BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Zweiter Theil. II. Abtheilung.

 

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Neun und zwanzigstes Capitel.

 

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Von den deutschen Geschichtschreibern und von

Johannes von Müller insbesondere.

 

In der Literatur ist die Geschichte das, was der Kenntniß der öffentlichen Angelegenheiten am nächsten tritt. Ein großer Geschicht­schreiber ist beinahe ein Staatsmann; denn es ist sehr schwer über politische Begebenheiten richtig zu urtheilen, ohne, bis zu einem gewissen Punkte, die Fähigkeit zu besitzen, vermöge welcher sie geleitet werden; auch sieht man, daß die meisten Geschichtschreiber sich mit der Regierung ihres Landes auf gleicher Höhe befinden, und nur so schreiben, wie sie handeln könnten. Von allen Geschichtschreibern sind die des Alterthums die ersten, weil es keine Epoche giebt, wo Männer von großem Talent ein entschiedeneres Uebergewicht über ihr Vaterland ausgeübt hätten. Den zweiten Rang behaupten die englischen Geschichtschreiber; in England ist es bei weitem mehr die Nation, als der einzelne Mann, was Größe hat; auch sind die Geschichtschreiber dieses Landes zwar minder dramatisch, aber philosophischer, als die Alten. Bei den Engländern haben allgemeine Ideen größere Wichtigkeit, als Individuen. Unter Italiens Geschichtschreibern ist Macchiavelli der Einzige, der die Begebenheiten seines Vaterlandes auf [257] eine allgemeine, wenn gleich fürchterliche Weise betrachtet hat; alle übrigen haben die Welt in ihrer Stadt gesehen; ein Patriotismus, der, wie beengt et auch seyn mag, den Schriften der Italiener noch Interesse und Leben giebt – 1) . Zu allen Zeiten hat man bemerkt, daß in Frankreich die Denkwürdigkeiten (Memoires) gewichtiger waren, als die Geschichtswerke; die Intriguen der Höfe entschieden das Schicksal des Königreichs, es war also sehr natürlich, daß in einem solchen Lande besondere Anekdoten das Geheimniß der Geschichte in sich schlossen.

Aus dem literärischen Gesichtspunkt muß man die deutschen Historiker betrachten. Die politische Existenz des Landes hat bis jetzt noch nicht hinlängliche Kraft gehabt, um den Schriftstellern in dieser Gattung einen National-Charakter zu geben. Das eigenthümliche Talent des Einzelnen und die allgemeinen Principe der Kunst, die Geschichte zu schreiben, haben auf die Produktionen des menschlichen Geistes in diesem Fache allein Einfluß gehabt. Wie mir scheint, kann man die verschiedenen historischen Schriften in Deutschland in drei Hauptklassen theilen, nämlich in die gelehrte Geschichte, in die philosophische Geschichte und in die klassische Geschichte, sofern der Sinn dieses Ausdrucks sich auf die Kunst zu erzählen beschränkt, sowie die Alten ihn gefaßt haben.

Deutschland hat einen Ueberfluß an gelehrten Historikern, wie Mascow, Schöpflin, Schlözer, Gatterer, Schmidt u. s. w. Sie haben unermeßliche Nachforschungen angestellt und nur Werke geliefert, worin sich für den, der zu studiren versteht, alles befindet. Aber dergleichen Schriftsteller [258] sind nur zum Nachschlagen, und ihre Arbeiten würden vor allen die schätzbarsten und großmüthigsten seyn, wenn sie nie einen anderen Zweck gehabt hätten, als Männern von Genie, welche die Geschichte schreiben wollen, Mühe zu ersparen.

Schiller steht an der Spitze der philosophischen Geschichtschreiber, d. h. derjenigen, welche die Facta wie Raisonnements zur Unterstützung ihrer Meinungen betrachten. Die Revolution (der Abfall) der Niederlande lieset sich wie eine gerichtliche Rede voll Interesse und Wärme. Der dreißigjährige Krieg ist eine von den Epochen, wo die deutsche Nation die meiste Energie bewiesen hat. Schiller hat die Geschichte desselben mit einem Gefühl von Patriotismus und von Liebe für Aufklärung und Freiheit geschrieben, welche seinem Herzen eben so viel Ehre bringen, wie seinem Genie. Die Züge, wodurch er die Hauptpersonen charakterisirt, verrathen eine erstaunliche Ueberlegenheit, und alle seine Reflexionen gehen aus der Andacht eines großen Gemüths hervor. Indeß beschuldigen die Deutschen den Geschichtschreiber, die Thatsachen nicht in ihren Quellen studirt zu haben; er konnte nicht allen Bahnen, für welche seine seltenen Talente ihn beriefen, genügen, und seine Geschichte ist nicht auf ausgebreitete Gelehrsamkeit gegründet. Die Deutschen, wie ich zu sagen schon öfter Gelegenheit gefunden habe, die Deutschen haben zuerst gefühlt, welchen Vortheil die Einbildungskraft von der Gelehrsamkeit ziehen kann; die einzelnen Umstände geben allein der Geschichte Farbe und Leben; auf der Oberfläche der Erkenntnisse findet man nur einen Vorwand für Raisonnement und Witz.

Schillers Geschichte ist in der Epoche des achtzehnten Jahrhunderts geschrieben, wo man aus allem Waffen schmiedete, und sein Styl schmeckt ein wenig nach der Polemik, welche damals in den meisten Schriften herrschte. Allein wenn der Zweck, den man sich setzet, Duldung und Freiheit ist, und wenn man diesem Zweck durch so edle Mittel und [259] Gefühle entgegenstrebt, wie Schiller; so schreibt man selbst dann noch ein schönes Werk, wenn in dem Theile, der den Thatsachen und den Reflexionen gewidmet ist, das Eine und das Andere vermißt werden sollte 2) .

Vermöge eines seltsamen Contrastes ist Schiller, der große dramatische Schriftsteller, unter den Geschichtschreibern der, welcher vielleicht allzu viel Philosophie und folglich zu viel allgemeine Ideen in seine Erzählungen verwebt hat; und wiederum Müller, der Gelehrteste unter den Historikern, der, welcher sich in seiner Manier, die Begebenheiten und die Menschen darzustellen, am meisten als Dichter gezeigt hat. In der Geschichte der Schweiz muß man den Gelehrten und den Schriftsteller von großem Talent unterscheiden; denn nur auf diesem Wege kann man dahin gelangen, Müllern Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen. Er war ein Mann von unerhörtem Wissen, und seine Fähigkeiten flößten in dieser Hinsicht wahre Furcht ein. Man begriff nicht, wie der Kopf einesMenschen eine solche Welt von Thatsachen und Daten in sich schließen könnte. Die uns bekannten sechs tausend Jahre waren in seinem Gedächtniß vollkommen geordnet, und seine Studien waren so gründlich gewesen, daß sie die Lebendigkeit der Zurückerinnerungen hatten. In der Schweiz giebt es kein Dorf, keine adeliche Familie, deren Geschichte er nicht kannte. Man fragte ihn eines Tages, in Folge einer Wette, nach der Folge der souverainen Grafen von Bugey, und er nannte sie auf der Stelle, nur, daß er sich nicht genau erinnerte, ob einer von den Genannten Regent oder Titular gewesen sey: ein Gedächtnißfehler, über welchen er sich ernsthafte Vorwürfe [260] machte. Bei den Alten waren Männer von Genie nicht dieser unermeßlichen Arbeit von Gelehrsamkeit unterworfen, die sich mit den Jahrhunderten immer mehr anhäuft; ihre Einbildungskraft wurde durch das Studium nicht ermüdet. Um sich in unseren Tagen auszuzeichnen, kostet es mehr; und man muß Achtung hegen für die unermüdliche Mühe, deren es bedarf, um sich des Gegenstandes zu bemächtigen, den man behandeln will 3) .

Müllers Leben kann verschieden beurtheilt werden; aber sein Tod ist ein unersetzlicher Verlust; denn wenn ein Mann von solchen Fähigkeiten stirbt, so glaubt man, daß Mehrere ausscheiden.

Müller, den man als den wahrhaft klassischen Geschichtschreiber Deutschlands betrachten kann, las die griechischen und römischen Autoren fortdauernd in der Ursprache; zugleich befaßte er sich mit der Literatur und den schönen Künsten, um sie für die Geschichte zu benutzen. Seine gränzenlose Gelehrsamkeit schadete seiner natürlichen Lebendigkeit so wenig, daß sie die Grundlage war, worauf seine Einbildungskraft sich erhob, und die lebendige Wahrheit seiner Gemälde hing mit deren gewissenhaften Treue zusammen. Indeß, wenn er sich seiner Gelehrsamkeit vortrefflich zu bedienen wußte, so verstand er die Kunst nicht, sich zu gehöriger Zeit davon loszumachen. Seine Geschichte ist viel zu lang; [261] er hat das Ganze nicht gehörig an einander geschlossen. Details sind nothwendig, um der Erzählung von Begebenheiten Interesse zu geben: aber unter den Begebenheiten muß man die auswählen, welche erzählt zu werden verdienen.

Müllers Werk ist eine beredte Chronik. Wenn alle Geschichten so gearbeitet wären, so würde das Leben des Menschen angewendet werden müssen, um das Leben der Menschen zu lesen; es wäre also zu wünschen, daß sich Müller von dem Umfange seiner Kenntnisse minder hätte verführen lassen. Bei dem allen werden die Leser, welche, durch die richtige Anwendung der Zeit, Zeit zu gewinnen verstehen, ein immer neues Vergnügen an diesen berühmten Jahrbüchern der Schweiz finden. Die Vorreden sind wahre Meisterstücke der Beredsamkeit. Niemand hat in seinen Schriften einen kräftigeren Patriotismus gezeigt; und jetzt, wo er nicht mehr ist, muß man ihn blos nach seinen Schriften würdigen.

Wie ein Mahler beschreibt er die Gegend, wo die Hauptbegebenheiten der schweizerischen Eidgenossenschaff sich ereignet haben. Man würde sich mit Unrecht zum Geschichtschreiber eines Landes machen, das man nicht selbst gesehen hat. Die Lagen, die Oerter, die Natur, sind gleichsam der Grund des Gemähldes, und die Thatsachen, wie gut sie auch erzählt seyn mögen, haben nicht alle Kennzeichen der Wahrheit, wenn man nicht zugleich die äußeren Gegenstände zeigt, wovon die Menschen umgeben waren.

Die Gelehrsamkeit, welche Müllern verleitet hat, auf jede Thatsache zu viel Gewicht zu legen, wird ihm sehr nützlich, wenn es auf eine Begebenheit ankommt, welche von der Einbildungskraft wahrhaft belebt zu werden verdient. Er erzählt sie alsdann, als ob sie sich erst gestern ereignet hätte, und weiß ihr das Interesse zu geben, welches ein noch gegenwärtiger Umstand hervorrufen [262] würde. In der Geschichte, wie in den Erdichtungen, muß man dem Leser das Vergnügen und die Gelegenheit lassen, die Charaktere und den Gang der Begebenheiten zu ahnen. Er ermüdet leicht über das, was man ihm sagt; aber er wird entzückt von dem, was er entdeckt, und man bringt die Literatur den Interessen des Lebens nahe, wenn man durch die Erzählung die Bangigkeit der Erwartung anzuregen versteht. Das Urtheil des Lesers übt sich an einem Wort, an einer Handlung, welche plötzlich einen ganzen Menschen und bisweilen sogar den Geist einer Nation und eines Jahrhunderts begreiflich machen.

Die Verschwörung von Rütli, so wie sie in Müllers Geschichte erzählt wird, flößt ein unsägliches Interesse ein. Dieses friedliche Thal, wo Menschen, welche nicht minder friedlich sind, sich zu den gefährlichsten Handlungen entschließen, welche das Gewissen befehlen kann, die Ruhe der Berathschlagung, die Feierlichkeit des Eidschwurs, die Wärme der Vollbringung, das Unwiderrufliche, das sich auf den Willen der Menschen gründet, während äußerlich Alles sich verändern kann – welch ein Gemählde! Hier rufen blose Bilder Gedanken auf: die Helden dieser Begebenheit, wie der Geschichtschreiber, der sie erzählt, sind in der Größe des Gegenstandes versunken. Keine allgemeine Idee bietet sich ihrem Geiste dar, keine Betrachtung verändert weder die Festigkeit des Entschlusses, noch die Schönheit der Erzählung.

In der Schlacht von Granson, wo der Herzog von Burgund das schwache Heer der Schweizer-Cantone angreift, giebt ein höchst einfacher Zug die rührendste Idee von diesen Zeiten und diesen Sitten. Carl hielt bereits die Höhen besetzt, und meinte, er sey Herr der geringen Armee, die er von weitem in der Ebene erblickte. Plötzlich sieht er [263] bei Sonnenaufgang, wie die Schweizer, den Sitten ihrer Altvordern getreu, sich auf die Kniee werfen, um den Herrn der Könige um seinen Schutz vor dem Treffen anzurufen. Die Burgunder glaubten, daß jene niederknieeten, um die Waffen niederzulegen, und stießen Triumphgeschrei aus. Doch mit einemmale erheben sich diese, durch das Gebet gestärkte Christen, stürzen sich auf ihre Gegner und tragen den Sieg davon, dessen sie sich durch fromme Wärme würdig gemacht hatten. Umstände dieser Art finden sich oft in Müllers Geschichte, und seine Sprache erschüttert das Gemüth auch dann, wenn das, was er sagt, nicht pathetisch ist. Es ist sogar etwas Ernstes, Edles und Strenges in seinem Styl, welches die Erinnerung an verflossene Jahrhunderte mächtig weckt.

Bei dem allen war Müller ein höchst beweglicher Mann; allein das Talent nimmt alle Formen an, ohne daß die mindeste Heuchelei dabei im Spiele wäre. Er ist, was er scheint; nur kann er sich nicht immer in derselben Stimmung erhalten, und äußere Umstände modifiziren ihn. Vor allem verdankt Müller seine Gewalt über die Einbildungskraft der Farbe seines Styls; die alten Wörter, deren er sich so glücklich bedient, tragen das Ansehn germanischer Rechtlichkeit, welche Vertrauen einflößte Gleichwohl thut er Unrecht daran, daß er bisweilen die Gedrungenheit des Tacitus mit der Naivetät des Mittelalters vereinigen will; diese beide Nachahmungen widersprechen sich. Auch gelingen nur Müllern die Wendungen des alten Deutsch bisweilen; für jeden Andern würde dies Affektation seyn. Unter den Schriftstellern des Alterthums hat Sallust allein die Formen und Ausdrücke eines früheren Zeitraums zu gebrauchen verstanden; im Allgemeinen widerstrebt das Natürliche dieser Art von Nachahmung. Uebrigens war Müller in den Chroniken des Mittelalters so belesen, [264] daß er oft unwillkürlich in demselben Style ganz natürlich schreibt. Seine Ausdrücke müssen wahr seyn, weil sie das bewirken, was sie in seiner Absicht bewirken sollen.

Bei der Lectüre von Müllers Werken möchte man so gern glauben, daß er eine von den Tugenden besessen, die er so richtig gefühlt hat. Wenigstens ist sein vor kurzem bekannt gewordenes Testament ein Beweis seiner Uneigennützigkeit. Er hinterlaßt kein Vermögen, und bittet, daß man zur Bezahlung seiner Schulden seine Manuscripte verkaufe. Wenn sie dazu ausreichen, so erlaubt er sich über seine Uhr zum Vortheil seines Bedienten zu verfügen. «Er wird sie, sagt er, nicht ohne Rührung empfangen, nachdem er sie zwanzig Iahre hindurch aufgezogen hat.» Die Armuth eines Mannes von so großem Talent ist immer ein ehrenvoller Umstand in seinem Leben; der tausendste Theil des Geistes, der berühmt macht, würde gewiß ausreichen, um alle Berechnungen der Geldgier gelingen zu machen. Es ist immer schön, seine Fähigkeiten dem Ruhme gewidmet zu haben, und man empfindet immer Achtung für die, deren liebster Zweck jenseits des Grabes befindlich ist.

 

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1) Herr von Sismondi hat diese besonderen Interessen der italienischen Republiken von neuem zu beleben verstanden, indem er sie in Verbindung gesetzt hat, mit den großen Fragen, welche die gesammte Menschheit angehen. 

2) Unter den philosophischen Geschichtschreibern darf Herr Heeren nicht vergessen werden, er hat Betrachtungen über die Kreuzzüge geschrieben, in welchen eine vollkommne Unpartheilichkeit das Resultat der seltensten Kenntnisse und der Vernunftkraft ist. 

3) Unter Müllers Schülern muß der Baron von Hormayr, der den österreichischen Plutarch geschrieben hat, als einer der ersten betrachtet werden. Man fühlt, daß seine Geschichte nicht nach Büchern, sondern nach Original-Manuscripten geschrieben ist. Der Doktor Dekarro, ein gelehrter Genfer, der sich zu Wien niedergelassen hat, und durch dessen wohlthätige Thätigkeit die Kuhpockenimpfung bis nach Asien verpflanzt worden ist, wird eine Uebersetzung dieser Lebensbeschreibungen großer Männer Oesterreichs besorgen, welche das größte Interesse erregen muß.