BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Dritter Theil. I. Abtheilung.

 

___________________________________________________________

 

 

 

Dreizehntes Capitel.

 

――――――

 

Von der auf das National-Interesse

gegründeten Moral.

 

Die auf den persönlichen Eigennutz gegründete Moral bringt nicht blos in die Verhältnisse der Individuen [144] unter sich Berechnungen der Klugheit und des Egoismus, welche die Sympathie, das Vertrauen und die Großmuth aus denselben verbannen; auch die Moral der Staatsmänner, derjenigen, die im Namen der Nationen unterhandeln, muß durch dieses System nothwendig verkehrt werden.

Wenn es wahr ist, daß die Moral der Individuen auf ihren Vortheil gegründet werden kann: so ist es nur deshalb wahr, weil die ganze Gesellschaft zur Ordnung hinstrebt, und denjenigen bestraft, der sich davon zu entfernen gedenkt. Aber eine Nation, vorzüglich aber ein mächtiger Staat, ist ein vereinzeltes Wesen, welches die Gesetze der Gegenseitigkeit nicht erreichen können. Mit Wahrheit läßt sich behaupten, daß ungerechte Nationen nach einer Reihe von Jahren dem Hasse unterliegen, welche ihre Ungerechtigkeiten einflößen; allein [145] mehrere Generationen können verschwinden, ehe so ungeheure Fehler bestraft werden, und ich wüßte nicht, wie man dem Staatsmanne unter allen Umständen beweisen wollte, daß der eine oder der andere Entschluß, obgleich verdammlich in sich selbst, nicht nützlich sey, und daß die Moral und die Politik immer im Einverständniß sind. Auch beweiset man es nicht, und es steht beinahe als Grundsatz fest, daß sie nicht zu vereinigen sind.

Was würde indeß aus dem menschlichen Geschlechte werden, wenn die Moral nichts anderes wäre, als ein altes Weibermärchen, gut genug, die Schwachen bis zu dem Zeitpunkte zu trösten, wo sie die Stärkeren geworden sind? Wie könnte sie für Privat-Verhältnisse in Ehren bleiben, wenn man darüber einig wäre, daß der Gegenstand aller Blicke, die Regierung, ohne sie fertig werden könne? Und warum sollte man darüber nicht einig seyn, wenn der Eigennutz die Grundlage der Moral ist? Es läßt sich nicht läugnen, daß es Umstände giebt, wo diese große Massen, welche man Reiche nennt, diese im Naturzustande gegen einander befindlichen Massen, einen augenblicklichen Vortheil dabei finden, daß sie eine Ungerechtigkeit begehen; aber die folgende Generation hat beinahe beständig dafür gebüßt.

Kant hat in seiner politischen Moral mit ungemeiner Stärke bewiesen, daß in dem Codex der Pflichten keine Ausnahme gestattet werden kann. Und in Wahrheit, wenn man, um eine unmoralische Handlung zu entschuldigen, sich auf die Umstände stützt, auf welches Princip könnte man sich gründen, um da und da stille zu stehen? Werden die ungestümsten natürlichen Leidenschaften nicht noch weit leichter [146] gerechtfertigt werden, als die Berechnungen der Vernunft, wenn man das öffentliche oder das besondere Interesse als eine Entschuldigung der Ungerechtigkeit zuließe?

Als man in der blutigsten Periode unserer Revolution alle Verbrechen autorisiren wollte, nannte man die Regierung einen Ausschuß der öffentlichen Wohlfahrt. Dieß hieß jene Maxime, daß die Wohlfahrt des Volks das höchste Gesetz ist, ins Licht stellen. Aber das höchste Gesetz ist die Gerechtigkeit; und wenn bewiesen werden könnte, daß man den irdischen Vortheilen eines Volks durch eine Niederträchtigkeit oder Ungerechtigkeit nütze: so würde man durch Begehung derselben nicht minder verworfen und verbrecherisch seyn; denn die Unverletzbarkeit der Grundsätze der Moral bedeutet mehr, als die Interessen der Völker. Das Individuum und die Gesellschaft sind vor allen Dingen verantwortlich für das himmlische Erbtheil, welches den nachfolgenden Geschlechtern des menschlichen Geschlechts übermacht werden soll. Der Stolz, die Großmuth, die Billigkeit, kurz alle edlen Gefühle müssen erst auf unsere Kosten, und dann auch auf Kosten Anderer gerettet werden, weil die Anderen sich, wie wir, diesen Gefühlen ausopfern sollen. Die Ungerechtigkeit opfert immer irgend einen Theil der Gesellschaft dem anderen aus. Bis zu welchem arithmetischen Calcul ist dieses Opfer geboten? Kann die Mehrzahl über die Minderzahl verfügen, wenn die eine nur durch wenige Stimmen über die andere siegt? Die Mitglieder einer Familie, eine Gesellschaft von Kaufleuten. der Adel, die Geistlichkeit, wie zahlreich sie immer seyn mögen, haben nicht das Recht, zu behaupten, alles [147] müsse ihrem Vortheil weichen; allein, wenn eine Vereinigung, wäre sie auch so unbeträchtlich, wie die Römer in ihrem ersten Ursprunge – wenn, sag' ich, diese Vereinigung sich Nation nennt: so soll ihr alles erlaubt seyn, um sich Vortheile zuzuwenden! Das Wort: Nation würde alsdann gleichbedeutend seyn mit dem Legion: welches sich der Teufel im Evangelium beilegt. Gleichwol giebt es für eine Nation keinen Beweggrund mehr zur Aufopferung der Pflicht, als für jede andere Menschenklasse.

Es ist nie die Menge der Individuen, welche ihre Wichtigkeit in moralischer Hinsicht darstellt. Stirbt ein Unschuldiger auf dem Schaffot: so beschäftigen sich ganze Generationen mit seinem Unglück, während tausende von Menschen in Schlachten sterben, ohne daß man nach ihrem Schicksal frägt. Woher dieser auffallende Unterschied, welchen alle Menschen zwischen einer Ungerechtigkeit, die einem Einzigen zugefügt wird, und dem Tode von Mehreren machen? Dies rührt von dem Gewicht her, welches alle auf das moralische Gesetz legen; dieses ist im Universum, und in dem Gemüthe eines Jeden, das auch ein Universum ist, tausendmal mehr, als das physische Leben.

Macht man aus der Moral nur eine Berechnung der Klugheit und Weisheit, eine häusliche Wirthschaft: so ist es beinahe Energie, nichts mit dieser Moral zu schaffen zu haben. Eine Art von Lächerlichkeit frisst die Staatsmänner, die das bewahren, was man romanhafte Maximen, treue Erfüllung eingegangener Verbindlichkeiten, Achtung für individuelle Rechte u. s. w. nennt. Privat-Personen, welche auf ihre eigene Kosten betrogen seyn wollen, verzeihet man diese Gewissensskrupel; aber ist von [148] Solchen die Rede, die über das Schicksal der Völker verfügen: so soll es Umstände geben, wo man sie wegen ihrer Gerechtigkeit tadeln, wegen ihrer Rechtlichkeit anklagen könne; denn, wenn die Privat-Moral auf den persönlichen Eigennutz gegründet ist, um wie vielmehr muß es die öffentliche Moral auf das National-Interesse seyn! Gleichwohl konnte diese Moral gelegenheitlich aus den größten Verbrechen eine Pflicht machen; so leicht ist es, denjenigen zur Abgeschmacktheit hinzuführen, der sich von den einfachen Grundlagen der Wahrheit entfernt. Rousseau hat gesagt: es sey einer Nation nicht erlaubt, die allerwünschenswertheste Umwälzung mit dem Blute eines Unschuldigen zu erkaufen; und diese einfachen Worte enthalten alles, was in der Bestimmung des Menschen wahr, heilig und göttlich ist.

Zuverlässig sind uns Gewissen und Religion nicht geschenkt worden, um der Vorzüge dieses Lebens willen, oder um einigen Tagen unseres Daseyns ein Paar Genüsse mehr zuzuwenden, oder den Tod einiger Sterbenden ein wenig zu verzögern. Gegeben sind sie uns, damit Geschöpfe, die einen freien Willen besitzen, mit Aufopferung des Nützlichen das Gerechte wählen, der Gegenwart die Zukunft vorziehen, wie dem Sichtbaren das Unsichtbare, und der Erhaltung von Individuen die Würde des menschlichen Geschlechtes.

Individuen sind tugendhaft, wenn sie ihr besonderes Interesse dem allgemeinen zum Opfer bringen; aber Regierungen werden ihrerseits zu Individuen, welche ihre persönlichen Vortheile dem Gesetz der Pflicht aufopfern müssen. Wenn die Moral der Staatsmänner nur auf die öffentliche Wohlfahrt [149] gegründet wäre: so könnte sie, wo nicht immer, doch wenigstens bisweilen, zum Verbrechen führen, und es ist mit einer gerechtfertigten Ausnahme genug, wenn es keine Moral in der Welt mehr geben soll. Denn alle wahren Grundsätze sind absolut: wenn zweimal zwei nicht vier macht, so sind die gründlichsten Berechnungen der Algebra abgeschmackt, und wenn es in der Theorie einen einzigen Fall giebt, wo der Mensch seine Pflicht aufopfern kann: so sind alle philosophischen und religiösen Maximen über den Haufen geworfen, und was übrig bleibt, ist ein Bodensatz von Klugheit und Heuchelei.

Es sey mir erlaubt, das Beispiel meines Vaters anzuführen, weil es so unmittelbare Beziehung hat auf die Frage, die hier verhandelt wird. Man hat so oft wiederholt, daß Herr Necker die Menschen nicht kenne, weil er sich bei vielen Gelegenheiten den Mitteln der Bestechung und Gewaltthätigkeit versagte, deren Vortheile man für zuverlässig hielt. Ich wage die Behauptung, Niemand könne die Werke Herrn Neckers, seine Geschichte der französischen Revolution, die Abhandlung über die vollziehende Macht in den großen Staaten u. s. w. lesen, ohne in ihnen lichte Ansichten vom menschlichen Herzen zu finden; und von Allen, welche in einer vertrauten Verbindung mit Herrn Necker gelebt haben, wird mich keiner der Lüge zeihen, wenn ich sage, daß er sich, trotz seiner bewundernswürdigen Güte, gegen eine sehr lebendige Neigung zur Spötterei, und gegen eine vielleicht allzu strenge Manier über die Mittelmäßigkeit des Geistes oder des Gemüths abzuurtheilen, zu verwahren hatte. Was er über das Glück der Albernen [150] geschrieben hat, ist hinreichend, dies zu beweisen. Indem er mit allen seinen übrigen Eigenschaften die eines Mannes von Geist in einem sehr hohen Grade verband, übertraf Niemand ihn in der feinen und tiefen Kenntniß Derer, mit welchen er in Verbindung stand; aber er hatte sich einmal, vermöge eines Acts seines Gewissens, zum Gesetz gemacht, vor den Folgen eines durch die Pflicht gebotenen Entschlusses nicht zurückzubeben, von welcher Beschaffenheit sie auch seyn möchten. Ueber die Ereignisse der Revolution kann man verschiedentlich urtheilen; aber ein unpartheiischer Beobachter derselben wird, glaub' ich, nicht läugnen können, daß ein solches Princip, in der höchsten Allgemeinheit angenommen, Frankreich vor allen den Uebeln bewahrt haben würde, unter welchen es geseufzet hat, und, was noch schlimmer ist, vor dem Beispiel, das von uns ausgegangen ist.

Während der jammervollsten Epochen des Schreckens haben mehrere ehrliche Leute Aemter in der Verwaltung angenommen, sogar bei Criminal-Gerichtshöfen, entweder um darin Gutes zu stiften, oder um das Böse, das daselbst begangen wurde, zu vermindern; und alle stützten sich auf ein allgemein angenommenes Raisonnement, nemlich, daß sie einen Bösewicht verhinderten, in den Besitz eines von ihnen besetzten Postens zu kommen, und daß sie auf diese Art den Unterdrückten Dienste leisteten. Sich schlechte Mittel erlauben, um zu einem Zweck zu gelangen, den man für gut hält, ist eine in ihrem Princip durchaus fehlerhafte Maxime des Betragens. Die Menschen wissen nichts von der Zukunft, nichts von sich selbst, was den morgenden Tag vorgeht; unter allen Umständen, in [151] allen Augenblicken des Lebens ist die Pflicht der Gebieter, und die Combinationen des Geistes über die vorherzusehenden Folgen, müssen in gar keinen Anschlag gebracht werden.

Mit welchem Rechte behaupteten Menschen, welche die Werkzeuge einer factiösen Obrigkeit waren, den Titel rechtlicher Männer, weil sie das Ungerechte mit Milde thaten. Weit besser wäre es gewesen, wenn es mit rohem Ungestüm vollbracht worden wäre; denn alsdann hätte es sich schwerer ertragen lassen, und von allen Zusammenstellungen ist die eines blutigen Decrets und eines gutmüthigen Vollstreckers die verderblichste.

Wie viel Gutes man auch im Einzelnen übe, nie wiegt es das Böse auf, das man dadurch stiftet, daß man der Parthei, welcher man dient, seinen Namen zum Stützpunkt leihet. Man muß es auf Erden laut sagen, daß man sich zur Tugend bekennet, damit nicht nur unsere Zeitgenossen, sondern auch die Bürger künftiger Jahrhunderte den Einfluß davon empfinden mögen. Das Uebergewicht eines muthigen Beispiels dauert noch Jahrhunderte fort, wenn die Gegenstände eines flüchtigen Erbarmens längst verschwunden sind. Die Lehre, welche man den Leuten in dieser Welt, vorzüglich in der Bahn des öffentlichen Lebens, geben muß, ist: „keiner Betrachtung Raum zu geben, wenn es auf Erfüllung der Pflicht ankommt.“

Alles ist verloren, wenn man erst anfängt, mit den Umständen zu unterhandeln; denn wer befände sich wohl nicht in Umständen? Diese haben Frau und Kinder, wenigstens Neffen, um derentwillen sie ihr Glück machen müssen; jene fühlen das Bedürfniß der Thätigkeit, der Beschäftigung, und haben [152] Gott weiß wie viel Tugenden, welche alle zu der Nothwendigkeit führen, ein Amt zu bekleiden, mit welchem Einkünfte und Macht verbunden sind. Ist man denn der Ausflüchte nicht überdrüssig, zu welchen die Revolution unablässig das Beispiel gegeben hat? Man begegnete immer nur Leuten, welche sich darüber beklagten, daß man sie gezwungen hätte, ihre, ihnen über alles werthe Ruhe zu verlassen, und ein häusliches Leben, in welches sie zurückzutreten wünschten, aufzugeben; und hinterher erfuhr man, daß eben diese Leute Tag und Nacht beschäftigt gewesen waren, zu bitten, daß man sie doch zwingen möchte, sich der öffentlichen Sache zu widmen, die ohne sie sehr wohl bestehen konnte 1).

Die Gesetzgeber des Alterthums machten es den Bürgern zur Pflicht, sich in die politischen Angelegenheiten zu mischen. Die christliche Religion muß eine Bestimmung ganz anderer Art einflößen, nemlich die, der Obrigkeit zu gehorchen, aber sich von allen Staatsgeschäften fern zu halten, wenn sie das Gewissen belästigen. Der Unterschied zwischen den alten und den neueren Regierungen erklärt diese Entgegengesetztheit in der Art und Weise, die Beziehungen der Menschen auf ihr Vaterland zu betrachten.

Die politische Wissenschaft der Alten war mit der Religion und der Moral auf das innigste verwebt. Der gesellschaftliche Zustand war ein Körper voll Leben. Jedes Individuum betrachtete sich als [153] ein Mitglied desselben. Die Kleinheit der Staaten, die große Anzahl der Sklaven, welche die der Bürger noch mehr verringerte, alles legte die Pflicht auf, für ein Vaterland zu handeln, das eines jeden seiner Söhne bedurfte. Die Magisträte, die Krieger, die Künstler, die Philosophen und selbst die Götter vermischten sich auf dem öffentlichen Platze, und dieselben Menschen gewannen abwechselnd eine Schlacht, stellten Meisterstücke auf, gaben ihrem Vaterlande Gesetze, oder suchten die des Universums zu entdecken.

Nimmt man die sehr geringe Zahl der freien Regierungen aus: so hat die Größe der Staaten bei den Modernen und die Concentration der Gewalt in den Personen der Monarchen, die Politik, so zu sagen, ganz negativ gemacht. Es kommt darauf an, sich einander nicht zu schaden, und die Regierung ist mit jener hohen Polizei beauftragt, welche jedem erlaubt, die Vortheile des Friedens und der gesellschaftlichen Ordnung zu genießen, indem er diese Sicherheit durch angemessene Opfer erkauft. Der göttliche Gesetzgeber befahl also eine, der Lage der Welt zur Zeit der römischen Herrschaft sehr angemessene Moral, als er aus der Bezahlung des Tributs und aus der Unterwerfung unter die Regierung in allem, was die Pflicht nicht verbietet, ein Gesetz machte; aber er ermahnte auch mit der größten Stärke zu einem Privat-Leben.

Menschen, welche ihre individuellen Neigungen gern in ein System bringen möchten, vermischen die Moral des Alterthums mit der christlichen. Man muß, sagen sie, wie die Alten, seinem Vaterlande dienen, nicht ein unnützer Bürger im Staate seyn; man muß, sagen sie wiederum, wie die Christen, [154] sich der von Gott eingesetzten Obrigkeit unterwerfen. Auf diese Weise bringt das System der Schwerkraft in seiner Vermischung mit dem der Thatkraft eine doppelte Immoralität hervor, während beide, gehörig von einander gesondert, Anspruch auf Achtung hätten. Die Thatkraft der griechischen und römischen Bürger, wie sie in einer Republik geübt werden konnte, war eine edle Tugend. Auch die christliche Schwerkraft ist eine und zwar von großer Bedeutung; denn das Christenthum, das man der Schwäche anklagt, ist seinem Geiste nach unüberwindlich, d. h. in der Energie der Weigerung. Aber der listige Egoismus ehrgeiziger Menschen lehrt sie die Kunst, entgegenstehende Raisonnements zu vereinigen, um sich, wie Heiden, in Alles zu mischen, und sich, wie Christen, Allem zu unterwerfen.

 

„Das Universum, Freund, denkt nicht an dich“,

 

könnte man jetzt der ganzen Welt ohne Ausnahme sagen, die Phänomene ausgenommen. Es würde eine recht lächerliche Eitelkeit seyn, die politische Thätigkeit in allen Fällen durch den Vorwand zu beschönigen, als könne man seinem Vaterlande nützlich seyn. Diese Nützlichkeit ist fast immer ein pompöser Name, womit man seinen persönlichen Vortheil bekleidet.

Die Kunst der Sophisten bestand immer darin, die Pflichten einander entgegen zu setzen. Man hört nicht auf, Umstände zu erdenken, in welchen diese abscheuliche Verwickelung Statt finden könnte. Der größte Theil der dramatischen Dichtungen ist hierauf gegründet. Das wirkliche Leben ist indeß weit einfacher. Hier sieht man oft die Tugenden im Kampf mit den Vortheilen; aber vielleicht ist es [155] wahr, daß ein rechtlicher Mann nie bei irgend einer Veranlassung über das, was die Pflicht gebot, in Zweifel war. Zwar ist das Gewissen so zart, daß man es leicht ersticken kann; aber es ist zugleich so rein, daß es unmöglich ist, seine Stimme zu verkennen.

Eine bekannte Maxime enthält in höchst einfacher Form die ganze Theorie der Moral: Thue, was die Pflicht fordert, entstehe daraus, was da wolle. Stellt man im Gegentheil fest, die Rechtschaffenheit eines Staatsmannes bestehe darin, den zeitlichen Vortheilen seiner Nation Alles auszuopfern: so können sich viele Gelegenheiten darbieten, wo man aus Moralität unmoralisch werden müßte. Dies Sophisma ist im Wesen eben so widerspruchsvoll, wie in der Form: denn dies hieße, die Tugend wie eine Vermuthungswissenschaft behandeln, welche in ihrer Anwendung gänzlich den Umständen unterthan ist. Bewahre doch Gott das menschliche Herz vor einer solchen Verantwortlichkeit! Die Aufklärung unseres Verstandes ist allzu unsicher, als daß wir im Stande wären, über den Augenblick zu urtheilen, wo die ewigen Gesetze der Pflicht außer Kraft gesetzt werden könnten. Oder vielmehr, dieser Augenblick existirt nicht.

Wenn es einmal allgemein anerkannt wäre, daß selbst das National-Interesse sich den erhabenen Gedanken, aus welchen die Tugend besteht, untergeordnet sey, wie leicht würde dann dem Gewissenhaften zu Muthe seyn! Wie würde ihm in der Politik alles klar werden, während bis dahin ein ewiges Zagen ihn bei jedem Schritte zittern machte! Dies Zagen gerade hat bewirkt, daß man alle ehrlichen Leute, als der Staatsgeschäfte unfähig, [156] betrachtet hat; man beschuldigte sie der Kleinmüthigkeit, der Bangigkeit, der Furcht, und nannte dagegen Solche, welche den Schwachen dem Mächtigen, und ihre Bedenken ihrem Vortheil leichtsinnig aufopferten, energische Männer. Indeß ist das eine leichte Energie, welche nur auf unseren Vortheil abzweckt, oder auch auf den Vortheil einer herrschenden Faction; denn alles, was in dem Sinn der großen Menge gethan wird, ist immer Schwäche, wie kräftig es auch scheinen möge.

Mit lautem Geschrei fordert das menschliche Geschlecht, daß man seinem Vortheil Alles ausopfere, und giebt dabei eben diesen Vortheil dadurch preis, daß es ihm Alles opfern will. Aber es dürfte endlich Zeit seyn, ihm zu sagen, daß selbst sein Glück, das man so oft als Deckmantel gebraucht hat, nur in seinem Verhältnisse zur Moral geheiligt ist; denn was werden ohne diese Alle Jedem Einzelnen verschlagen? Hat man einmal gesagt, daß man die Moral dem National-Interesse ausopfern müsse, so ist man nahe daran, das Wort Nation immer enger und enger zu nehmen, und erst seine Anhänger, dann seine Freunde, und zuletzt seine Familie daraus zu machen, welches nur ein anständiger Ausdruck ist, um sich selbst zu bezeichnen.

 

――――――――

 

1) Diese Stelle machte bei der Censur den meisten Lärm. Hätte man nicht meinen sollen, diese Bemerkungen könnten verhindern, Aemter zu erhalten und vorzüglich, um Aemter zu bitten.