BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Zweiter Theil. II. Abtheilung.

 

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Dreißigstes Capitel.

 

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Herder.

 

In Deutschland sind die Gelehrten in vieler Hinsicht der achtungswürdigste Verein, den die aufgeklärte Welt darbieten kann; und unter diesen Männern verdient Herder noch einen besonderen Platz. Sein Gemüth, sein Genie und seine Sittlichkeit haben sein Leben verherrlicht. Seine Schriften können in drei verschiedene Beziehungen betrachtet [265]werden; nämlich Geschichte, Literatur und Theologie. Er hatte sich mit dem Alterthum im Allgemeinen, und mit den orientalischen Sprachen insbesondere beschäftigt. Seine Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit ist von allen deutschen Büchern vielleicht dasjenige, das mit dem meisten Zauber geschrieben ist. Man findet darin nicht dieselbe Tiefe politischer Bemerkungen, welche Montesquieu's Werke über die Ursachen der Größe und des Verfalls der Römer auszeichnet; allein da Herder darauf ausging, den Genius der entferntesten Jahrhunderte zu ergründen, so diente seine Einbildungskraft – eine Eigenschaft, die er im höchsten Grade besaß – vielleicht mehr, als jede andere, dazu, ihn damit bekannt zu machen. Es bedarf einer solchen Fackel, um durch die Dunkelheit zu wandeln, und die verschiedenen Capitel Herders über Persepolis und Babylon, über die Hebräer und Aegyptier, sind eine köstliche Lectüre. Man glaubt an der Seite eines historischen Dichters durch die alte Welt zu gehen; eines Zauberers, welcher die Trümmer mit seinem Stabe berührt und eingesunkene Gebäude vor unsern Augen wieder errichtet.

Selbst an Männer von dem größten Talent macht man in Deutschland die Forderung, daß sie eine ausgebreitete Gelehrsamkeit besitzen sollen, und Kritiker haben dieselbe bei Herdern wenigstens in sofern vermißt, als sie ihm die Gründlichkeit abgesprochen haben. Allein was uns im Gegentheil auffallen könnte, ist die große Mannichfaltigkeit seiner Kenntnisse. Er kannte alle Sprachen, und sein Versuch über die hebräische Poesie ist von allen seinen Werken dasjenige, worin man am besten erkennt, wie weit sein Tact über fremde Nationen reichte. Niemals hat man den Genius eines prophetischen Volks, für welches die poetische Begeisterung [266]eine innige Beziehung mit der Gottheit bildete, glücklicher ausgedrückt. Die Irrsale dieses Volks, seine Sitten, die Gedanken, deren es fähig war, die Bilder, die ihm geläufig waren, sind von Herder mit erstaunlichem Scharfsinn angedeutet. Mit Hülfe der gelungensten Vergleichungen sucht er uns eine Idee von der Symmetrie des hebräischen Verses zu machen – von der Rückkehr desselben Gefühls oder desselben Bildes in verschiedenen Ausdrücken, wovon jede Stanze ein Beispiel giebt. Bisweilen vergleicht er diese glänzende Regelmäßigkeit mit zwei Perlenschnüren, welche den Haarwuchs einer schönen Frau umwinden. «Die Kunst und die Natur, sagt er, behalten immer eine gebietende Gleichförmigkeit mitten im Ueberfluß.» Lieset man die Psalmen der Hebräer nicht in der Ursprache, so ist es unmöglich, ihren Zauber noch stärker zu empfinden, als in dem, was Herder darüber sagt. Seine Einbildungskraft fühlte sich in der occidentalischen Welt beengt; mit Lust athmet er die Düfte Asiens; mit gleicher Lust verbreitete er durch seine Schriften den Weihrauch, den sein Gemüth daselbst gesammelt hatte.

Er zuerst machte die spanischen und portugiesischen Poesieen in Deutschland bekannt, welche seitdem durch A. Wilh. Schlegels Uebersetzungen dahin verpflanzt worden sind. Herder hat eine Sammlung: Volkslieder betitelt, herausgegeben; und diese Sammlung enthält die Romanzen und vereinzelten Poesien, worein sich der National-Charakter und die Einbildungskraft der Völker abgedrückt hat. Hierin kann man die natürliche Poesie studiren; ich meine die, welche der Aufklärung vorangeht. Die angebaute Literatur wird in so kurzer Zeit eine gemachte, künstliche, daß es gut ist, bisweilen zu dem Ursprung aller [267] Poesie, d. h. zu dem Eindruck der Natur auf den Menschen, ehe er das Universum und sich selbst zergliedert hatte, zurückzukehren. Die Biegsamkeit der deutschen Sprache verträgt sich vielleicht allein mit einer Uebersetzung dieser Naivetäten aus den Sprachen aller Länder, ohne welche man keinen Eindruck von den Volkspoesieen erhält. In diesen Poesieen haben die Wörter durch sich selbst eine gewisse Anmuth, welche uns rührt wie eine Blume, die wir in unserer Kindheit gesehen, oder wie eine Gesangsweise, die wir in früheren Jahren gehört haben. Und diese seltsamen Eindrücke enthalten nicht blos die Geheimnisse der Kunst, sondern selbst die der Seele, wo die Kunst sie geschöpft hat. Die Deutschen zergliedern in ihrer Literatur selbst die zarten Abstufungen, die sich dem Worte versagen, und man könnte ihnen den Vorwurf machen, daß sie es in allen Dingen darauf anlegen, das Unaussprechliche begreiflich zu machen.

In dem vierten Theile dieses Werks werde ich von Herders Schriften über Theologie reden; Geschichte und Literatur finden sich auch darin nicht selten vereinigt. Ein Mann von Genie, der so aufrichtig war, wie Herder, mußte die Religion allen Gedanken, und alle Gedanken der Religion beimischen. Man hat gesagt: seine Schriften hätten große Aehnlichkeit mit einer belebten Unterhaltung. Wahr ist, daß er seinen Werken nicht die methodische Form gegeben hat, die man den Büchern in der Regel giebt. In den Säulengängen und in den Gärten der Akademie erklärte Plato seinen Schülern das System der intellectuellen Welt; und in Herder findet man jene edle Nachläßigkeit des Talents, die mit Ungeduld zu neuen Ideen übergeht. Ein gut construirtes Buch ist eine moderne Erfindung. Die Entdeckung der Buchdruckerei [268]hat die Abtheilungen, die Recapitulationen und das ganze Gepränge der Logik nothwendig gemacht; die meisten philosophischen Werke der Alten sind Abhandlungen oder Gespräche, die man sich als geschriebene Unterhaltungen denkt. Auch Montaigne überließ sich einem natürlichen Gedankenlaufe. Es ist wahr, zu einem solchen Sich gehen lassen gehört eine entschiedene Ueberlegenheit; die Ordnung ergänzt den Reichthum, und wenn die Mittelmäßigkeit sich dem Zufall überlassen wollte, so würde sie gewöhnlich uns auf denselben Punkt zurückbringen, so daß die Mühe umsonst wäre. Aber ein Mann von Genie interessirt am meisten, wenn er zeigt, wie er ist, und wenn seine Bücher mehr improvisirt als componirt scheinen.

Herders Unterhaltung war, wie man sagt, bewundernswerth; und in seinen Werken fühlt man, daß dem so seyn mußte. Auch das fühlt man darin, daß es, wie alle seine Freunde bezeugen, keinen besseren Mann gab. Wenn das literärische Talent denen, die uns noch nicht kennen, Zuneigung für uns einflößen kann, so ist es von allen Geschenken des Himmels das, wovon wir die süßesten Früchte auf Erden einsammlen.