BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Walther von der Vogelweide

nach 1170 - um 1230

 

Sprüche und Lieder

in chronologischer Anordnung

 

Mädchenlieder

ab 1205

 

Under der linden (39,11)

Herzeliebez frouwelîn (49,25)

Bin ich dir unmære (50,19)

Si wunder wol gemachet wîp (53,25)

In einem zwîvellîchen wân (65,33)

«Nemt, frouwe, disen kranz» (74,20)

Diu werlt was gelf, rôt unde blâ (75,25)

Dô der sumer komen was (94,11)

Wol mich der stunde, daz ich si erkande (110,13)

Wer kan nû ze danke singen (110,27)

 

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Under der linden

(Lindenlied. Frauenlied)

I

L 39,11

«Under der linden

an der heide,

dâ unser zweier bette was,

dâ mugent ir vinden

5

schône beide

gebrochen bluomen unde gras.

vor dem walde in einem tal,

tandaradei,

schône sanc diu nahtegal.

 

II

L 39,20

Ich kam gegangen

zuo der ouwe,

dô was mîn friedel komen ê.

dâ wart ich enpfangen,

5

– hêre frouwe! –

daz ich bin sælic iemer mê.

er kuste mich wol tûsent stunt,

tandaradei,

seht wie rôt mir ist der munt.

 

III

L 40,1

Dô hât er gemachet

alsô rîche

von bluomen eine bette stat.

des wirt noch gelachet

5

inneclîche,

kumt iemen an daz selbe pfat.

bî den rôsen er wol mac,

tandaradei,

merken wâ mirz houbet lac.

 

IV

L 40,10

Daz er bî mir læge,

wessez iemen

(nû enwelle got!) sô schamt ich mich.

wes er mit mir pflæge,

5

niemer niemen

bevinde daz wan er und ich

und ein kleinez vogellîn,

tandaradei,

daz mac wol getriuwe sîn.»

 

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Herzeliebez frouwelîn

(Minnelied und Minnereflexion)

I

L 49,25

 

Herzeliebez frouwelîn,

got gebe dir hiute und iemer guot!

kund ich baz gedenken dîn,

des het ich willeclîchen muot.

5

waz mac ich nû sagen mê,

wan daz dir nieman holder ist. owê, dâ von ist mir vil wê!

 

II

L 49,31

Si verkêrent mir daz ich

sô nider wende mînen sanc.

daz si niht versinnent sich,

waz minne sî, des haben undanc!

5

die getraf diu liebe nie,

die nâch dem guote und nâch der schœne minnent. wê wie minnent die!

 

III

L 50,7

Ich vertrage, als ich vertruoc

und iemer mêre wil vertragen.

dû bist schœne und hâst genuoc,

waz mugen si mir dâ von gesagen!

5

swaz si redent – ich bin dir holt

und neme dîn glesîn vingerlîn für einer küneginne golt.

 

IV

L 50,1

Bî der schœne ist dicke haz,

ze der schœne nieman sî ze gâch.

liebe tuot dem herzen baz,

diu schœne gêt der liebe nâch.

5

liebe machet schœne wîp,

des enmac diu schœne niht getuon, si machet niemer lieben lîp.

 

V

L 50,13

Hâst dû triuwe und stætekeit,

sô bin ich des ân angest gar,

daz mir iemer herzeleit

mit dînen schulden wider var.

5

hâst aber dû der zweier niht,

sone müezest dû mir niemer werden. owê danne, ob daz geschiht!

 

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Nemt, frouwe, disen kranz

(Kranz-Tanz-Lied)

I

L 74,20

«Nemt, frouwe, disen kranz»,

alsô sprach ich zeiner wol getânen maget,

«sô zieret ir den tanz

mit den schœnen bluomen als irs ûfe traget.

5

het ich vil edele gesteine,

daz müest ûf iuwer houbet,

ob ir mirs geloubet.

seht mîne triuwe, daz ich ez meine.»

 

II

L 75,9

«Ir sît sô wolgetân,

daz ich iu mîn schapel gerne geben wil,

daz beste, daz ich hân.

wîzer unde rôter bluomen weiz ich vil,

5

die stênt sô verre in jener heide.

dâ si schône entspringent

und die kleinen vogele singent,

dâ suln wir si brechen beide.»

 

III

L 74,28

Si nam daz ich ir bôt,

einem kinde vil gelîch, daz êre hât.

ir wangen wurden rôt

sam diu rôse, dâ si bî lilien stât.

5

des erschamten sich ir liehten ougen.

dô neic si mir vil schône.

daz wart mir ze lône:

wirt mirs iht mêr, daz trage ich tougen.

 

IV

L 75,1

Mir ist von ir geschehen,

daz ich disen sumer allen meiden muoz

vaste under diu ougen sehen:

lîhte wirt mir einiu, sô ist mir sorgen buoz.

5

waz, ob si gêt an disem tanze?

«frouwe, dur iur güete

rucket ûf die hüete.»

owê, gesæhe ichs under kranze!

 

V

L 75,17

Mich dûhte, daz mir nie

lieber wurde, danne mir ze muote was.

die bluomen vielen ie

von dem boume bî uns nider an daz gras.

5

seht, dô muost ich von fröiden lachen,

dô ich sô wunneclîche

was in troume rîche.

dô taget ez und muos ich wachen!

 

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Diu werlt was gelf, rôt unde blâ

(Vokalspiel. Winterklage)

I

L 75,25

Diu werlt was gelf, rôt unde blâ,

grüene in dem walde und anderswâ,

die kleine vogel sungen dâ.

nû schrîet aber diu nebelkrâ.

5

hât si iht ander varwe? jâ,

si ist worden bleich und übergrâ,

des rimpfet sich vil manic brâ.

 

II

L 75,32

Ich saz ûf einem grüenen lê,

dâ entsprungen bluomen unde klê,

zwischen mir und jenem sê.

der ougenweide was dâ mê.

5

dâ wir schapel brâchen ê,

dâ lît nû rîfe und ouch der snê.

daz tuot den vogellînen wê.

 

III

L 76,1

Die tôren sprechent «snîâ snî!»

die arme liute «owî owî!»

des bin ich swære alsam ein blî.

der winters sorge hân ich drî:

5

swaz der und ouch der ander sî,

der wurde ich alse schiere frî,

wær uns der sumer nâhe bî.

 

IV

L 76,8

Ê danne ich lange lebt alsô,

ê wolde ich ezzen den krebeze rô.

sumer, mache uns aber frô!

du zierest anger unde lô.

5

mit den bluomen spilt ich dô,

mîn herze swebt in sunnen hô,

daz jaget der winter in ein strô.

 

V

L 76,15

Ich bin verlegen als Êsaû,

mîn sleht hâr ist mir worden rû.

süezer sumer, wâ bist dû?

jâ sæhe ich gerne veltgebû.

5

ê daz ich lange in selher drû

beklemmet wære, als ich bin nû,

ich wurde ê münch ze Toberlû.

 

 

Vokalspiel von Ulrich von Singenberg

im Anschluß an Walther

 

Quelle: Ulrich von Singenberg 27, in: Die Schweizer Minnesänger. Hrsg. von Karl Bartsch.

Neubearbeitet von Max Schiendorfer. Bd. 1: Texte. Tübingen 1990

 

I

Sol ich mich rihten nâch dem Â,/

daz kan ich wol gezeigen, wâ:

da kêr ich ûf des meisters slâ,

der ê sanc von der nebelcrâ.

5

vinde ich niht meisterschefte dâ,

noch kêr ich mich herwider sâ

und kloph ich anderswar darnâ.

 

II

Genuoge sprechent: 'sing als ê,

prüefe uns die bluomen und den clê!'

die wellent niht, daz ich verstê,

waz mir daran ze herzen gê.

5

swie vil ich in hievor geschrê,

daz tet in in den ôren wê:

nu wil ich sî niht touben mê.

 

III

Ich mac wol sprechen baz 'owî'

dan ieman, der nu lebende sî.

mir wont ein ungemüete bî,

daz swære machet als ein blî.

5

und hæt ich mîner crefte drî,

ich dorte als ein ervroren zwî,

diu liebe tuo mich sorgen vrî.

 

IV

Ich vreute mich: do stuont ez sô.

owê, wan wære ez alse dô,

so stüende mîn gemüete hô!

dur vorhte lieze ich noch dur drô,

5

ine wurde noch wol also vrô:

zuo mînen froiden, der sint zwô,

hæt ich die schœnen ûf ein strô.

 

V

Ich mac wol wunder schrîen 'wû!'

daz ich bin sô verdorben nû.

ja, herre got, wan woldes dû,

daz ich niht læge in leides drû!

5

ine hân den aker noch den bû,

mîn sleht ist allez worden rû,

des muoz ich lîden spottes hû.