BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Dritter Theil. I. Abtheilung.

 

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Dritter Theil.

 

I. Abtheilung.

 

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Die Philosophie und die Moral.

 

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Erstes Capitel.

 

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Von der Philosophie.

 

Man hat seit einiger Zeit das Wort Philosophie verunglimpfen wollen. So geht es allen Benennungen, welche sehr viel in sich schließen; sie sind ein Gegenstand des Segens oder des Fluchs für das menschliche Geschlecht, je nachdem sie in glücklichen oder in unglücklichen Zeiten gebraucht werden. Indeß verändern Philosophie, Freiheit und Religion, trotz den zufälligen Verunglimpfungen oder Lobsprüchen von Individuen und Nationen, ihren Werth nicht. Der Mensch hat der Sonne, der Liebe, dem Leben geflucht; er hat gelitten, er hat sich von den Fackeln der Natur verzehrt gefühlt. Allein, möchte man deshalb diese Fackeln auslöschen? [4]

Alles, was daraus abzweckt, unsere Fähigkeiten zu beschränken, ist immer eine herabwürdigende Lehre; man muß sie auf das erhabene Ziel des Daseyns, auf die moralische Vervollkommnung, hinleiten. Nicht durch die partielle Ertödtung der einen oder der andern Potenz unseres Wesens setzen wir uns in den Stand, dieses Ziel zu umfassen; uns ihm zu nähern, haben wir der Mittel nicht zu viel, und wenn der Himmel dem Menschen mehr Genie beschieden hätte, so würde er eben dadurch um so viel mehr Tugend haben. Unter den verschiedenen Zweigen der Philosophie ist die Metaphysik derjenige, welcher die Deutschen besonders beschäftigt hat. Die Gegenstände, welche sie umfaßt, können in drei Classen getheilt werden. Die erste bezieht sich auf das Geheimniß der Schöpfung, d. h. auf das Unendliche in allen Dingen; die zweite auf die Bildung der Ideen im menschlichen Geiste; die dritte auf die Uebung unserer Fähigkeiten, ohne zur Quelle derselben aufzusteigen.

Das erste dieser Studien, ich meine dasjenige, wodurch man das Geheimniß des Universums kennen lernen möchte, ist bei den Griechen eben so betrieben worden, wie es gegenwärtig von den Deutschen betrieben wird. Läugnen läßt sich nicht, daß eine solche Untersuchung, wie erhaben sie auch in ihrem Princip sey, uns unsere Ohnmacht auf jedem Schritte fühlbar mache; und aus Anstrengungen, welche zu keinem Ergebniß führen, folgt Muthlosigkeit. Die Nützlichkeit der dritten Classe metaphysischer Beobachtungen, die, welche sich auf die Kenntniß der Acte unseres Verstandes beschränkt, kann nicht bestritten werden; allein diese Nützlichkeit begränzt sich durch den Zirkel täglicher Erfahrungen. [5] Die philosophischen Forschungen der zweiten Classe, die, welche die Natur unserer Seele und den Ursprung unserer Ideen umfassen, scheinen mir von allen die anziehendsten zu seyn. Es ist nicht wahrscheinlich, daß wir jemals zu[m] Anschauen der Wahrheiten gelangen werden, welche die Existenz dieser Welt erklären: das Verlangen, welches wir darnach fühlen, gehört zur Zahl der edlen Gedanken, die uns nach einem andern Leben hinziehen. Aber gewiß ist uns die Fähigkeit, uns selbst zu erforschen, nicht vergeblich ertheilt worden. Dieser Fähigkeit bedienen wir uns zwar schon dann, wenn wir den Gang unseres Geistes, so wie er ist, beobachten; aber wenn wir uns noch höher erheben, wenn wir zu erforschen suchen, ob dieser Geist unkräftig handelt, oder nur, von äußeren Gegenständen angereizt, zu denken vermag: dann werden wir über den freien Willen des Menschen, und folglich über das Laster und die Tugend, zu besseren Einsichten gelangen.

Denn eine Menge moralischer und religiöser Fragen hängt von der Art und Weise ab, auf welche man den Ursprung und die Bildung unserer Ideen betrachtet; und gerade die Verschiedenheit der Systeme in dieser Hinsicht trennt die deutschen Philosophen von den französischen. Leicht begreift sich, daß, wenn die Verschiedenheit in der Quelle liegt, sie sich auch in allem offenbaren müsse, was davon abgeleitet wird. Es ist demnach unmöglich, Deutschland kennen zu lernen, ohne den Gang der Philosophie zu zeichnen, der von den Zeiten Leibnitzens bis auf die unsrigen nicht aufgehört hat, eine bedeutende Herrschaft über die Republik der Wissenschaften auszuüben.

Es giebt zwei Arten, die Metaphysik des [6] menschlichen Verstandes ins Auge zu fassen: entweder in der Theorie, oder den Resultaten nach. Die Prüfung der Theorie erfordert eine Fähigkeit, welche ich nicht besitze; allein es ist leicht, den Einfluß zu beobachten, welchen die eine oder die andere metaphysische Meinung auf die Entwickelung des Geistes und des Gemüths ausübt. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, sagt das Evangelium, und diese Maxime kann uns auch bei Prüfung verschiedener Philosophien leiten; denn alles, was aus Immoralität abzweckt, ist immer nur Sophisterei. Dies Leben hat nur in sofern einen Werth, als es zur religiösen Erziehung unseres Herzens dient, als es uns zu einer erhabeneren Bestimmung vorbereitet, beides durch die freie Wahl der Tugend auf Erden. Metaphysik, gesellschaftliche Institutionen, Künste, Wissenschaften – alles muß nach der moralischen Vervollkommnung des Menschen gewürdigt werden: dies ist der Probierstein, der dem Unwissenden, wie dem Unterrichteten gegeben ist. Denn, wenn auch die Kenntniß der Mittel nur den Eingeweihten zukommt, so sind doch die Resultate für das Fassungsvermögen Aller da.

Um die Metaphysik gehörig zu fassen, muß man mit der Methode des Raisonnements vertraut seyn, deren man sich in der Geometrie bedient. In jener Wissenschaft, wie in dieser, zerstört das kleinste Glied der Kette, wenn es übersprungen wird, den Zusammenhang, welcher zur Evidenz führt. Metaphysische Raisonnements sind abstracter, und nicht minder scharf, als die der Mathematik; und doch ist ihr Gegenstand unbestimmt. Im Studium der Metaphysik muß man die beiden, am meisten entgegengesetzten [7] Fähigkeiten vereinigen: Einbildungskraft und Berechnung; eine Wolke muß mit eben der Genauigkeit gemessen werden, wie ein Erdstrich, und kein Studium erfordert eine so angestrengte Aufmerksamkeit. Bei dem allen giebt es in den allerhöchsten Fragen immer einen Gesichtspunkt, der dem Fassungsvermögen der großen Mehrheit entspricht; und dieser ist es, den ich aufzufassen und darzustellen gedenke.

Ich fragte eines Tages Fichte'n, einen von den kräftigsten Denkern Deutschlands, ob er mir nicht seine Moral vor seiner M[e]taphysik mittheilen könnte? – „Die eine hängt von der andern ab,“ war seine Antwort. – Dieser Ausspruch war voll tiefen Sinnes; er schließt in sich alle Bewegungsgründe, um derentwillen man sich für die Philosophie interessiren kann.

Man hat sich gewöhnt, sie als die Zerstörerin alles Herzensglaubens zu betrachten. Wäre sie dies wirklich, so würde sie auch die Feindin der Menschen seyn. Aber so verhält es sich weder mit der Lehre Platons, noch mit der der Deutschen. Sie betrachten das Gefühl als eine Thatsache, als eine ursprüngliche Thatsache des Gemüths, und geben der philosophirenden Vernunft keine andere Bestimmung, als die Bedeutung dieser Thatsache zu erforschen.

Das Räthsel der Welt ist der Gegenstand vieles vergeblichen Nachsinnens für eine große Zahl von Männern gewesen, die der Bewunderung nicht unwürdig waren, weil sie sich zu etwas Besserem berufen fühlten, als diese Welt ist; Geister höherer Art schwärmen unaufhörlich um den Abgrund endloser Gedanken. Dennoch muß man sich davon wegwenden; denn der Geist mattet sich vergeblich [8] in diesen Anstrengungen zur Bestürmung des Himmels ab.

Der Ursprung des Gedankens hat alle wahre Philosophen beschäftigt. Giebt es zwei Naturen im Menschen? Und wenn es nur eine giebt; ist es der Geist oder die Materie? Giebt es deren zwei, stammen alsdann die Ideen von den Sinnen her, oder entspringen sie aus unserer Seele, oder sind sie das zusammengesetzte Produkt der Thätigkeit äußerer Gegenstände auf uns hin, und der inneren Fähigkeiten, die wir besitzen?

An diese drei Fragen, welche zu allen Zeiten die philosophische Welt entzweiet haben, ist die Forschung gebunden, welche die Tugend unmittelbar berührt, nehmlich, ob Verhängniß oder freier Wille die Beschlüsse des Menschen bestimmt.

Bei den Alten rührte das Verhängniß von dem Willen der Götter her; die Neueren schreiben es dem Laufe der Dinge zu. Bei den Alten hob das Verhängniß den freien Willen; denn der Wille des Menschen kämpfte an gegen die Schickung und der moralische Widerstand war unüberwindlich. Das Verhängniß der Neueren hingegen zerstört nothwendig den Glauben an den freien Willen; denn wenn die Umstände uns zu dem machen, was wir sind: so können wir uns ihrem Uebergewicht nicht entgegen stämmen; wenn die äußerlichen Gegenstände die Ursache alles dessen sind, was in unserer Seele vorgeht – welcher unabhängiger Gedanke sollte uns dann von ihrem Einflusse befreien? Das vom Himmel kommende Verhängniß erfüllte die Seele mit einem heiligen Schrecken, während das Verhängniß, das uns an die Erde knüpft, uns nur herabwürdigt. „Aber wozu alle diese Fragen?“ [9] wird man sagen. Wozu alles Andere, was diese Gegenstände nicht angeht? könnte man antworten. Denn was ist wichtiger für den Menschen, als zu wissen, ob er wirklich die Verantwortlichkeit für seine Handlungen trägt, und in welchem Verhältnisse die Macht seines Willens mit der Herrschaft steht, welche die Umstände über denselben ausüben? Was würde das Gewissen seyn, wenn es seine Entstehung unseren Gewohnheiten verdankte, wenn es in sich selbst nichts weiter wäre, als das Erzeugniß der Farben, der Töne, der Düfte, kurz aller der Umstände, womit wir von Kindesbeinen an umgeben gewesen sind? '

Die Metaphysik, welche darauf ausgeht, die Quelle unserer Ideen zu entdecken, hat in ihren Folgen den mächtigsten Einfluß auf die Natur und die Stärke unseres Willens. Sie ist zugleich die höchste und die nothwendigste unserer Erkenntnisse, und die Anhänger der höchsten Nützlichkeit, der moralischen Nützlichkeit, dürfen sie nicht verschmähen.