BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Walther von der Vogelweide

nach 1170 - um 1230

 

Sprüche und Lieder

in chronologischer Anordnung

 

Unmutston

(Ende 1213)

 

Ich hân gemerket: von der Seine unz an die Muore (31,13)

Der stuol ze Rôme ist nû alrerst berihtet rehte (33,21)

Ahî wie kristenlîche nû der bâbest lachet (34,4)

Sagent an, hêr Stoc, hât iuch der bâbest her gesendet (34,14)

Ir bischofe und ir edeln pfaffen sît verleitet (33,1)

Wir klagen alle, und wizzen doch niht waz uns wirret (33,11)

Swelch herze sich bî disen zîten niht verkêret (34,24)

Diu kristenheit gelepte nie sô gar nâch wâne (33,31)

Ich hân des Kerendæres gâbe dicke enpfangen (32,17)

Ich enweiz wem ich gelîchen muoz die hovebellen (32,27)

In nomine domini ich wil beginnen, sprechent âmen (31,33)

Nû wil ich mich des scharpfen sanges ouch genieten (32,7)

Liupolt ûz Oesterrîche, lâ mich bî den liuten (35,17)

Dô Liupolt spart ûf gotes vart, ûf künftige êre (36,1)

Die wîle ich weiz drî hove sô lobelîcher manne (34,34)

Ich bin des milten lantgrâven ingesinde (35,7)

An wîbe lobe stêt wol daz man si heize schœne (35,27)

«Sît willekomen, hêr wirt», dem gruoze muoz ich swîgen (31,23)

Varianten:

Genuoge hêrren sint gelîch den gougelæren (37,34)

Ir fürsten, die des küneges gerne wæren âne (36,11)

Maria clâr, vil hôhgeloptiu frouwe süeze (36,21)

An dem frîtage wurden wir vor der helle gefrîet (36,31)

Sünder, dû solt an die grôzen nôt gedenken (37,4)

Der blinde sprach zuo sînem knehte: dû solt setzen (37,14)

Tumbiu werlt, ziuch dînen zoum, wart umbe, sich (37,24)

 

______________________________________________________________

 

 

 

I

Ich hân gemerket: von der Seine unz an die Muore

(Gut und Ehre)

L 31,13

Ich hân gemerket: von der Seine unz an die Muore,

von dem Pfâde unz an die Trâbe erkenne ich ir aller fuore.

diu meiste menige enruochet wie si erwirbet guot,

sol ichz alsô gewinnen, sô gâ slâfen, hôher muot!

5

guot was ie genæme, iedoch sô gie diu êre

vor dem guote. nû ist daz guot sô hêre,

daz ez gewalteclîche zuo dem künige sitzen gât

mit den fürsten zuo dem künige an ir rât.

sô wê dir guot! wie rœmisch rîche stât.

10

dû bist niht guot. dû habest dich an die schande ein teil ze sêre.

 

 

III

Ahî, wie kristenlîche nû der bâbest lachet

(Erste Opferstockstrophe)

L 34,4

Ahî, wie kristenlîche nû der bâbest lachet,

swanne er sînen Walhen seit: «ich hânz alsô gemachet».

daz er dâ seit, des solt er nie mêr hân gedâht!

er gihet: «ich hân zwêne Allamân under eine krône brâht,

5

daz si daz rîche sulen stœren unde wasten,

ie darunder wüelen in ir kasten.

ich hân si an mînen stoc gemennet, ir guot ist allez mîn,

ir tiutschez silber vert in mînen welschen schrîn,

ir pfaffen, ezzent hüener und trinkent wîn

10

unde lânt die tiutschen vasten!»

 

 

IV

Sagent an, hêr Stoc, hât iuch der bâbest her gesendet

(Zweite Opferstockstrophe)

L 34,14

Sagent an, hêr Stoc, hât iuch der bâbest her gesendet,

daz ir in rîchet und uns Tiutschen ermet unde swendet?

swenne im diu volle mâze kumt ze Laterân,

sô tuot er einen argen list als er ê hât getân:

5

er seit uns danne wie daz rîche stê verwarren,

unz in erfüllent aber alle pfarren.

ich wæne des silbers wênig kumet ze helfe in gotes lant,

grôzen hort zerteilet selten pfaffen hant.

hêr Stoc, ir sît ûf schaden her gesant,

10

daz ir ûz tiutschen liuten suochent törinne unde narren.

 

 

V

Ir bischofe und ir edelen pfaffen, ir sît verleitet

(Verführte Geistlichkeit)

L 33,1

Ir bischofe und ir edelen pfaffen, ir sît verleitet.

seht wie iuch der bâbest mit des tiuvels stricken seitet.

saget ir uns,daz er sant Peters slüzzel habe,

sô saget war umbe er sîne lêre von den buochen schabe.

5

daz man gotes gâbe iht koufe oder verkoufe –

daz wart uns verboten bî der toufe.

nû lêretz in sîn swarzez buoch, daz im der hellemôr

hât gegeben und ûz im leset sîniu rôr.

ir Kardenâl, ir decket iuwern kôr,

10

unser alter frône, der stêt under einer übelen troufe.

 

 

VI

Wir klagen alle und wizzen doch niht, waz uns wirret

(Der junge und der alte Judas)

L 33,11

Wir klagen alle und wizzen doch niht, waz uns wirret,

daz uns der bâbest, unser vater, alsus hât verirret.

nû gât er uns doch harte vaterlîchen vor,

wir folgen im nâch und komen niemer fuoz ûz sînem spor.

5

nû merke, werlt, waz mir dar ane missevalle:

gîtset er, siu gîtsent mit im alle,

liuget er, siu liegent alle mit im sîne lüge

und triuget er, siu triegent mit im sîne trüge.

nû merkent, wer mir daz verkêren müge:

10

sus wirt der junge Jûdas mit dem alten dort ze schalle.

 

 

VII

Swelh herze sich bî disen zîten niht verkêret

(Schlechte Vorbilder)

L 34,24

Swelh herze sich bî disen zîten niht verkêret,

sît daz der bâbest selbe dort den ungelouben mêret,

dâ wont ein sælic geist und gotes minne bî.

nû seht ir, waz der pfaffen werc und waz ir lêre sî:

5

ê daz was ir lêre bî den werken reine,

nû sint si aber anders sô gemeine,

daz wirs unrehte würken sehen, unrehte hœren sagen,

die uns guoter lêre bilde solten tragen,

des mugen wir tumbe leien wol verzagen.

10

ich wæn aber mîn guoter klôsenære klage und sêre weine.

 

 

VIII

Diu kristenheit gelepte nie sô gar nâch wâne

(Irregeleitete Christenheit)

L 33,31

Diu kristenheit gelepte nie sô gar nâch wâne.

die si dâ lêren solten, die sint guoter sinne âne,

es wær ze vil und tæt ein tumber leie daz:

si sündent âne forhte, darumbe ist in got gehaz,

5

si wîsent uns zem himel und varent si zer helle,

si sprechent, swer ir worten folgen welle

– und niht ir werken – der sî âne zwîvel dort genesen.

die pfaffen solten kiuscher danne die leien wesen,

an welen buochen hânt si daz erlesen,

10

daz sich sô maniger flîzet, wâ er ein schœnez wîp vervelle?

 

 

XI

In nomine domini ich wil beginnen, sprechent: âmen

(Kunstklage I)

L 31,33

In nomine domini ich wil beginnen, sprechent: âmen,

– daz ist guot für ungelücke und für des tiufels sâmen –

daz ich gesingen müeze in dirre wîse alsô,

swer höveschen sanc und fröide stœre, daz der werde unfrô.

5

ich han wol und hovelîchen her gesungen,

mit der hövescheit bin ich nû verdrungen,

daz die unhovelîchen nû ze hove genæmer sint danne ich,

daz mich êren solde daz unêret mich.

herzoge ûz Oesterrîch, fürste, nû sprich,

10

dune wendest michs alleine, sô verkêre ich mîne zungen.

 

 

XII

Nû wil ich mich des scharpfen sanges ouch genieten

(Kunstklage II)

L 32,7

Nû wil ich mich des scharpfen sanges ouch genieten,

dâ ich ie mit forhten bat, dâ wil ich nû gebieten.

ich sihe wol, daz man hêrren guot und wîbes gruoz

gewalteclîch und ungezogenlîch erwerben muoz.

5

singe ich mînen höveschen sanc, sô klagent siz Stollen.

dêswâr ich gewinne ouch lîhte knollen,

sît si die schalkheit wellen, ich gemache in vollen kragen!

ze Oesterrîche lernde ich singen unde sagen,

dâ wil ich mich allerêrst beklagen.

10

finde ich an Liupolt höveschen trôst, sô ist mir mîn muot entswollen.

 

 

XVIII

«Sît willekomen, hêr wirt», dem gruoze muoz ich swîgen

(Lehensbitte an Otto)

L 31,23

«Sît willekomen, hêr wirt», dem gruoze muoz ich swîgen,

«sît willekomen, hêr gast», sô muoz ich sprechen oder nîgen.

wirt und heim sint zwêne unschamelîche namen,

gast und herberge muoz man sich vil dicke schamen.

5

noch müeze ich geleben, daz ich den gast ouch grüeze,

sô daz er mir, dem wirte, danken müeze.

«sît hînaht hie, sît morgen dort», waz gougelfuore ist daz!

«ich bin heim» oder «ich wil heim», daz trœstet baz.

gast und schâch kumt selten âne haz.

10

hêr, büezet mir des gastes, daz iu got des schâches büeze.