BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Dritter Theil. I. Abtheilung.

 

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Achtzehntes Capitel.

 

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Von der romanhaften Stimmung in

den Zuneigungen des Herzens.

 

Die englischen Philosophen haben, wie bemerkt worden ist, die Tugend auf das Gefühl, oder vielmehr auf den moralischen Sinn gegründet. Aber dieses System hat nichts zu schaffen mit der sentimentalen Moralität, von welcher hier die Rede ist; eine Moralität, deren Benennung und Idee nur in Deutschland angetroffen wird, und nichts philosophisches in sich schließt. Sie macht nur die Empfindsamkeit zur Pflicht, und führt zur Misachtung Derer, die sie nicht haben.

Unstreitig ist das Vermögen, zu lieben, der Moral und der Religion sehr nahe verwandt; und so ist es möglich, daß unsere Abneigung von frostigen und harten Gemüthern ein erhabener Instinkt sey, ein Instinkt, welcher uns vorhersagt, daß Wesen dieser Art, selbst wenn ihr Betragen achtungswerth ist, nur mechanisch und aus Berechnung handeln, ohne daß gleichwol zwischen ihnen und uns jemals irgend eine Sympathie Statt finden könne. In Deutschland nun, wo man alle Eindrücke auf Vorschriften zurückbringen will, hat man als unmoralisch betrachtet, was nicht empfindsam und sogar romanhaft war. Werther hatte die exaltirten Gefühle so sehr in Gang gebracht, daß beinahe Niemand gewagt hätte, sich trocken und kalt zu zeigen, selbst wenn dies sein natürlicher Charakter gewesen wäre. Daher der erzwungene Enthusiasmus für den Mond, die Wälder, die Fluren und die Einsamkeit; daher die Nerven-Uebel, die erkünstelten Töne [179] der Stimme, die Blicke, die gesehen seyn wollen, und mit einem Wort, die ganze Rüstkammer von Empfindsamkeit, welche starke und aufrichtige Gemüther verschmähen.

Der Urheber von Werthers Leiden hat zuerst über diese Affectationen gespottet. Indeß, da es einmal in allen Ländern Lächerlichkeiten geben muß, ist es vielleicht besser, daß sie in einer etwas einfältigen Uebertreibung dessen, was gut ist, als in einer eleganten Ansprüchigkeit auf das Böse bestehen. Der Wunsch nach glücklichem Erfolg ist unüberwindlich in Männern, er ist es noch mehr in Weibern; und deshalb sind die Ansprüche der Mittelmäßigkeit ein zuverlässiges Kennzeichen des zu gewissen Zeiten und in gewissen Gesellschaften herrschenden Geschmacks. Dieselben Personen, welche in Deutschland für empfindsam gelten wollten, würden sich anderwärts leichtsinnig und hochfahrend gezeigt haben.

Die ungemeine Empfindlichkeit des Charakters der Deutschen ist eine von den großen Ursachen der Wichtigkeit, welche sie auf die unbedeutendsten Abstufungen des Gefühls legen; und diese Empfindlichkeit steht oft mit der Wahrheit der Affectionen in genauer Verbindung. Es ist nicht schwer, fest zu seyn, wenn man nicht gefühlvoll ist; die einzige Eigenschaft, deren es alsdann bedarf, ist der Muth; denn die wohlgeordnete Strenge muß bei sich selbst anfangen. Aber wenn die Beweise von Theilnahme, die Andere uns verweigern oder geben, auf das Glück einfließen: so ist es unmöglich, daß man in seinem Herzen nicht unendlich mehr Reizbarkeit habe, als Diejenigen, die ihre Freunde wie eine Domäne bewirthschaften, indem sie sich dieselben blos einträglich zu machen suchen. [180]

Indeß muß man sich in Acht nehmen vor den so subtilen und so abgestuften Gefühls-Vorschriften, welche so viele deutsche Schriftsteller vervielfältigt haben, und wovon ihre Romane voll sind. Ihrer Rechtlichkeit, ihrer Aufrichtigkeit in allen reellen Verhältnissen des Lebens gewiß, fühlen sie sich versucht, die Affectation des Schönen als eine Verehrung für das Gute zu betrachten, und sich in dieser Art bisweilen Uebertreibungen zu erlauben, welche alles verderben.

Dieser Wetteifer von Empfindsamkeit zwischen einigen Weibern und einigen Schriftstellern Deutschlands, würde im Grunde sehr unschuldig seyn, wenn das Lächerliche, was man mit der Affectation verbindet, nicht immer eine Art von Ungunst auf die Aufrichtigkeit selbst würfe. Die kalten und selbstischen Männer finden ein besonderes Vergnügen daran, über leidenschaftliche Zuneigungen zu spotten, und möchten alles, was sie nicht selbst empfinden, für erkünstelt ausgeben. Es giebt sogar wahrhaft gefühlvolle Personen, welche die süßliche Uebertreibung über ihre eigenen Eindrücke mit Ekel erfüllt, und denen man einen Widerwillen gegen das Gefühl einflößt, wie man ihnen dergleichen durch langweilige Predigten und abergläubische Uebungen gegen die Religion einflößen würde.

Man thut Unrecht, wenn man die positiven Ideen, die wir von dem Guten und dem Bösen haben, auf die Zartheiten der Empfindsamkeit anwendet. Einem Charakter einen Vorwurf daraus machen, daß ihm in dieser Hinsicht etwas fehlt, ist gerade so, als wenn man Jemand darüber verklagen wollte, daß er kein Dichter ist. Die natürliche Empfindlichkeit Derer, die mehr denken, als sie [181] handeln, kann sie ungerecht machen gegen Personen von einem anderen Schlage. Es bedarf der Einbildungskraft, um zu errathen, welche Leiden das Herz zufügen kann, und die besten Menschen von der Welt sind in dieser Hinsicht oft plump und einfältig; sie gehen über Empfindungen weg, als ob sie über Blumen gingen, sich wundernd, daß sie sie welken machen. Giebt es nicht Menschen, welche den Raphael nicht bewundern, welche die Musik ohne Rührung vernehmen, denen der Ocean und die Himmel nur eintönig scheinen? Wie sollten doch solche die Stürme der Seele begreifen?

Werden selbst die allergefühlvollsten Charaktere in ihren Hoffnungen nicht muthlos gemacht? Können sie nicht von einer Art von innerer Dürre ergriffen werden, als ob die Gottheit sich von ihnen zurückgezogen hätte? Sie bleiben ihren Gefühlen deshalb nicht minder getreu; aber es giebt keinen Weihrauch mehr in dem Tempel, keine Musik mehr im Heiligthume, keine Rührung mehr im Herzen. Bisweilen gebietet auch das Unglück, die Stimme des Gefühls in sich zum Schweigen zu bringen; diese Stimme, welche, je nachdem sie zu dem Verhängniß paßt, oder nicht paßt, harmonisch oder zerreissend ist. Es ist also unmöqlich, aus der Empfindsamkeit eine Pflicht zu machen; denn die, welche sie haben, leiden daran genug, um nicht sehr oft das Recht und den Wunsch zu haben, sie in Schranken einzuschließen.

Glühende Nationen sprechen von der Empfindsamkeit nur mit Schrecken; friedliche und sinnige Nationen hingegen glauben sie ohne Furcht aufmuntern zu können. Uebrigens ist dies ein Gegenstand, über welchen nie mit voller Wahrheit geschrieben [182] worden ist. Die Weiber machen daraus einen Roman, und die Männer eine Geschichte; aber das menschliche Herz ist noch weit davon entfernt, in seinen innigsten Beziehungen ergründet zu seyn. Einmal wird vielleicht Jemand Alles aufrichtig sagen, was er gefühlt hat, und dann wird man darüber erstaunen, daß die meisten Maximen und Beobachtungen irrig sind, und daß im Innern der Seele, welche man beschreibt, noch eine unbekannte Seele ist.