BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Dritter Theil. I. Abtheilung.

 

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[165]

Fünfzehntes Capitel.

 

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Von der wissenschaftlichen Moral.

 

Seitdem der Geschmack für die strengen Wissenschaften sich der Geister bemächtigt hat, hat man Alles beweisen wollen; und da der Probabilitäts-Calcul selbst das Ungewisse der Regel zu unterwerfen erlaubte: so hat man sich geschmeichelt, alle die Schwierigkeiten zu lösen, welche die allerzartesten Fragen darleiten konnten, und so die Algebra im Universum vorherrschend zu machen.

Auch in Deutschland haben Philosophen es darauf angelegt, der Moral die Vorzüge einer Wissenschaft zu verschaffen, welche in ihren Principen wie in ihren Folgerungen streng bewiesen wäre, und sobald die erste Grundlage angenommen ist, keinen Einwand, keine Ausnahme gestattete. Kant und Fichte haben diese metaphysische Arbeit übernommen, und Schleiermacher, der Uebersetzer des Platon und Verfasser mehrerer Abhandlungen über die Religion, von welchen wir in dem nächsten Abschnitte reden werden, hat ein sehr gründliches Werk über die Prüfung der verschiedenen Moralen, als Wissenschaft betrachtet, bekannt gemacht. Er möchte eine finden, deren sämmtliche Raisonnements vollkommen verkettet wären, deren Princip alle Folgerungen in sich schlösse, so daß jede Folgerung das Princip wieder erkennen ließe: aber bis jetzt scheint es nicht, als wenn dieser Zweck erreicht werden könne.

Selbst die Alten haben aus dieser Moral eine Wissenschaft machen wollen; aber sie begriffen in diese Wissenschaft die Gesetze und die Regierungen. In Wahrheit, es ist unmöglich, alle Pflichten des [166] Lebens zum voraus festzustellen, wenn man nicht weiß, was die Gesetze und die Sitten des Landes, in welchem man sich befindet, fordern können; und nach diesem Gesichtspunkt hat Platon seine Republik ersonnen. Der ganze Mensch ist darin in Beziehung auf Religion, Politik und Moral gedacht; da aber diese Republik, man kann nicht begreifen, weshalb, nicht mitten unter den Mißbräuchen der menschlichen Gesellschaft existiren könnte: so könnte ein moralischer Codex, wie er auch beschaffen wäre, die gewöhnliche Auslegung des Gewissens entbehren. In allen Dingen verlangen Philosophen die wissenschaftliche Form; man möchte sagen, sie schmeichelten sich, auf diesem Wege die Zukunft in Fesseln zu schlagen und sich dem Joch der Umstände gänzlich zu entziehen. Allein das, was uns davon befreiet, ist unser Gemüth, ist die Aufrichtigkeit unserer innigen Liebe für die Tugend. Die Wissenschaft der Moral lehrt eben so wenig, ein rechtschaffener Mensch zu seyn – dies Wort in seinem höchsten Umfange genommen – wie die Geometrie zeichnen, oder die Poetik glückliche Erdichtungen finden lehrt.

Kant, welcher die Nothwendigkeit des Gefühls in allen metaphysischen Wahrheiten anerkannte, hat dasselbe in der Moral entbehren wollen; und er hat niemals noch etwas mehr auf eine unbestreitbare Weise feststellen können, als ein großes Factum des menschlichen Herzens, nemlich daß die Moral die Pflicht, nicht den Eigennutz zum Grunde habe. Gleichwol muß man, um die Pflicht zu kennen, an das Gewissen und die Religion appelliren. Indem Kant die Religion von den Beweggründen der Moral schied, konnte er in dem Gewissen nur [167] einen Richter, nicht eine göttliche Stimme sehen; auch hat er nicht aufgehört, diesem Richter kitzliche Fragen vorzulegen. Die Auflösungen, die er gegeben hat, und die er für evident hielt, sind deshalb nicht minder auf tausendfache Art angegriffen worden; denn nur auf dem Wege des Gefühls gelangt man zur Einhelligkeit der Meinungen unter den Menschen.

Einige deutsche Philosophen begriffen die Unmöglichkeit, alle Affectionen, welche unser Wesen ausmachen, in Gesetze zu kleiden, und aus allen Bewegungen des Herzens, so zu sagen, eine Wissenschaft zu machen. Diese begnügten sich mit der Behauptung, die Moral bestehe in der Harmonie mit sich selbst. Unstreitig ist es wahrscheinlich, daß man kein Verbrecher ist, wenn man keine Gewissensbisse empfindet; und selbst wenn man in der Meinung Anderer Fehler begangen, ist man nicht schuldig, wenn man in der eigenen Meinung seine Pflicht gethan hat. Indeß muß man dieser Zufriedenheit mit sich selbst, welche den besten Beweis von der Tugend ablegen zu müssen scheint, nicht zu sehr vertrauen. Denn es giebt Menschen, mit welchen es dahin gekommen ist, daß sie ihren Stolz für Gewissen halten; für Andere ist der Fanatismus ein uneigennütziger Bewegungsgrund, der in ihren Augen Alles rechtfertigt; und endlich giebt die Gewohnheit des Verbrechens gewissen Charakteren eine Art von Stärke, die sie wenigstens so lange von der Reue befreiet, als sie nicht vom Unglück erreicht werden.

Aus dieser Unmöglichkeit, die Moral zu einer Wissenschaft auszubilden, oder allgemeine Kennzeichen aufzufinden, an welchen man wahrnehmen kann, ob ihre Vorschriften befolgt werden, folgt indeß gar [168] nicht, daß es nicht positive Pflichten gebe, die uns zu Führern dienen müssen. Allein, da in der Bestimmung des Menschen Nothwendigkeit und Freiheit ist: so muß es auch in seinem Betragen Begeisterung und Regel geben. Nichts von dem, was mit der Tugend in Verbindung steht, kann als ganz willkührlich oder als ganz festgestellt gedacht werden. Auch besteht eins von den Wundern der Religion darin, daß sie den Aufschwung der Liebe und die Unterwerfung unter das Gesetz mit einander vereinigt; und so wird das Herz des Menschen zugleich befriedigt und regiert.

Ich werde hier nicht Rechenschaft ablegen von allen Systemen wissenschaftlicher Moral, welche in Deutschland erschienen sind; unter ihnen sind einige so fein gesponnen, daß, wiewol sie über unsere eigene Natur handeln, man doch nicht weiß, worauf man sich stützen soll, um sie zu fassen. Die französischen Philosophen haben die Moral ungemein dürftig gemacht, indem sie alles auf den persönlichen Eigennutz bezogen haben. Einige deutsche Metaphysiker sind zu demselben Resultat gelangt, indem sie gleichwol ihre ganze Lehre auf Aufopferungen stützten. Weder die Systeme der Materialisten, noch die abstrakten Systeme vermögen einen vollständigen Begriff von der Tugend zu geben.