BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Walther von der Vogelweide

nach 1170 - um 1230

 

Sprüche und Lieder

in chronologischer Anordnung

 

Ottenton

(März 1212)

 

Hêr keiser, ir sît willekomen (11,30)

Hêr keiser, ich bin frônebote (12,6)

Hêr keiser, swenne ir tiutschen fride (12,18)

Hêr bâbest, ich mac wol genesen (11,6)

Got gît ze künige, swen er wil (12,30)

Dô gotes sun hie in erde gie (11,18)

 

______________________________________________________________

 

 

 

I

Hêr keiser, ir sît willekomen

(Kaiserbegrüßung)

L 11,30

Hêr keiser, ir sît willekomen.

des küniges name ist iu benomen,

des schînet iuwer krône ob allen krônen.

iuwer hant ist kreftic, guotes vol,

5

ir wellet übel oder wol,

so muget ir beidiu rechen unde lônen.

dar zuo sag ich iu mære:

die fürsten sint iu undertân

und habent mit zühten iuwer kunft erbeitet.

10

und ie der Mîssenære,

der ist iemer iuwer âne wân,

von gote wurde ein engel ê verleitet.

 

 

II

Hêr keiser, ich bin frônebote

(Botenstrophe)

L 12,6

Hêr keiser, ich bin frônebote

und bringe iu boteschaft von gote.

ir habt die erde, er hât daz himelrîche.

er hiez iu klagen, ir sît sîn voget,

5

in sînes sunes lande broget

diu heidenschaft, iu beiden lasterlîche.

ir muget im gerne rihten,

sîn sun der ist geheizen Crist.

er hiez iu sagen wie erz verschulden welle.

10

nû lât in zuo iu pflihten,

er rihtet iu da er voget ist,

klaget ir joh über den tiuvel ûz der helle.

 

 

III

Hêr keiser, swenne ir Tiutschen fride

(Kreuzzugsmahnung)

L 12,18

Hêr keiser, swenne ir tiutschen fride

machet stæte bî der wide,

sô bietent iu die frömden zungen êre.

die sult ir nemen ân arebeit,

5

und süenen al die kristenheit,

daz tiuret iu und müet die heiden sêre.

ir traget zwei keisers ellen,

des arn tugent, des lewen kraft,

die sint des hêrren zeichen an dem schilte,

10

die zwêne hergesellen –

wan woltens an die heidenschaft,

waz widerstüende ir manheit und ir milte!

 

 

IV

Hêr babest, ich mac wol genesen

(Papstmahnung)

L 11,6

Hêr babest, ich mac wol genesen:

wan ich wil iu gehorsam wesen.

wir hôrten iuch der kristenheit gebieten,

wie wir des keisers solten pflegen,

5

dô ir im gâbet den gotes segen,

daz wir in hêrren hiezen und vor im knieten.

ouch sult ir niht vergezzen,

ir sprâchet: «swer dich segene, der sî

gesegenet, swer dir fluoche, der sî verfluochet

10

mit fluoche vol mezzen.»

dur got bedenket iuch dâ bî,

ob ir der pfaffen êre iht geruochet!

 

 

V

Got gît ze künige, swen er wil

(Doppelzüngigkeit)

L 12,30

Got gît ze künige, swen er wil,

dar umbe wundert mich niht vil,

uns leien wundert umbe der pfaffen lêre.

si lêrten uns bî kurzen tagen,

5

daz wellents uns nû widersagen.

nû tuons dur got und dur ir selber êre

und sagen uns bî ir triuwen,

an welcher rede wir sîn betrogen,

vol rechen uns die einen wol von grunde,

10

die alten ê die niuwen.

uns dunket einez sî gelogen,

zwô zungen stânt unebne in einem munde.

 

 

VI

Dô gotes sun hie in erde gie

(Zinsgroschenstrophe)

L 11,18

Dô gotes sun hie in erde gie,

dô versuochten in die juden ie,

alsô tâten si eines tages mit dirre frâge:

si frageten in, ob ir frîez leben

5

dem rîche iht zinses solte geben,

dô verstuont er wol ir huote und ir lâge.

er iesch ein münizîsen,

er sprach: «wes bilde ist hie ergraben?»

«des keisers», sprâchen dô die merkære.

10

dô riet er den unwîsen,

daz sie den keiser liezen haben

sîn küneges reht und gote, daz gotes wære.