BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Wolfgang Goethe

1749 - 1832

 

Die Leiden

des jungen Werthers

 

Zweyter Theil

 

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am 30. Nov.

 

Ich soll, ich soll nicht zu mir selbst kommen, wo ich hintrete, begegnet mir eine Erscheinung, die mich aus aller Fassung bringt. Heut! O Schiksal! O Menschheit!

Ich gehe an dem Wasser hin in der Mittagsstunde, ich hatte keine Lust zu essen. Alles war so öde, ein naßkalter Abendwind blies vom Berge, und die grauen Regenwolken zogen das Thal hinein. Von ferne seh ich einen Menschen in einem grünen, schlechten Rokke, der zwischen den Felsen herumkrabelte und Kräuter zu suchen schien. Als ich näher zu ihm kam und er sich auf das [164] Geräusch, das ich machte, herumdrehte, sah ich eine gar interessante Physiognomie, darinn eine stille Trauer den Hauptzug machte, die aber sonst nichts als einen graden guten Sinn ausdrükte, seine schwarzen Haare waren mit Nadeln in zwey Rollen gestekt, und die übrigen in einen starken Zopf geflochten, der ihm den Rükken herunter hieng. Da mir seine Kleidung einen Menschen von geringem Stande zu bezeichnen schien, glaubt' ich, er würde es nicht übel nehmen, wenn ich auf seine Beschäftigung aufmerksam wäre, und daher fragte ich ihn, was er suchte. Ich suche, antwortete er mit einem tiefen Seufzer, Blumen – und finde keine – Das ist auch die Jahrszeit nicht, sagt' ich lächelnd. – Es giebt so viel Blumen, sagt er, indem er zu mir herunter kam. In meinem Garten sind Rosen und Je länger ie lieber zweyerley Sorten, eine hat mir mein Vater gegeben, sie wachsen wie's Unkraut, ich suche schon zwey Tage darnach, und kann sie nicht finden. Da haußen sind auch immer Blumen, gelbe und blaue und rothe, und das Tausend Güldenkraut hat ein schön Blümgen. Keines kann ich finden. [165] Ich merkte was unheimliches, und drum fragte ich durch einen Umweg: Was will er denn mit den Blumen? Ein wunderbares zukkendes Lächlen verzog sein Gesicht. Wenn er mich nicht verrathen will, sagt er, indem er den Finger auf den Mund drükte, ich habe meinem Schazze einen Straus versprochen. Das ist brav, sagt ich. O sagt' er, sie hat viel andre Sachen, sie ist reich. Und doch hat sie seinen Straus lieb, versezt ich. O! fuhr er fort, sie hat Juwelen und eine Krone. Wie heißt sie denn? – Wenn mich die Generalstaaten bezahlen wollten! versezte er, ich wär ein anderer Mensch! Ja es war einmal eine Zeit, da mir's so wohl war. Jezt ist's aus mit mir, ich bin nun – Ein nasser Blik zum Himmel drükte alles aus. Er war also glüklich? fragt ich. Ach ich wollt ich wäre wieder so! sagt' er, da war mir's so wohl, so lustig, so leicht wie ein Fisch im Wasser! Heinrich! rufte eine alte Frau, die den Weg herkam. Heinrich, wo stikst du? Wir haben dich überall gesucht. Komm zum Essen. Ist das Euer Sohn? fragt' ich zu ihr tretend. Wohl, mein armer Sohn, versezte sie. Gott hat mir ein [166] schweres Kreuz aufgelegt. Wie lang ist er so? fragt ich. So stille, sagte sie, ist er nun ein halb Jahr. Gott sey Dank, daß es nur so weit ist. Vorher war er ein ganz Jahr rasend, da hat er an Ketten im Tollhause gelegen. Jezt thut er niemand nichts, nur hat er immer mit Königen und Kaysern zu thun. Es war ein so guter stiller Mensch, der mich ernähren half, seine schöne Hand schrieb, und auf einmal wird er tiefsinnig, fällt in ein hitzig Fieber, daraus in Raserey, und nun ist er, wie sie ihn sehen. Wenn ich ihm erzählen sollt, Herr – Ich unterbrach ihren Strom von Erzählungen mit der Frage: was denn das für eine Zeit wäre von der er so rühmte, daß er so glüklich, so wohl darinn gewesen wäre. Der thörige Mensch, rief sie mit mitleidigem Lächlen, da meint er die Zeit, da er von sich war, das rühmt er immer! Das ist die Zeit, da er im Tollhause war, wo er nichts von sich wußte – Das fiel mir auf wie ein Donnerschlag, ich drückte ihr ein Stük Geld in die Hand und verließ sie eilend.

[167] Da du glüklich warst! rief ich aus, schnell vor mich hin nach der Stadt zu gehend. Da dir's wohl war wie einem Fisch im Wasser! – Gott im Himmel! Hast du das zum Schiksaal der Menschen gemacht, daß sie nicht glüklich sind, als eh sie zu ihrem Verstande kommen, und wenn sie ihn wieder verliehren! Elender und auch wie beneid ich deinen Trübsinn, die Verwirrung deiner Sinne, in der du verschmachtest! Du gehst hoffnungsvoll aus, deiner Königin Blumen zu pflükken – im Winter – und traurest, da du keine findest, und begreifst nicht, warum, du keine finden kannst. Und ich – und ich gehe ohne Hoffnung, ohne Zwek heraus, und kehr wieder heim, wie ich gekommen bin. – Du wähnst, welcher Mensch du seyn würdest, wenn die Generalstaaten dich bezahlten. Seliges Geschöpf, das den Mangel seiner Glükseligkeit einer irdischen Hinderniß zuschreiben kann. – Du fühlst nicht! Du fühlst nicht! daß in deinem zerstörten Herzen, in deinem zerrütteten Gehirne dein Elend liegt, wovon alle Könige der Erde dir nicht helfen können.

[168] Müsse der trostlos umkommen, der eines Kranken spottet, der nach der entferntesten Quelle reist die seine Krankheit vermehren, sein Ausleben schmerzhafter machen wird, der sich über das bedrängte Herz erhebt, das, um seine Gewissensbisse los zu werden und die Leiden seiner Seele abzuthun, seine Pilgrimschaft nach dem heiligen Grabe thut! Jeder Fußtritt der seine Solen auf ungebahntem Wege durchschneidet, ist ein Lindrungstropfen der geängsteten Seele, und mit jeder ausgedauerten Tagreise legt sich das Herz um viel Bedrängniß leichter nieder. – Und dürft ihr das Wahn nennen – Ihr Wortkrämer auf euren Polstern – Wahn! – O Gott! du siehst meine Thränen – Mußtest du, der du den Menschen arm genug erschufst, ihm auch Brüder zugeben, die ihm das bißgen Armuth, das bißgen Vertrauen noch raubten, das er auf dich hat, auf dich, du Alliebender, denn das Vertrauen zu einer heilenden Wurzel, zu den Thränen des Weinstoks, was ist's, als Vertrauen zu dir, daß du in alles, was uns umgiebt, Heil und Lindrungskraft gelegt hast, der wir so stündlich bedürfen. – Vater, den [169] ich nicht kenne! Vater, der sonst meine ganze Seele füllte, und nun sein Angesicht von mir gewendet hat! Rufe mich zu dir! Schweige nicht länger! Dein Schweigen wird diese durstende Seele nicht aufhalten – Und würde ein Mensch, ein Vater zürnen können, dem sein unvermuthet rük kehrender Sohn um den Hals fiele und rief: Ich bin wieder da mein Vater. Zürne nicht, daß ich die Wanderschaft abbreche, die ich nach deinem Willen länger aushalten sollte. Die Welt ist überall einerley, auf Müh und Arbeit, Lohn und Freude; aber was soll mir das? mir ist nur wohl, wo du bist, und vor deinem Angesichte will ich leiden und genießen. – Und du, lieber himmlischer Vater, solltest ihn von dir weisen?