BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Dritter Theil. I. Abtheilung.

 

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Achtes Capitel.

 

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Einfluß der neuen deutschen Philosophie

auf die Entwickelung des Geistes.

 

Von allen Fähigkeiten des menschlichen Geistes ist die Aufmerksamkeit vielleicht die, welche die meiste Gewalt ausübt; und es läßt sich nicht läugnen, daß die idealistische Metaphysik sie auf eine erstaunliche [100] Weise kräftigt. Herr von Büffon behauptete, das Genie könne durch die Geduld erworben werden. Dies hieße zu viel sagen; aber wenn diese Huldigung der Aufmerksamkeit unter der Benennung von Geduld dargebracht wird: so ehrt sie einen Mann von einer so glänzenden Einbildungskraft. Abstrakte Ideen erfordern schon eine große Anstrengung des Nachsinnens; verbindet man aber damit die genaueste und ausdauerndste Beobachtung der innern Willens-Acte, dann wird die ganze Kraft der Intelligenz dabei in Anspruch genommen. In den Angelegenheiten dieser Welt ist Subtilität des Geistes ein großer Fehler; aber wahrlich, die Deutschen haben sich einem solchen Verdacht nie ausgesetzt. Die philosophische Subtilität, vermöge welcher wir die zartesten Fäden unserer Gedanken auseinanderwirren, ist gerade das, was das Genie am meisten fördert; denn ein Grübeln, aus welchem vielleicht die erhabensten Erfindungen und die erstaunlichsten Entdeckungen hervorgehen können, geht unbeachtet in uns vorüber, wofern es uns nicht zur Gewohnheit geworden ist, die Folge und Verknüpfung der scheinbar entferntesten Ideen mit Scharfblick zu prüfen.

In Deutschland beschränken sich vorzügliche Köpfe selten auf Eine Bahn. Goethe macht Entdeckungen in den Wissenschaften, Schelling ist ein vortrefflicher Kenner der Literaturen, Friedrich Schlegel ein Dichter voll Originalität. Man kann vielleicht nicht viele verschiedene Talente in sich vereinigen; aber der Verstandesblick muß Alles umfassen.

Die neueste deutsche Philosophie ist der Erweiterung des Geistesumfangs nothwendig günstiger, als jede andere; denn indem sie alles auf den Brennpunkt des Gemüths bezieht, und die Welt selbst als von [101] Gesetzen regiert betrachtet, deren Typus in uns ist: so kann und darf sie nicht das Vorurtheil gestatten, welches jeden Menschen ausschließender Weise zu dem und dem Zweige der Studien bestimmt. Die idealistischen Philosophen glauben, daß eine Kunst, eine Wissenschaft, irgendein besonderer Theil, nicht gefaßt werden kann ohne allgemeine Kenntnisse, und daß von dem geringsten Phänomen bis zum größten nichts gründlich untersucht, oder poetisch dargestellt werde, ohne jene Höhe des Geistes, die das Ganze überschaut, indem sie das Einzelne beschreibt.

Montesquieu sagt: der Geist bestehe darin, die Aehnlichkeit der verschiedenen, und die Verschiedenheit der ähnlichen Dinge zu kennen. Könnte es eine Theorie geben, welche ein Mann von Geist zu werden bahnte: so würde es die Theorie des Verstandes seyn, wie die Deutschen sie aufgefaßt haben; wenigstens begünstigt keine die sinnreiche Annäherungen zwischen den äußeren Gegenständen und den Fähigkeiten des Geistes in einem höheren Grade: denn dies sind Radien desselben Mittelpunkts. Die meisten physischen Axiome entsprechen den moralischen Wahrheiten, und die allgemeine Philosophie stellt auf tausendfache Weise die Natur in ihrer Einheit und Mannigfaltigkeit dar; die Natur, welche sich in jedem ihrer Werke immer ganz abspiegelt, und dem Grashalm das Gepräge des Universums in eben dem Maaße giebt, wie der Zeder.

Diese Philosophie giebt für alle Arten von Studien einen besonderen Anreiz. Die Entdeckungen, die man in sich selbst macht, sind immer interessant; allein, wenn es wahr ist, daß sie uns selbst über die Geheimnisse der nach unserem Bilde geschaffenen [102] Welt Aufschlüsse geben müssen: welche Neugier flößen sie dann nicht ein! Die Unterhaltung mit deutschen Philosophen, wie die, welche ich genannt habe, erinnert an Platon's Gespräche; und wenn man einen von diesen Männern über irgend einen Gegenstand befragt: so verbreitet er darüber so viel Licht, daß man zum ersten Male zu denken glaubt, wenn denken, wie Spinoza sagt, so viel ist, als sich durch den Verstand mit der Natur identifiziren und mit ihr Eines werden.

In Deutschland läuft seit einigen Jahren eine solche Masse von neuen Ideen über literärische und philosophische Gegenstände um, daß ein Fremder leicht Denjenigen für einen Mann von Genie halten könnte, der diese Ideen nur wiederholt. Es ist mir nicht selten begegnet, daß ich Männer, die im Uebrigen von ganz gemeinem Schlage waren, für außerordentliche Geister gehalten habe, blos weil sie sich mit den idealistischen Systemen, der Morgenröthe eines neuen Lebens, vertraut gemacht hatten.

Die Fehler, welche man den Deutschen in der Unterhaltung gewöhnlich zum Vorwurfe macht – Langsamkeit und Pedanterie – sind den Zöglingen der neuen Schule am wenigsten eigen. Personen vom ersten Range haben sich in Deutschland meistentheils nach den guten französischen Manieren gebildet; aber gegenwärtig stellt sich unter den Philosophen, die zugleich Schriftsteller sind, eine Erziehung fest, die, obgleich in einer ganz anderen Art, von gutem Geschmack ist. Man betrachtet darin die wahre Eleganz als unzertrennlich von der poetischen Einbildungskraft und dem Reiz der schönen Künste, und die Artigkeit als gegründet auf die Kenntniß und Würdigung der Talente und des Verdienstes. [103]

Läugnen läßt sich indeß nicht, daß die neuen philosophischen und literarischen Systeme in ihren Anhängern sehr viel Verachtung gegen Diejenigen eingeflößt haben, welche sie nicht fassen. Die französische Spötterei will immer durch das Lächerliche demüthigen; ihre Tactik ist, der Idee auszuweichen, um die Person anzugreifen, und das Wesen zu übersehen, um über die Form zu spötteln. Die Deutschen aus der neuen Schule betrachten die Unwissenheit und Leichtfertigkeit als Krankheiten einer verlängerten Kindheit; sie haben sich nicht darauf beschränkt, die Fremden anzugreifen, sie greifen sich auch unter einander mit Bitterkeit an, und wenn man sie vernimmt: so möchte man sagen, daß in Sachen der Abstraktion und der Gründlichkeit ein Grad mehr das Recht gebe, denjenigen, der nicht dahin gelangen will oder kann, als gemein und beschränkt zu behandeln.

Als Hindernisse die Geister aufreizten, mischte sich die Uebertreibung in diese, sonst so heilsame, philosophische Umwälzung. Mit der Fackel des Genies drangen die Deutschen in das Heiligthum des Gemüths. Als es aber darauf ankam, anderen Köpfen ihre Ideen einzuimpfen, verstanden sie sich schlecht auf die Mittel. Sie fiengen an, hochmüthig zu werden, nicht weil ihnen die Wahrheit fremd war, sondern weil es ihnen an der Kunst fehlte, sie vorzutragen. Abschätzigkeit, wenn sie nicht das Laster trift, kündigt immer einen begränzten Geist an; denn mit noch mehr Geist würde man sich selbst gemeinen Seelen verständlich gemacht haben, wenigstens hätte man es mit Treuherzigkeit versucht.

Das Talent, sich methodisch und deutlich auszudrücken, ist in Deutschland sehr selten; die spekulativen [104] Studien geben es nicht. Man muß sich gewissermaßen aus seinen eigenen Gedanken herausversetzen, um über die Form zu urtheilen, die man ihnen zu geben hat. Die Philosophie lehrt den Menschen, nicht die Menschen kennen. Die Gewohnheit des Umgangs giebt uns allein Aufschlüsse über das Verhältniß unseres Geistes zu dem Geiste Anderer. Erst macht die Aufrichtigkeit, dann der Stolz ernste und treuherzige Philosophen zum Unwillen gegen Die geneigt, welche nicht eben so denken und empfinden, wie sie. Gewissenhaft erforschen die Deutschen das Wahre; aber es steckt in ihnen ein glühender Sectengeist für die Lehre, zu welcher sie sich einmal bekennen. Denn in dem Herzen des Menschen verwandelt sich alles in Leidenschaft.

Indeß, trotz den Verschiedenheiten in den Meinungen, welche in Deutschland mehrere, einander entgegengesetzte Schulen bilden, zwecken doch alle darauf ab, die Thätigkeit der Seele zu entwickeln. Auch giebt es kein Land, wo Jeder sich selbst höher ausbringt, wenigstens in Beziehung auf intellectuelle Arbeiten.