BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Dritter Theil. I. Abtheilung.

 

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Zwölftes Capitel.

 

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Von der, aus persönlichen Vortheil

gegründeten, Moral.

 

Die französischen Schriftsteller haben vollkommen Recht gehabt, wenn sie die aus den Vortheil gegründete Moral als eine Folge derjenigen Metaphysik betrachteten, welche alle Ideen den Sensationen zuschreibt. Denn, wenn in dem Gemüthe nichts weiter enthalten ist, als was Sensationen darin niedergelegt haben: so muß das Angenehme und das Unangenehme die einzige Triebfeder unseres Willens seyn. Helvetius, Diderot, St. Lambert, [136] sind nicht von dieser Linie gewichen; sie haben alle Handlungen, selbst die Aufopferung der Märtyrer, aus der Selbstliebe erklärt. Die Engländer, welche sich größentheils in der Metaphysik zur Erfahrungs-Philosophie bekennen, haben gleichwol nie die auf den Vortheil gegründete Moral zu ertragen vermocht. Shaftsbury, Hutcheson, Smith u.s.w. haben den moralischen Sinn und die Sympathie als die Quelle aller Tugenden proklamirt; und Hume selbst, der größte Skeptiker unter den englischen Philosophen, hat diese Theorie der Selbstliebe, welche die Schönheit des Gemüths brandmarkt, nicht ohne Ekel lesen können. Den Meinungen deutscher Philosophen steht im Ganzen nichts so sehr entgegen, als dies System; auch haben die philosophischen und moralistischen Schriftsteller unter den Deutschen, an deren Spitze man Kant, Fichte und Jacobi stellen muß, es siegreich bekämpft.

Da die Tendenz der Menschen nach Wohlseyn die allgemeinste und thätigste von allen ist: so hat man die Moralität am besten zu begründen geglaubt, wenn man von ihr sagte: sie bestehe in dem wohlverstandenen persönlichen Vortheil. Diese Idee hat treuherzige Menschen verführt, und Andere haben sich vorgenommen, sie zu misbrauchen, ohne daß es ihnen damit vorzüglich gelungen wäre. Unstreitig bringen die Gesetze der Natur und der Gesellschaft das Glück und die Tugend in Harmonie; aber diese Gesetze unterliegen sehr zahlreichen Ausnahmen, und scheinen noch weit mehr zuzulassen, als wirklich Statt finden.

Jenen Argumenten, welche von dem Glück des Lasters und den Unfällen der Tugend hergenommen sind, entschlüpft man dadurch, daß man das Wohlseyn [137] in die Zufriedenheit des Gewissens setzet; allein diese Zufriedenheit gehört einer durchaus religiösen Ordnung an, und hat mit dem, was hienieden durch das Wort „Wohlseyn“ bezeichnet wird, nichts gemein. Aufopferung oder Selbstheit, Laster oder Tugend, ein gut oder schlecht verstandenes persönliches Interesse nennen, heißt, die Kluft ausfüllen wollen, welche den Schuldigen von dem Rechtschaffenen trennt, heißt, die Achtung zerstören, heißt den Unwillen schwächen; denn wenn die Moral nur ein guter Calcul ist: so darf Derjenige, welcher dagegen sündigt, nur des verbildeten Verstandes angeklagt werden. Man könnte gegen den Einen, weil er gut calculirt, nicht das edle Gefühl der Hochachtung, noch gegen den Andern, weil er schlecht calculirt, eine kräftige Verachtung empfinden. Durch dieses System ist man also zu dem Hauptzweck aller verderbten Menschen gelangt, welche das Gerechte und Ungerechte auf gleiche Wage bringen, wenigstens das Eine wie das Andere als eine gut oder schlecht gespielte Rolle betrachtet wissen wollen. Auch bedienen sich die Philosophen dieser Schule weit öfters des Worts: Fehltritte, als des Worts: Verbrechen; denn, in ihrer Ansicht giebt es bei der Aufführung nur geschickte oder ungeschickte Combinationen.

Unbegreiflich würden in einem solchen System die Gewissensbisse seyn. Ist der Verbrecher bestraft: so muß er die Art von Reue empfinden, welche eine verfehlte Spekulation verursacht; denn wenn unser eigenes Glück unser Hauptzweck ist, wenn wir uns einziger Selbstzweck sind: so muß zwischen diesen beiden Verbündeten, ich meine dem, der Unrecht gehabt hat, und dem, der davon leidet, [138] der Friede bald wieder hergestellt seyn. Ein beinahe allgemein angenommenes Sprichwort sagt, daß Jeder frei ist in dem, was nur ihn angehet. Da nun in der auf den Vortheil gegründeten Moral immer nur von dem eigenen Selbst die Rede ist: so weiß ich wahrlich nicht, was man Dem antworten wollte, der da sagte: „Du machst zur einzigen Triebfeder meiner Handlungen meinen eigenen Vortheil. Schönen Dank dafür! Aber die Art und Weise, diesen Vortheil ins Auge zu fassen, hängt nothwendig von dem Charakter eines Jeden ab. Ich habe Muth; ich kann also mehr als ein Anderer den Gefahren trotzen, welche mit dem Ungehorsam gegen einmal angenommene Gesetze verbunden sind. Ich habe Verstand; ich trage also die Mittel in mir, der Bestrafung zu entgehen. Und wenn mir dies nicht gut bekommen sollte: so habe ich Entschlossenheit genug, mich damit bei mir selbst zu entschuldigen, daß ich mich getäuscht habe; und dabei liebe ich mehr die Freuden und Zufälle eines großen Spieles, als die Eintönigkeit einer regelmäßigen Existenz.“

Wie viele französische Werke des abgewichenen Jahrhunderts haben nicht diese Argumente kommentirt, die man nie ganz wird widerlegen können; denn, wenn von Glückwürfen die Rede ist: so kann ein einziger hinreichend seyn, die Einbildungskraft anzuregen, alles zu thun, um ihn zu erhalten; und wahrlich, es läßt sich mehr als eins gegen tausend darauf wetten, daß es dem Laster gelingen werde.

„Aber – so werden mehrere ehrliche Anhänger der auf Eigennutz gegründeten Moral sagen – diese Moral schließt ja den Einfluß der Religion auf die Gemüther nicht aus.“ – Welchen schwachen, jämmerlichen [139] Antheil läßt man ihr übrig! Wenn alle, im Felde der Philosophie und der Moral angenommene Systeme der Religion entgegen sind, wenn die Metaphysik den Glauben an das Unsichtbare verdammt, und die Moral es mit der Aufopferung seiner selbst nicht besser macht: so steht die Religion in den Ideen eben so da, wie der König in der Constitution, welche die constituirende Versammlung beschlossen hatte. So wie dies eine Republik plus einen König war, eben so behaupte ich, daß alle Systeme materialistischer Metaphysik und selbstischer Moral der Atheismus plus einen Gott sind. Es ist also leicht vorherzusehen, was in dem Gedankenbau aufgeopfert werden wird, wenn man der Central-Idee der Welt und unserer selbst nur den überflüssigen Platz einräumt.

Das Betragen eines Menschen ist nur dann moralisch , wenn er die glücklichen oder unglücklichen Folgen seiner Handlungen, sobald diese von der Pflicht dictirt sind, für nichts achtet. Bei der Leitung der Angelegenheiten dieser Welt muß man zwar die Verkettung der Ursachen und Wirkungen, der Mittel und des Zwecks, stets vor Augen haben; aber diese Klugheit verhält sich zur Tugend, wie der gesunde Menschenverstand zum Genie: alles, was wahrhaft schön ist, ist eingegeben, so wie alles Uneigennützige religiös ist. Die Berechnung ist der Handarbeiter des Genies, der Diener des Gemüths; wird sie aber der Herr, dann ist nichts Großes und Edles mehr in dem Menschen. Als Führer ist die Berechnung im Leben zulässig, aber nie als Triebfeder unserer Handlungen. Sie ist ein gutes Vollziehungsmittel; allein die Quelle des Wollens muß von einer erhabneren Beschaffenheit seyn; man muß [140] ein inneres Gefühl in sich tragen, welches uns zur Aufopferung unserer persönlichen Vortheile nöthigt.

Als man den h. Vincenz von Paula verhindern wollte, sich den größten Gefahren auszusetzen, um den Unglücklichen beizustehen, antwortete er: „Glaubt ihr, daß ich so niederträchtig bin, mein Leben mir selbst vorzuziehen?“ Wenn die Anhänger der auf Eigennutz gegründeten Moral von diesem Eigennutz alles trennen wollen, was das irdische Daseyn angeht, dann werden sie mit den religiösesten Menschen einverstanden seyn; und selbst dann noch müßte man ihnen die schlechten Ausdrücke, derer sie sich bedienen, zum Vorwurfe machen.

In der That, wird man sagen, es dreht sich hier alles um einen Wortstreit: was wir nützlich nennen, das nennt ihr tugendhaft, aber, wie ihr, setzen wir das wohlverstandene Interesse darin, daß man seine Leidenschaften seinen Pflichten zum Opfer bringe. – Wortstreite sind immer Sachstreite; denn alle aufrichtige[n] Menschen werden eingestehen, daß sie an dem und dem Worte nur aus Vorliebe für die und die Idee hängen. Wie könnten Worte, die in den allergemeinsten Beziehungen gebraucht werden, edle Gefühle einflößen? Wenn man die Wörter: Eigennutz und Nützlichkeit ausspricht, wird man dann in dem Herzen dieselben Gedanken wecken, wie bei einer Beschwörung im Namen der Aufopferung und Tugend?

Als Thomas Morus lieber auf dem Schaffot sterben, als den Gipfel menschlicher Größe mit Aufopferung eines Gewissens-Skrupels ersteigen wollte; als er, nach einem einjährigen Aufenthalt im Kerker von Leiden abgeschwächt, sich weigerte, seine Frau und seine Kinder wiederzusehen, und sich [141] von neuem den Beschäftigungen des Geistes zu überlassen, welche dem Daseyn zugleich Ruhe und Tätigkeit gewähren; als die bloße Ehre, diese weltliche Religion, einen alten König von Frankreich in die Kerker von England zurückführte, weil sein Sohn nicht das Versprechen gehalten hatte, wovon seine Freiheit die Folge war; als die Christen in den Catacomben lebten, auf das Tageslicht verzichteten , und den Himmel nur in ihrem Gemüthe fühlten: wenn damahls Jemand gesagt hätte, sie verständen sich auf ihren Vortheil, welcher Frost würde sich in allen ihren Adern bei diesen Worten verbreitet haben, und um wie viel besser hätte ein gerührter Blick uns enthüllt, was in solchen Menschen erhaben ist!

Wahrlich, das Leben ist nicht so unfruchtbar, als die Selbstheit es uns gemacht hat. Nicht alles darin ist Klugheit, nicht alles Berechnung; und wenn eine erhabene Handlung alle Mächte unseres Wesens erschüttert: so denken wir nicht, der sich selbst aufopfernde Mensch habe seinen persönlichen Vortheil gut verstanden, gut verbunden. Wir denken vielmehr, er opfere zwar alle seine Freuden, alle Vorzüge dieser Welt, aber ein göttlicher Strahl sey in sein Herz gefallen, um ihm eine Art von Glückseligkeit zu gewähren, die sich zu allem, was wir so zu benennen pflegen, verhält, wie die Unsterblichkeit zum Leben.

Und doch giebt man sich nicht ohne Ursache so viel Mühe, die Moral auf den persönlichen Eigennutz zu gründen. Es sieht so aus, als vertheidige man nur eine Theorie, während es zuletzt eine sehr scharfsinnige Ideenverknüpfung ist, um das Joch von jeder Art von Autorität festzustellen. Keiner, [142] wie verderbt er auch seyn möge, wird behaupten, daß es keiner Moral bedürfe; denn selbst Derjenige, der die meiste Entschlossenheit hatte, sich darüber hinauszusetzen, möchte noch mit Betrogenen zu thun haben, die sie beibehalten. Aber welche Geschicklichkeit, der Moral die Klugheit zur Grundlage gegeben zu haben! Welch ein freier Zutritt ist dem Uebergewicht der Macht, der Abfindung mit dem Gewissen und allen den beweglichen Rathschlägen der Ereignisse gegeben!

Soll die Berechnung in Allem den Vorsitz führen: so müssen die Handlungen der Menschen nach dem Erfolge beurtheilt werden, so wird man Den, dessen gute Gefühle ein Unglück verursacht haben, tadeln, und den Verkehrten aber Gewandten mit Lob erschütten; und da die Einzelnen sich unter einander nur als Hindernisse oder als Werkzeuge betrachten: so werden sie sich als Hindernisse hassen und sich nur noch als Werkzeuge schätzen. Das Verbrechen selbst hat mehr Größe, wenn es aus der Unordnung entflammter Leidenschaften herrührt, als wenn es den persönlichen Vortheil zum Zweck hat. Wie kann man doch der Tugend etwas zum Princip geben, was selbst das Laster entehren würde! 1)

 

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1) In dem Werke Benthams, über die Gesetzgebung, so wie es von Herrn Dumont bekannt gemacht, oder vielmehr aufgehellt ist, giebt es verschiedene Raisonnements über das Princip des Nützlichen, welche in mehr als einer Hinsicht mit dem System einer auf persönlichen Vortheil gestützten Moral übereinstimmen. Die bekannte Anekdote vom Aristides, welcher einen Entwurf des Themistokles verwerfen machte, indem er den Atheniensern sagte: dieser Entwurf sey zwar vortheilhaft, aber ungerecht, wird von Herrn Dumont angeführt! [143] aber er bezieht die Folgerungen, die man aus diesem Zuge, wie aus so vielen anderen, herleiten kann, auf die allgemeine Nützlichkeit, welche Bentham zur Grundlage aller Pflichten macht. Der Vortheil jedes Einzelnen, sagt er, muß dem Nutzen aller aufgeopfert werden; so wie der Vortheil des Augenblicks dem der Zukunft, indem er einen Schritt vorwärts thut. Zugeben könnte man, die Tugend bestehe darin, daß man die Zeit der Ewigkeit aufopfert, und diese Art von Berechnung würde von den Anhängern des Enthusiasmus nicht getadelt werden: aber welche Anstrengungen auch ein so überlegener Mann, wie Herr Dumont ist, versuchen möge, um dem Sinn der Nützlichkeit eine größere Ausdehnung zu geben: so kann er doch niemals machen, daß dies Wort mit dem Worte Aufopferung synonym werde. Er sagt, die erste Triebfeder menschlicher Handlungen sey das Vergnügen und der Schmerz: und er setzt alsdann voraus, das Vergnügen edler Gemüther bestehe darin, daß sie sich freiwillig materiellen Leiden aussetzen, um Freuden einer höheren Gattung zu erwerben. Unstreitig ist es leicht, aus jedem Worte einen Spiegel zu machen, welcher alle Ideen reflektirt; will man sich aber an die natürliche Bezeichnung jedes Ausdrucks halten, so wird man finden, daß der Mensch, welchem gesagt wird, sein eigenes Glück müsse der Zweck aller seiner Handlungen seyn, dadurch nicht verhindert werde, das Böse zu thun, was ihm ansteht, es sey denn durch die Furcht oder die Gefahr, bestraft zu werden – eine Furcht, über welche sich die Leidenschaft hinaussetzt – eine Gefahr, welcher zu entkommen der Gewandte sich schmeicheln [144] darf. Aber, worauf gründet ihr – wird man fragen, die Idee des Gerechten und Ungerechten, wenn ihr sie nicht auf das gründet, was der Mehrheit nützlich oder schädlich ist? Für Individuen besteht das Gerechte in ihrer Aufopferung an ihre Familie; für die Familie in der Aufopferung ihrer selbst an den Staat, und für den Staat in der Achtung gegen gewisse unveränderliche Grundsätze, welche das Glück und die Wohlfahrt des menschlichen Geschlechts zum Zweck haben. Ohne Zweifel wird die Majorität der Geschlechter während der Dauer von Jahrhunderten sich wohl dabei befinden, der Bahn der Gerechtigkeit gefolgt zu seyn; aber um wahrhaft und religiös ehrlich zu seyn, muß man immer den Anbau des moralisch Schönen unabhängig von allen Umständen, welche daraus hervorgehen können, im Auge behalten. Die Nützlichkeit wird nothwendig durch die Umstände modificirt; die Tugend darf es niemals werden.