länder dar, welche von denen, worin wir leben, sehr verschieden sind, so muß der Zauber der Poesie das Vergnügen ergänzen, welches die Ähnlichkeit mit uns gewähren würde. Die Poesie ist der beflügelte Vermit[t]ler, welcher vergangene Zeiten und fremde Nationen in eine erhabene Region versetzt, wo die Bewunderung die Stelle der Sympathie vertritt.

Ritter-Romane giebt es in Deutschland in großer Fülle. Allein man hätte sie gewissenhafter an die alten Traditionen anknüpfen sollen. Jetzt erst fängt man an, diese kostbaren Quellen aufzusuchen, und in einem Buche, das Buch der Helden genannt, hat man viele Abentheuer, mit Kraft und Einfalt erzählt, gefunden. Die Farbe [238] dieses Stils und diese alten Sitten beizubehalten ist von großer Wichtigkeit; denn sonst verlängert man durch die Zergliederung der Empfindungen, die Erzählungen jener Zeiten, wo Ehre und Liebe auf das menschliche Herz gerade so wirkten, wie das Schicksal bei den Alten d. h. ohne daß man über die Bewegungsgründe seiner Handlungen nachdachte, und ohne daß eine Ungewißheit gestattet war.

Die philosophischen Romane haben seit einiger Zeit bei den Deutschen allen übrigen den Rang abgelaufen. Sie haben indeß keine Aehnlichkeit mit den französischen in dieser Gattung. Das heißt: sie sind nicht, wie in Voltaire, eine allgemeine Idee, die man durch ein Factum in Form eines Apologs ausspricht, sondern ein ganz unpartheiisches Gemälde des menschlichen Lebens; ein Gemälde, in welchem kein leidenschaftliches Interesse vorherrscht. Verschiedene Situationen folgen sich in allen Rangordnungen, in allen Ständen und in allen Umständen, und der Schriftsteller ist da, um sie zu erzählen. So hat Göthe seinen Wilhelm Meister gedacht; ein Werk, das in Deutschland sehr geschätzt wird, sonst aber wenig bekannt ist.

Wilhelm Meister ist voll von scharfsinnigen und geistreichen Erörterungen; man könnte daraus ein philosophisches Werk vom ersten Range machen, wenn sich nicht eine Roman-Intrigue einmischte, deren Anziehungskraft nicht aufwiegt, was darüber verloren geht. Man findet darin sehr feine und sehr umständliche Schilderungen von einer gewissen Classe der Gesellschaft, die in Deutschland weit zahlreicher ist, als in allen andern Ländern; eine Classe, in welcher sich Künstler, Schauspieler und Abentheurer mit Bürgern, die ein unabhängiges Leben [239] lieben, und mit großen Herren, welche die Künste zu beschützen glauben, vermischen. Besonders betrachtet, ist jedes dieser Gemälde bezaubernd; aber in dem Ganzen des Werks giebt es kein anderes Interesse, als das, die Meinung Göthe's über jeden Gegenstand zu erfahren. Der Held seines Romans ist ein überlästiger Dritter, den er, man weiß nicht warum, zwischen seinen Lesern und sich gestellt hat.

Eine reizende Episode windet sich mitten durch diese Personen hindurch, die geistreicher sind als bedeutend, dieser Situationen, die weniger hervorstechend als natürlich sind, und vereinigt in sich, öfters im Buche wiederkehrend, alles Interesse, das nur Göthes Talent, durch Wärme und Eigenthümlichkeit, hervorzubringen vermag. Ein junges italienisches Mädchen ist ein Kind der Liebe, einer furchtbar verbrecherischen Liebe die einen Mann hingerissen hat, den seine Schwüre zum Dienste Gottes geweiht haben. Nach ihrer Ehe entdecken die schon so sehr strafbaren Gatten, daß sie Geschwister sind, und Blutschande ist für sie die Strafe des Meineides. Wahnsinn befällt die Mutter, und der Vater durchirrt die Welt als ein Elender, der nirgends einen Zufluchtsort begehrt. Seiltänzer entführen die unglückliche Frucht dieser verderblichen Liebe, die von ihrer Geburt an schutzlos war, und unterweisen sie bis ins zehnte Jahr in den elenden Spielen, womit sie ihre Nahrung erwerben. Gerührt von den Mißhandlungen, die das Mädchen erduldet, nimmt sie Wilhelm in den Knabenkleidern, die sie immer getragen hat, in seinen Dienst, und nun entfaltet sich in diesem außerordentlichen Wesen eine wundersame Mischung von Kindlichkeit und Tiefe, von Ernst und Phantasie. Leidenschaftlich, wie die Italienerinnen, [240] schweigsam und ausharrend wie nachdenkliche Charaktere, scheinet das Wort nicht ihre Sprache zu seyn. Die wenigen Worte, die sie dennoch redet, sind feierlich, und entsprechen Gefühlen, die viel gewaltiger sind als ihr Alter und deren Geheimniß sie selber nicht besitzt. Sie hängt an Wilhelm mit Liebe und Ehrfurcht, sie dient ihm wie ein treuer Knecht, und liebt ihn, wie ein leidenschaftliches Weib. Es scheint, daß sie, in ihrem stets unglücklichen Leben, die Kindheit nie gekannt hat, und daß ihre Leiden im natürlichen Alter der Freude ihr Daseyn einem einzigen Gefühle widmen, in welchem das Schlagen ihres Herzens anhebt und aufhört.

Mignon ist geheimnißvoll wie ein Traum, sie ergießt ihre Sehnsucht nach Italien in entzückende Verse, die Jedermann in Deutschland auswendig weiß. «Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?» Endlich zerbricht die Eifersucht, ein für dies so zarte Wesen zu gewaltiges Gefühl, das arme Kind, gegen welches der Schmerz ankämpfte, bevor es mit Alter und Kraft dawider zu ringen gerüstet war. Man müßte jeglichen Zug dieses unvergleichlichen Bildes wiedergeben, um den ganzen Eindruck, den es hervorbringt, verständlich zu machen. Man kann sich nicht ohne Rührung die geringsten Bewegungen dieses jungen Mädchens denken. In ihr liegt, ich weiß nicht, welcher Zauber der Einfalt, der Abgründe des Gedankens und des Gefühles ahnden läßt. Es ist, als höre man in der Tiefe ihrer Seele den Sturm erbrausen, selbst da, wo kein Wort, kein Wink, der unaussprechlichen Bangigkeit, die wir um sie fühlen, Grund zu geben scheint.

Man bemerkt in Wilhelm Meister, dieser herrlichen Episode ungeachtet, das seltsame System, [241] das sich seit einiger Zeit in der neuen deutschen Schule entwickelt hat. Die Erzählungen der Alten und selbst ihre Gedichte, wie belebt sie auch in ihrem Wesen sind, sind ruhig in der Form, und man hat sich eingeredet, die Neuern würden wohl thun, die Ruhe der Alten nachzuahmen. Aber was die Theorie in Werken der Phantasie gebietet, gelingt nicht leicht in der Ausübung. Ereignisse, wie die der Ilias, vermögen durch sich selbst zu fesseln, und das Bild wirkt um so mächtiger, als die eigene Empfindung des Verfassers weniger durchblickt. Versucht man aber die Ereignisse eines Romans mit der unpartheiischen Ruhe Homers aufzuzeichnen, so kann man keine hinreißende Wirkung hervorbringen.

Dieser Fehler ist, wie mich dünkt, in den Wahlverwandtschaften, einem Roman, den Göthe vor kurzem herausgegeben hat, zu rügen. Glückliche Gatten haben sich aufs Land zurückgezogen; der Freund des Mannes und die Nichte der Frau, werden ihre Einsamkeit mit ihnen zu theilen eingeladen. Der Freund verliebt sich in die Frau, und der Mann in das junge Mädchen. – Dieser faßt den Gedanken, seine Ehe trennen zu lassen, um sich mit der Geliebten zu verbinden, und das Mädchen ist bereit, in diesen Plan einzuwilligen. Unglückliche Ereignisse bringen sie zu dem Gefühle der Pflicht zurück, sobald sie aber die Nothwendigkeit erkennt, ihre Liebe aufzuopfern, tödtet sie der Schmerz, und der Geliebte folget ihr bald nach.

Die Uebersetzung der Wahlverwandtschaften hat in Frankreich kein Glück gemacht, weil sich diese Dichtung im Ganzen nicht scharf ausspricht, und man ihren Zweck nicht erkennt. Diese Ungewißheit ist in Deutschland kein Tadel. Da die Ereignisse der wirklichen Welt öfters nur schwankende Resultate darbieten, läßt man sich in den [242] Romanen, die sie schildern, dieselben Widersprüche und Zweifel gefallen. Man findet zwar in diesem Werke eine Menge Gedanken und scharfsinnige Beobachtungen, aber das Interesse stockt oft, und man findet im Romane fast so viele Lücken als im gemeinen Leben des Menschen selbst. Doch darf ein Roman nicht Memoiren gleichen; alles fesselt in dem, was wirklich da gewesen, aber Dichtung kann nur wie Wahrheit wirken, indem sie die Wahrheit übertrifft; indem sie nehmlich mehr Kraft, mehr Einheit, mehr Handlung, als die Wirklichkeit darlegt.

Die Beschreibung des Gartens des Barons und der von der Baronin darin gemachten Verschönerungen nimmt mehr als ein Drittheil des Buches ein, und man geht mit Mühe von da aus, um sich dem tragischen Eindruck der Catastrophe hinzugeben. Der Untergang der Helden der Geschichte erscheint nur als ein zufälliges Ereigniß, weil man nicht lange vorher im Herzen vorbereitet ist, ihr Leid mit zu empfinden. Dieses Werk bietet eine seltsame Mischung des gemächlichen Lebens und der stürmischen Gefühle dar. Mit Schönheitssinn und Kraft schreitet der Dichter der größten Wirkung entgegen, und wendet sich plötzlich davon ab, als wäre es der Mühe nicht werth, sie hervorzubringen. Man sollte denken, daß ihm die Rührung schmerzlich sey, und daß er aus Trägheit des Herzens die Hälfte seines Talents unterdrücke, aus Furcht, sich selber wehe zu thun, indem er die anderen erweicht.

Eine wichtigere Frage betrifft die Moralität dieses Werkes. Ist nehmlich der Eindruck, den es zurückläßt, der Vervollkommnung der Seele förderlich? In dieser Hinsicht kommen die Ereignisse und der Ausgang einer Dichtung in keinen Betracht. Es ist zu bekannt, daß sie in der Willkühr des Dichters stehen, als daß sie Jemandes Gewissen erwecken könnten. Die Moralität eines Romans [243] liegt also bloß in den Empfindungen, die er erregt. Es ist nicht zu leugnen, daß in Göthes Werk eine tiefe Kenntniß des menschlichen Herzens dargelegt wird, sie ist aber von einer niederschlagenden Art. In dieser Darstellung erscheint das Leben als ziemlich gleichgültig, wie man es eben hinbringt, düster dem, der es ergründen will, dem angenehm, der ihm ausweicht, und manchen moralischen Krankheiten unterworfen, die man, wenn es seyn kann, heilen, wo nicht, daran untergehen muß. Leidenschaften sind da, Tugenden sind da, es wollen welche behaupten, man solle die einen durch die andern bekämpfen, und wieder andere versichern, es sey unthunlich. Seht und richtet, scheint der Verfasser zu sagen, der partheilos die Gründe aufzeichnet, die das Loos bald für und bald wider jede Ansicht an die Hand giebt.

Man denke sich aber keinesweges, daß diese Zweifelsucht von der materialistischen Tendenz des achtzehnten Jahrhunderts herrühre: Göthes Ansichten sind ungleich tiefer, nicht aber tröstender für die Seele. Man erkennt in seinen Schriften eine verschmähende Philosophie, die dem Guten wie dem Bösen sagt: es soll seyn, weil es ist, und einen außerordentlichen Geist, der alle übrigen Gaben überragt, und selbst des Talents überdrüßig wird, weil es ihm zu partheiisch dünkt. Was endlich diesem Romane vorzüglich fehlt, ist ein festes und bestimmtes religiöses Gefühl. Die Hauptpersonen geben sich mehr dem Aberglauben als dem Glauben hin, und man erkennt, daß in ihrem Herzen die Religion, so wie die Liebe, nur die Furcht der Umstände sind und gleichem Wechsel mit ihnen unterworfen.

Der Verfasser zeigt sich im Gange dieses Werkes zu unbestimmt. Die Figuren, die er zeichnet, [244] und die Meinungen, die er andeutet, lassen in der Erinnerung nur schwankende Spuren zurück. Man muß es gestehen, zuweilen wird durch vieles Denken in unserer tiefsten Seele alles erschüttert, aber ein Mann von Genie, wie Göthe, soll seinen Bewunderern zu einem Führer werden, zu einer sicheren Fahne. Es ist für ihn nicht mehr an der Zeit, zu zweifeln, nicht in beide Schaalen der Wage scharfsinnige Gedanken zu legen, er muß sich dem Zutrauen, der Begeisterung hingeben, der Bewunderung, die die ewige Jugend der Seele fortdauernd in uns selbst bewahren kann. Das ist der goldene Zweig, der nicht welkt, und der Sybille den Eingang der elysäischen Felder zusichert.

Tiek verdient in mehreren Dichtungsarten angeführt zu werden, er ist Verfasser eines Romans, der für den Leser bezaubernd ist. Die Ereignisse sind im Sternbald in geringer Anzahl und nicht einmal bis zur Auflösung geführt, doch kann man wohl nirgends eine reizendere Schilderung des Künstlerlebens finden. Der Dichter versetzt seinen Helden in die schöne Zeit der Künste, und macht ihn zum Schüler Albrecht Dürers und Zeitgenossen Raphaels. Er läßt ihn durch verschiedene Länder Europa's reisen, und malt mit einem unbekannten Zauber die Lust, die der an äußerlichen Gegenständen finden muß, welcher keinem Lande, keinem Verhältniß ausschließlich angehört, und frei durch die Natur wandelt, um in ihr Begeisterung und Vorbilder zu suchen. Dieses wandelnde und zugleich träumerische Leben kann nur in Deutschland ganz empfunden werden. Wir beschreiben immer in unsern Romanen die Sitten und geselligen Verhältnisse; aber in dieser Phantasie, die über die Erde, die sie durchstreift, erhaben schwebt, und nicht in das wirkliche Interesse der Welt eingeht, liegt ein großes Geheimniß des Glückes. [245]

Fast immer verweigert das Schicksal den armen Sterblichen ein glückliches Loos, und Verhältnisse und Umstände, die sich nach ihren Wünschen fügen; doch ist ihnen mehrstens der Augenblick hold, und die Gegenwart, wenn man sie von der Erinnerung und von der Ahndung befreien kann, ist immer noch die beste Zeit des Menschen. In diesem Genusse des Augenblickes, der das Leben des Künstlers ausmacht, liegt also eine sehr weise, poetische Philosophie. Die neuen Prospekte der Landschaft und die Beleuchtung, die sie verherrlicht, sind flüchtige Begebenheiten für ihn, die mit Vergangenheit und Zukunft nichts zu theilen haben. Die Regungen des Herzens entfremden uns dem Bilde der Natur und man erstaunt, indem man Tieks Roman liest, über alle Wunder, die uns ungeahndet umringen.

Mehrere der Gedichte, die der Verfasser der Geschichte eingeflochten hat, sind wahre Meisterwerke. Verse, einem französischen Roman beigemischt, unterbrechen in der Regel das Interesse, und zerstören die Harmonie des Ganzen. Nicht also im Sternbald. Es ist an sich eine so poetische Dichtung, daß die Prosa darin wie ein Recitativ erscheint, das dem Gesang folgt oder ihn vorbereitet. Ein Gedicht über die Rückkehr des Frühlings ist berauschend, wie die Natur selbst in dieser Jahreszeit. Tausendgestaltig wird die Kindheit dargestellt. – Der Mensch, die Pflanzen, die Erde, der Himmel, alles so jung, so reich an Hoffnung; – man sollte meinen, daß der Dichter die ersten schönen Tage und die ersten Blumen besinget, welche die neuerschaffene Erde schmückten.

Die französische Literatur hat mehrere komische Romane aufzuweisen, unter welchen Gil Blas einer der ausgezeichnetsten ist. – Ich glaube nicht, daß die Deutschen ihm ein Werk entgegen zu setzen [246] hätten, wo mit gleichem Witze und gleicher Laune über die Dinge des Lebens gescherzt werde. Sie haben kaum eine wirkliche Welt, wie könnten sie schon mit derselben ihr Spiel treiben? Der ernste Witz, der nichts bespottet, belustigt, ohne es zu wollen, und, ohne selbst zu lachen, Lachen erregt, was mit einem Wort die Engländer humour nennen, ist auch in mehreren deutschen Schriften einheimisch, welche aber zu übersetzen unmöglich ist. – Wenn der Witz im glücklich durchgeführten Ausdruck eines philosophischen Gedankens liegt, wie im Gulliver von Swift, so läßt er sich ungefährdet in eine andere Sprache übertragen; aber der Tristram Shandy von Sterne verliert im Französischen fast alle Anmuth. Der Witz, der in den Formen der Sprache beruht, sagt vielleicht ungleich mehr zu, als die Gedanken; und dennoch läßt sich die so lebhafte Wirkung von so zarten Mitteln auf Fremde keinesweges übertragen.

Claudius zeichnet sich unter den deutschen Schriftstellern durch jenen Nationalwitz aus, der einen ausschließlichen Erbtheil jeglicher Literatur bildet. Er hat eine Sammlung einzelner kleiner Schriften verschiedenen Inhalts herausgegeben, unter welchen einige von schlechtem Geschmack und andere unbedeutend sind; aber die Eigenthümlichkeit und die Wahrheit, die darinnen herrscht, verleihen den geringfügigsten Dingen Reiz. Er weiß mit einer anscheinend einfachen und manchmal sogar gemeinen Schreibart, durch Aufrichtigkeit des Gefühls bis ins tiefste Herz zu dringen. Er bewegt zu Thränen, wie zum Lachen, weil er Mitgefühl erregt, und uns an dem, was er selbst empfindet, einen Bruder und Freund zu erkennen giebt. Von Claudius Schriften läßt sich kein Auszug geben, sein Talent wirkt unmittelbar wie Gefühl, und man muß ihn selbst empfunden haben, um darüber sprechen [247] zu können. Er gleicht den Malern der flamändischen Schule, die sich manchmal bis zur Darstellung des Höchsten in der Natur erheben, oder dem Spanier Murillos, der Bettler und Zigeuner mit einer vollkommenen Wahrheit malt, aber ihnen oft, ohne es selbst zu wissen, Züge von edlem und tiefem Ausdruck beimißt. Um mit Glück das Komische mit dem Pathetischen zu vermischen, muß man sich in beidem mit gleich außerordentlicher Natürlichkeit bewegen können. Sobald das Erzwungene durchblickt, zerfällt jeder Gegensatz in seine feindlichen Bestandtheile. Aber ein ausgezeichnetes, mit vieler Gutmüthigkeit ausgestattetes, Talent kann glücklich verbinden, was nur auf den Zügen des Kindes reitzend ist: Lächeln und Thränen.

Ein anderer Schriftsteller, neuer und berühmter als Claudius, hat sich durch Schriften, die man Romane nennen würde, wenn überhaupt eine bekannte Benennung so seltsamen Geistesprodukten anzueignen wäre, einen großen Ruf in Deutschland erworben. Jean Paul Richter besitzt unstreitig mehr Geist, als erfordert wird, ein Werk zu schreiben, welches Ausländer und Deutsche in gleichem Grad ergreifen könnte, und dennoch vermag nichts von dem, was er geliefert, die Gränzen der deutschen Zunge zu überschreiten. Seine Bewunderer werden dies der Eigenthümlichkeit seines Genius selbst zuschreiben; mir scheint es sowohl von seinen Mängeln als von seinen Vorzügen herzurühren. Man muß sich in unsern neueren Zeiten auf einen europäischen Standpunkt erheben. Die Deutschen begünstigen zu sehr in ihren Schriftstellern jene ausschweifende Kühnheit, die, wie verwegen sie sonst scheinen mag, nicht immer ungesucht und ungekünstelt ist. Die Frau von Lambert sagte zu ihrem Sohn: «mein lieber Sohn, erlaube Dir keine anderen tollen Streiche, als die, an welchen Du eine [248] gar große Freude finden wirst.» Man möchte Jean Paul bitten, seltsam nur da zu seyn, wo er es eben seyn müßte. Alles, was willenlos gesagt wird, entspricht immer irgend einer Natur; wenn aber, durch Anspruch auf Eigenthümlichkeit, die angeborne Eigenthümlichkeit verderbt wird, kann der Leser selbst das Aufrichtige nicht ganz genießen, weil er vor dem Falschen auf seiner Hut ist.

Man findet jedoch in Jean Pauls Schriften bewundernswürdige Schönheiten, der Entwurf aber und der Rahmen seiner Gemälde sind so fehlerhaft, daß die lichtesten Strahlen des Genies sich darin wie in einem Chaos verlieren. Jean Pauls Werke müssen unter dem doppelten Gesichtspunkt des Ernstes und des Scherzes betrachtet werden, denn er vermengt fortwährend beide. Er legt mit Scharfsinn und Laune seine Beobachtungen des menschlichen Herzens dar, doch kennt er es mehrstens nur, wie es sich aus dem Standpunkt der kleinen Städte Deutschlands beurtheilen läßt, und seine Sittengemälde haben oft zu viel Unschuld für unsere Zeit. Aeußerst feine, ja fast kleinliche Bemerkungen über die moralischen Regungen, erinnern etwas an jenen Feinohr der Feenmärchen, der das Gras wachsen hörte. In dieser Hinsicht hat wohl Sterne einige Verwandtschaft mit Jean Paul; doch wenn er ihm im ernsten und poetischen Theile seiner Schriften nachsteht, ist er ihm an Geschmack und Schönheitssinn im Scherze überlegen, und man sieht, daß er in einer Gesellschaft gelebt hat, deren Verhältnisse ausgebreiteter und glänzender waren.

Man könnte aus Jean Pauls Schriften eine sehr merkwürdige Sammlung von Gedanken ausziehen. Wenn man ihn aber liest, fällt seine wunderliche Gewohnheit auf, aus allerlei alten, vergessenen und wissenschaftlichen Büchern, Bilder und [249] Anspielungen zu entlehnen; was er auf die Weise zusammenstellt, ist gewöhnlich sehr sinnreich, wo aber, um in einen Scherz einzugehen, Aufmerksamkeit und Nachdenken erfordert wird, da möchten nicht leicht andere als die Deutschen geneigt seyn, auf dem Weg des Studiums zum Lachen zu gelangen, und sich mit gleicher Anstrengung belustigen als belehren zu lassen.

Bei dem allen liegt in diesen Schriften ein Schatz von neuen Ansichten und Gedanken, der den, welchem es gelingt, ihn herauszugraben, ungemein bereichert; doch hat der Verfasser dieses Gold zu prägen vernachlässigt. Der Scherz entspringt bei den Franzosen aus dem Geiste der Unterhaltung, bei den Italienern aus der Phantasie, bei den Engländern aus der Eigenthümlichkeit des Characters. Der Scherz der Deutschen ist philosophisch, sie scherzen mehr mit den Dingen und mit den Büchern als mit ihren Mitmenschen, sie hegen zusammengehäuft in ihrem Geiste eine Welt von Kenntnissen, welche eine unabhängige und launische Einbildungskraft auf tausendfältige Weise unter sich verbindet, bald eigenthümlich, bald verworren, doch zeigt sich Stärke des Geistes und der Seele überall in diesen Spielen.

Jean Paul hat öfters Aehnlichkeit mit Montaigne in der Wendung des Geistes. Die ältern Franzosen überhaupt nähern sich den Deutschen mehr als die Schriftsteller des Jahrhunderts Ludwigs des Vierzehnten, weil die französische Literatur eben erst zu dieser Zeit ihre klassische Richtung angenommen hat.

Jean Paul ist öfters von großer Erhabenheit im ernsten Theile seiner Werke, doch erschüttert uns auch manchmal die fortwährende Schwermuth seiner Schreibart bis zur Ermattung. Wenn uns die Phantasie zu lange in Unbestimmtheit wieget, verwirren [250] sich zuletzt ihre Farben vor unserm Blick, die Umrisse verschwinden, und uns bleibt anstatt einer Erinnerung nur ein Nachhall zurück. Die Empfindsamkeit Jean Pauls rührt zwar, stärkt aber nicht genugsam die Seele. Die Poesie seiner Schreibart gleicht den Tönen der Harmonica, die Anfangs entzücken, aber nach kurzer Zeit peinlich werden, weil ihrem erschütternden Reiz kein bestimmtet Gegenstand entspringt. Man leistet den frostigen, dürren Gemüthern zu viel Vorschub, wenn man ihnen das Gefühl als eine Krankheil darstellt, indem es unter den moralischen Gaben die mächtigste ist, die zugleich die Begierde und die Kraft geben kann, sich für Andere aufzuopfern.

In Jean Pauls Romanen scheint öfters die Hauptgeschichte nur ein schwacher Vorwand zu seyn, Episoden an einander zu reihen. Ich werde drei von diesen Episoden rührender Art, ohne Wahl, und wie sie mir der Zufall darbietet, hier anführen, damit man daraus auf das übrige schließen könne. – Ein englischer Lord verliert beide Augen durch den Staar, er läßt sich ihn an einem Auge stechen, und die mißglückte Operation macht es unwiederbringlich blind. – Sein Sohn, ohne es ihm zu sagen, studiert bei einem Augenarzt, und wird nach einem Jahre fähig erfunden, das Auge, das dem Vater noch gerettet werden kann, selbst zu operiren. – Der Lord, der fremden Händen sich anzuvertrauen glaubt, unterzieht sich mit Standhaftigkeit der Prüfung, die entscheiden soll, ob er seine übrigen Tage in hoffnungsloser Blindheit zubringen wird. Er will sogar, daß sein Sohn aus dem Zimmer entfernt werde, damit ihn nicht die furchtbare Entscheidung zu sehr erschüttre. Stillschweigends naht der Sohn, ihm zittert nicht die Hand; der Moment ist zu gewaltig für die Merkmale gewöhnlicher Rührung. – Seine ganze Seele zieht sich in [251] einem einzigen Gedanken zusammen; und selbst die Größe seiner Zärtlichkeit giebt ihm eine übernatürliche Gegenwart des Geistes, auf die Wahnsinn folgen würde, wenn alle Hoffnung verloren wäre. Die Operation fällt glücklich aus, und beim ersten Strahl des wieder gewonnenen Lichtes erblickt der Vater den wohlthätigen Stahl in der Hand des eigenen Sohnes.

In einem anderen Roman desselben Verfassers findet sich ein gleichfalls sehr rührendes Bild. Ein blinder Jüngling begehrt, daß man ihm den Untergang der Sonne beschreibe, deren milder und reiner Strahl ihm als ein scheidender Freund erscheint. Der, den er befragt, erzählt ihm die Natur in ihrer ganzen Pracht, doch giebt er seiner Schilderung einen melankolischen Anklang, der dem Unglücklichen, vom Lichte beraubten, zum Troste gereichen muß. Er bezieht sich fortdauernd auf die Gottheit als auf die lebendige Quelle aller Wunder der Welt, führet alles auf das geistige Sehen zurück, welches auch dem Blinden, und vielleicht in höherem Maße, als selbst uns zum Theil ward, und läßt ihn so in der Seele anschauen, was seinen verschlossenen Augen entrückt ist. Ich werde endlich noch ein sehr seltsames Fragment mittheilen, welches aber Jean Pauls Geist kenntlich zu machen, dienen kann.

«Der Atheismus,» sagt irgendwo Bayle, dürfte nicht vor der Furcht ewiger Leiden schützen.» Es ist ein großer Gedanke, welcher zu langem Nachdenken Stoff geben kann. Der Traum, den ich hier anführen will, kann betrachtet werden als diesem selben Gedanken Körper und Leben verleihend.

Es gleicht dieses Gesicht in etwas einem Fiebertraum, und will als solcher beurtheilt werden; unter anderer Hinsicht als der der Phantasie, mögte es strenge Rüge verdienen. [252]

«Das Ziel dieser Dichtung,» sagt Jean Paul selbst, «ist die Entschuldigung ihrer Kühnheit. Wenn einmal mein Herz so unglücklich und ausgestorben wäre, daß in ihm alle Gefühle, die das Daseyn Gottes bejahen, zerstört wären: so würd' ich mich mit diesem meinem Aufsatz erschüttern und – er würde mich heilen und mir meine Gefühle wiedergeben. Die Menschen läugnen mit eben so wenig Gefühl das göttliche Daseyn als die meisten es annehmen. Sogar in unsere wahren Systeme sammeln wir immer nur Wörter, Spielmarken und Medaillen ein, wie geizige Münzkabinetter; – und erst spät setzen wir die Worte in Gefühle um, die Münzen in Genüsse. Man kann zwanzig Jahre lang die Unsterblichkeit der Seele glauben – – erst im ein und zwanzigsten, in einer großen Minute, erstaunt man über den reichen Inhalt dieses Glaubens, über die Wärme dieser Naphtaquelle.»

 

 

Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab,

daß kein Gott sey.

 

Wenn man in der Kindheit erzählen hört, daß sich die Todten um Mitternacht, wo unser Schlaf nahe bis an die Seele reicht und selber die Träume verfinstert aus ihrem Aufrichten, und daß sie in den Kirchen den Gottesdienst der Lebendigen nachäffen: so schaudert man der Todten wegen vor dem Tode; und wendet in der nächtlichen Einsamkeit den Blick von den langen Fenstern der stillen Kirche weg und fürchtet sich, ihrem Schillern nachzuforschen, ob es vom Monde niederfalle. Die Kindheit, und noch mehr ihre Schrecken als ihre Entzückungen, nehmen im Traume wieder Flügel und Schimmer an, und spielen wie Johanneswürmchen in der kleinen Nacht der Seele. Zerdrücken uns diese flatternden Funken nicht! – Lasset uns sogar die dunkeln peinlichen Träume als [253] hebende Halbschatten der Wirklichkeit! – Und womit will man uns die Träume ersetzen, die uns aus dem untern Getöse des Wasserfalls wegtragen in die stille Höhe der Kindheit, wo der Strom des Lebens noch in seiner kleinen Ebene schweigend und als ein Spiegel des Himmels seinen Abgründen entgegenzog? – Ich lag einmal an einem Sommerabende vor der Sonne auf einem Berge und entschlief. Da träumte mir, ich erwachte auf dem Gottesacker. Die abrollenden Räder der Thurmuhr, die eilf Uhr schlug, hatten mich erweckt. Ich suchte im ausgeleerten Nachthimmel die Sonne, weil ich glaubte, eine Sonnenfinsterniß verhülle sie mit dem Mond. Alle Gräber waren aufgethan, und die eisernen Thüren des Gebeinhauses gingen unter unsichtbaren Händen auf und zu. An den Mauern flogen Schatten, die niemand warf, und andere Schatten gingen aufrecht in der blassen Luft. In den offnen Särgen schlief nichts mehr als die Kinder. Am Himmel hing in großen Falten blos ein grauer schwüler Nebel, den ein Riesenschatte wie ein Netz immer näher, enger und heisser herein zog. Ueber mir hört' ich den fernen Fall der La[u]winen, unter mir den ersten Tritt eines unermeßlichen Erdbebens. Die Kirche schwankte auf und nieder von zwei unaufhörlichen Mißtönen, die in ihr mit einander kämpften und vergeblich zu einem Wohllaut zusammenfließen wollten. Zuweilen hüpfte an ihren Fenstern ein grauer Schimmer hinan und unter dem Schimmer lief das Blei und Eisen zerschmolzen nieder. Das Netz des Nebels und die schwankende Erde rückten mich in den fürchterlichen Tempel, vor dessen Thore in zwei Gift-Hecken zwei Basilisken funkelnd brüteten. Ich ging durch unbekannte Schatten, denen alte Jahrhunderte aufgedruckt waren. – Alle Schatten standen um den [254] leeren Altar, und allen zitterte und schlug statt des Herzens die Brust. Nur ein Todter, der erst in die Kirche begraben worden, lag noch auf seinem Kissen ohne eine zitternde Brust, und auf seinem lächelnden Angesicht stand ein glücklicher Traum. Aber da ein lebendiger hinein trat, erwachte er und lächelte nicht mehr, er schlug mühsam ziehend das schwere Augenlied auf, aber innen lag kein Auge und in der schlagenden Brust war statt des Herzens eine Wunde. Er hob die Hände empor und faltete sie zu einem Gebet; aber die Arme verlängerten sich und löseten sich ab, und die Hände fielen gefaltet hinweg. Oben am Kirchengewölbe stand das Zifferblatt der Ewigkeit, auf dem keine Zahl erschien und das sein eigner Zeiger war; aber ein schwarzer Finger zeigte darauf und die Todten wollten die Zeit darauf sehen.

Jetzt sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder und alle Todte riefen: «Christus! ist kein Gott?»

Er antwortete: «es ist keiner.»

Der ganze Schatten eines jeden Todten erbebte, nicht blos die Brust allein, und einer um den andern, wurde durch das Zittern zertrennt.

Christus fuhr fort: «Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, so weit das Seyn seinen Schatten wirft und schauete in den Abgrund und rief: Vater, wo bist du; aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach [255] dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren schwarzen bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos, zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten: denn Er ist nicht!»

Die entfärbten Schatten zerflatterten, wie weißer Dunst, den der Frost gestaltet, im warmen Hauch zerrinnt; und alles wurde leer. O da kamen, schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder, die im Gottesacker erwacht waren, in den Tempel, und warfen sich vor die hohe Gestalt am Altare und sagten: «Jesus! haben wir keinen Vater?» – Und er antwortete mit strömenden Thränen: «wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.»

Da kreischten die Mißtöne heftiger – die zitternden Tempelmauern rückten auseinander – und der Tempel und die Kinder sanken unter – und die ganze Erde und die Sonne sanken nach – und das ganze Weltgebäude sank mit seiner Unermeßlichkeit vor uns vorbei. – u. s. w.

 

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Ich werde diesem Traum keine Betrachtungen hinzufügen. Seine Wirkung auf die Leser hängt einzig von der Wendung ihrer Einbildungskraft ab; mich hat der düstere Geist, der darinnen herrscht, ergriffen, und es schien mir schön, die furchtbare Schrecken, welche die ihres Gottes beraubte Creatur ergreifen müssen, also jenseits des Grabes hinaus zu setzen.

Man würde kein Ende finden, wenn man die geistreichen und rührenden Romane ohne Zahl, welche die deutsche Literatur besitzt, einzeln recensiren wollte. Lafontaine's Romane insbesondere, welche alle Welt mit so großem Vergnügen, wenigstens einmal, durchliest, ziehen gemeiniglich mehr durch den Reiz der Details an, als durch den [256] Plan der ihnen zum Grunde liegt. Reines Erfinden wird mit jedem Tage seltener, und es ist überdem nicht leicht, daß Romane, die die Sitten schildern, in verschiedenen Ländern gleichen Beifall finden. Der große Vorzug, den man demnach aus dem Studium der deutschen Literatur für die eigene ziehen kann, ist der Antrieb zum Wetteifer. Man muß Kraft zu eignen Dichtungen daraus zu schöpfen suchen, nicht fertige Werke, um sie geradezu zu übertragen.