BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Nikolaus von Kues

1401 - 1464

 

 

Hans-Georg Gadamer

über Nikolaus von Kues

 

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[...] Nicolaus aus dem deutschen Moselstädtchen Kues stammend, hat sich durch die Kraft seines Geistes und offenbar auch eine überzeugende Beredsamkeit schon mit jungen Jahren eine bedeutende Stellung innerhalb des kirchlichen Lebens seiner Zeit errungen. Er ist eine jener Figuren, die mit klarem Blick die Mängel und Schäden erkannten und bekämpften, die in der Kirche aufgetreten waren, insofern eine Art Vorläufer der Reformation der Kirche, aber zugleich ihr getreuer Sohn und insbesondere ein Mann, der die autoritative Führung der Kirche durch den Papst verteidigte. Als päpstlicher Legat und als Bischof hat er neben aller Verwaltungsarbeit eine größere Reihe philosophischer Schriften verfaßt, die gegenüber der scholastischen Tradition einen neuen Geist atmen. Anders als Thomas ist er niemals Lehrer der Philosophie gewesen, ihn hat bereits der Atem des Humanismus angeweht, der im damaligen Italien eine Rückwendung auf den Geist der Antike vollzog. Er hat aber vor allem der mystischen Theologie, die aus neuplatonischen Quellen fließend im späteren Mittelalter immer wieder hervortritt, durch die Schärfe und Originalität seines Denkens einen bleibenden Platz innerhalb des katholischen Denkens gesichert. Sein Grundsatz der docta ignorantia, des gelehrten Nichtwissens, ist eine Formulierung des Prinzips der negativen Theologie. Was man von Gott aussagen kann, sind nur Verneinungen. Er spitzt diese Lehre aber zu einer Lehre von der Koinzidenz der Gegensätze zu. In Gott ist das Größte und das Kleinste identisch, weil er das Unendliche ist, das weder groß noch klein ist. Dieses Prinzip wendet nun der Cusaner auch außerhalb der Theologie an, und zwar auf zwei Gebiete: auf die Lehre vom Weltganzen, vom Universum, und auf die Lehre vom menschlichen Geiste.

Das Universum ist nach dem Cusaner eine Kontraktion der göttlichen Unendlichkeit, d. h. selber ein konkret Unendliches. Daraus folgt, daß die herkömmlichen Bestimmungen der aristotelischen Physik oder auch des neuplatonischen Stufenkosmos das Sein des Universums verfehlen. Als Unendliches hat es z. B. keinen Mittelpunkt, da alles im Universum von ihm als dem unendlich Umfassenden wesenhaft unterschieden ist. Nichts Seiendes in der Welt ist wahrhaft seiend, d. h. als so und nicht anders mit sich selbst identisch und durch eine präzise Erkenntnis fixierbar. So ist es z. B. unmöglich, von irgend einem Weltkörper zu sagen, daß er schlechthin ruhe. Das gilt auch von der Erde. Diese und ähnliche Anwendungen der platonischen Abwertung des Sinnlichen dienen nun aber einer neuen Meßgesinnung, die sich mit dem Relativen und Ungenauen begnügt, da das Genaue selbst unserer Unwissenheit vorenthalten ist; Es läßt sich ermessen, wie diese Lehren des Cusaners der beginnenden Naturwissenschaft der Nenzeit, z. B. der Vorbereitung des kopernikanischen Systems, Vorschub geleistet haben.

Die zweite Lehre, durch die der Cusaner sich gegenüber dem mittelalterlichen Denken abhebt, ist seine Lehre vom Geist. Auch hier ist es ein altes theologisches Lehrstück, daß der menschliche Geist ein Abbild des Göttlichen ist und insbesondere ein christologisches Fundament hat. Nachdem aber Gott als jenes Unendliche, das alles in sich befaßt, gedacht wird, kann die Gottebenbildlichkeit des Menschen einen neuen Akzent erhalten, indem auch der menschliche Geist alles, was er zu denken vermag, in sich befaßt. Damit wird eines der umstrittensten Probleme der Hochscholastik, die Universalienfrage, auf eine produktive Weise «hinterfragt». Was ist die Seinsweise von Allgemeinbegriffen? Sind sie die Seinsvorbilder der Dinge (universalia ante rem) oder sind sie nachträgliche geistige Zusammenfassungen des in den Dingen Gemeinsamen? Diese Positionen der Realisten und Nominalisten finden ihre Auflösung, wenn die Allgemeinbegriffe zwar Explikationen des menschlichen Geistes sind, aber deshalb keineswegs nur mentale Existenz besitzen, sondern vermöge der Gottebenbildlichkeit des menschlichen Geistes das wahre Sein selber sind, in das sich der göttliche Schöpfungsgeist entfaltet hat. Es ist das besondere Verdienst der Lehre des Cusaners, daß er den Wesensunterschied von Schöpfer und Geschöpf nicht verdunkelt und dennoch die innere Zugehörigkeit von Geist und Geist, menschlichem und göttlichem Geist anerkennt. [...]

 

(aus: Gadamer, Philosophisches Lesebuch 1, S. 324ff., Frankfurt 1965)