BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Christoph Gottsched

1700 - 1766

 

Der Biedermann

 

1727

 

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Siebendes Blatt 1727. den 16. Junii.

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CANITZ.

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Es schien, als wolltet, schönstes Paar,

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Ihr beyde mit einander streiten.

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DA ich mir einmahl vorgesetzet, die gantze Familie des Sophroniscus, im Anfange

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meiner Blätter, einigermaßen abzubilden; so kan ich wohl Euphrosynens

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wohlgerathene Töchter nicht mit Stillschweigen übergehen: Zwey

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Frauenzimmer, die gewiß vielen tausenden ihres Standes und Alters zum

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Muster dienen können. Sophonisbe und Aretine will ich diese artigen Kinder nennen,

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die mehr Verstand als Jahre, und eben so viel Tugend als Schönheit an sich

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zeigen. Beyde sind von der Natur wohlgebildet, und von einer klugen Mutter

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wohlerzogen, das ist von Gestalt angenehm, und von Sitten untadelich. Eine

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jungfräuliche Schamhafftigkeit ist ihnen gantz eigen; doch verbirgt sich unter diesem

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Nahmen, keine bäurische Blödigkeit. Ihre natürliche Munterkeit des Geistes macht

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sie beredt, aber nicht geschwätzig; und die Einsamkeit, darinn sie auf dem Lande erwachsen,

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hat sie zwar bescheiden, aber nicht leutescheu gemacht. Wer zwischen

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Frechheit und Furchtsamkeit das Mittel treffen kan, der wird sich auch die Art ihres

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anmuthigen Wesens, ohne Irrthum vorstellen können.

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In den bisher erwehnten Stücken kommen diese wohlgearteten Schwestern

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überein; sie sind aber sonst von einander so sehr unterschieden, als es, ohne das obige

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wieder aufzuheben, immer möglich ist. Sophonisbe ist eine vollkommene Schönheit.

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Ihre sechzehn=jährige Jugend blühet weit anmuthiger als Narcissen und Rosen, die

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allerschönsten Kinder des Frühlings. Ihren Cörper hat die Natur weder zu groß

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noch zu klein gebildet, und scheinet daran zum erstenmahl das rechte Mittel getroffen

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zu haben. Alle Gliedmaßen desselben bedecket eine zarte Haut, die einem schimmernden

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Silber darinn ähnlich ist, daß sie Perlen und Liljen beschämet. Die annehmlichsten

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Stellungen sind ihrem wohlgewachsenen Cörper die natürlichsten: so daß

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alles gekünstelte Wesen, und alle gezwungene Geberden denselben nur verunzieren

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würden. Ihr länglicht=rundes Antlitz ist eine Residentz aller Gratien. Die erhabene

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und helle Stirne zeiget nichts freches. Ihre muntern Augen lassen mehr Bescheidenheit,

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als Freyheit an sich blicken. Eine beständige Schamröthe schmücket ihr

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die vollfleischigten Wangen, und ein süsses Lächeln hat seinen Sitz auf ihren Lippen.

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Kurtz, die Unschuld selber würde sich Sophonisbens holdseelige Mine wehlen, wenn sie

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uns Menschen sichtbar erscheinen wollte: indem weder ein sanfftmüthiges Lamm, noch

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eine friedfertige Taube, als die gewöhnlichsten Sinnbilder dieser Tugend, eine ähnlichere

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Abbildung von derselben geben können, als das huldreiche Angesicht dieses jungen

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Frauenzimmers.

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Man verüble mir diesen Abriß einer weiblichen Schönheit nicht: denn ich habe

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von der prächtigen Wohnung eines vernünfftigen und tugendhafften Geistes einen

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Entwurf gemacht. So wenig Hochachtung ein Engel=schöner Cörper verdienet,

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wenn er von einer übelgearteten Seele belebet wird: so hoch ist Sophonisbens Schönheit

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zu schätzen; weil sie die würdige Behausung eines ungleich schönern Gemüthes ist.

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Hier zeiget das äusserliche von dem innern; denn wie ihre Gestalt ist, so ist auch die

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Beschaffenheit ihres Hertzens. Sie ist keine eitele, wollüstige, stoltze; sie ist eine

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unschuldige, züchtige, demüthige Schöne. Aus ihrem gantzen Wesen leuchten diese

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drey verschwisterte Tugenden hervor, die gleichsam eine ungeheuchelte Gottesfurcht

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zur Mutter haben. In das Verborgene des Hertzens kan ich zwar nicht sehen: aber

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es scheinet zum wenigsten, daß Sophonisbe nicht einmahl was böses dencke. So gar

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ihre Träume sind so unschuldig, daß sie dieselben ohne einiges Bedencken erzehlen

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darff. Sie ist andächtig im Verborgenen, fromm im Hertzen, schamhafft in Worten,

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und tugendhafft in Wercken. Gegen ihre Eltern erweiset sie sich als ein gehorsames

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Kind, gegen ihr Geschwister als die liebreicheste Gespielin, gegen ihre Verwandte

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und Bekannte als die gefälligste Freundin. Der Neid selbst kan an ihr nichts zu

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tadeln oder zu lästern finden.

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Eins sollte ich fast vergessen, was ihr doch zu besonderm Ruhme dienet; denn

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Sophonisbe ist auch ein gelehrtes Frauenzimmer zu nennen: theils weil sie es schon ist;

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theils weil sie es gewiß werden wird. Die französische Sprache hat sie bereits von

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einer geschickten Französin begriffen, die man ihr von Jugend auf gehalten. In der

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Geographie und Historie ist sie so vollkommen zu Hause, daß sie die Zeitungen mit

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völligem Verstande lesen kan. Sie liest auch sonst manch schönes Buch, sobald ihre

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Frauenzimmer=Arbeit und die Haußhaltungs=Geschäffte ihr Zeit dazu lassen.

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Aber keine Liebes=Bücher und Romane; sondern historische, moralische und geistliche

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Schrifften sind ihr liebster Zeitvertreib. Daß sie eine schöne Hand schreibe, ein nettes

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Clavier spiele, und artig tantze; darf ich nicht erwehnen: weil es nicht zur Gelehrsamkeit

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gehöret. Aber das kan ich nicht übergehen, daß sie sich itzo auf die Poesie

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zu legen angefangen, und zuweilen ihre müßigen Stunden, durch diese angenehme

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Beschäfftigung, zu kürtzen bemühet ist. Sie hat den Lehrmeister ihrer Brüder darinnen

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zum Anführer, der sie alle Schönheiten der Gedancken und Ausdrückungen kennen

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lehret, und ihr die leichtesten Gattungen der Gedichte, ihren eigentlichen Regeln

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nach, bekannt machet. Ein so aufgeweckter Kopf als der ihrige ist, wird sonder Zweifel

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leicht darinnen fortkommen, und durch artige Proben ehestens darthun, wozu ein

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Frauenzimmer vermögend ist, dem es weder an natürlicher Fähigkeit, noch an sattsamem

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Unterrichte mangelt.

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Ihre Schwester, Aretine, ist eine Brunette, und giebt ihr, wie an Jahren

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also an Schönheit, nicht viel nach; übertrifft sie aber an Länge des Leibes: maßen

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sie etwa einer Hand breit höher ist, als dieselbe. Gehet nun den Reitzungen ihrer

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Bildung etwas weniges ab, so ist sie desto ansehnlicher; sonst aber eben so zart von

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Haut, und eben so weiß von Farbe, ja eben so natürlich in Stellungen, Gang und Geberden

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als jene. Ihr Naturell ist etwas stiller, doch Sophonisbens Lebhafftigkeit ist

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hier durch eine leutseelige Gelassenheit ersetzet, die sich durch ihre freundliche Demuth

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bey jederman gefällig zu machen weiß. An Gottesfurcht und Tugend giebt sie ihrer

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ältern Schwester ohne dem nichts zuvor: und in der französischen Sprache, sowohl,

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als im Tantzen und Spielen, und allem übrigen, was sie an Frauenzimmer=Arbeit gefasset,

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ist sie derselben so gleich, als der Unterscheid ihres Alters es zuläßt. Die Haushaltung

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bestellet sie mit jener wechselsweise, wodurch denn Euphrosyne eine merckliche

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Erleichterung spüret. In dem Studiren bezeiget sie keinen geringern Trieb, als jene:

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zumahl da eine kleine Eifersucht sie anspornet, ihrer Schwester darinn keinen Vorzug

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zu lassen. Mit einem Worte; Aretinen würde man vor ein vollkommenes Frauenzimmer

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halten, wenn man Sophonisben nicht gesehen hätte.

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Was Euphrosyne vor eine Freude an diesen ihren Töchtern habe, kan sich

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vielleicht niemand vorstellen, als der eben dergleichen, an seinen eigenen erlebet hat.

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Sie sieht gleichsam ihre verjüngten Eigenschafften allezeit vor Augen, und tröstet sich

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wegen ihrer mehr und mehr abnehmenden Gestalt, durch die anwachsende und täglich

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zunehmende Schönheit ihrer Kinder. An diesen siehet ein jeder, was Sophroniscus

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vormahls an ihr geliebet; denn so gar an Liniamenten sind sie ihrer wohgebildeten

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Mutter nicht unähnlich. Eitelgesinnte Mütter beneiden offt ihre Töchter, weil sie in

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Gegenwart derselben so viel Blicke der Mannspersonen verlieren, als die blühende

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Schönheit derselben ihnen abgewinnet. Ihre Eigenliebe ist also stärcker als die mütterliche

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Zärtlichkeit. Hier aber ist dergleichen nicht wahrzunehmen. Euphrosyne will keine

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Mitbuhlerin, sondern ein Muster ihrer Kinder seyn: und zeiget ihnen, auch durch ihre

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nunmehr abnehmende Gestalt, daß eine so flüchtige Sache, als die schönste Bildung

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des Angesichtes ist, bey weitem nicht vor das höchste Gut eines Frauenzimmers zu

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halten sey. Sie erzehlet ihnen offt, wodurch eigentlich Sophroniscus bewogen worden,

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ihr vormahls seine eheliche Liebe anzutragen, und versichert sie, daß es nicht ihre

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glatte Stirn, sondern ihre gute Gemüths=Art, und ihr angenehmer Umgang gewesen sey.

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Dieses beweget denn das junge Frauenzimmer, ihrer Schönheit halber nicht stoltz zu

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werden; sondern dahin zu trachten, damit ihre guten Eigenschafften ihrer reitzenden

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Gestalt den Vorzug streitig machen mögen.

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Wie ihre Mutter den Tractat eines vornehmen französischen Geistlichen de l'Education

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des Filles, oder von Auferziehung der Töchter, fleißig in die Ubung zu bringen

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bemühet gewesen; so hat sie ihren Töchtern des berühmten Herrn Dupuis Tractat, Instruction

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d'un Pere à la Fille, geschencket, und zum fleißigen Durchlesen empfohlen;

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welches auch von beyden nicht ohne sonderbare Frucht geschehen. Ihre Französin half

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ihnen, da sie der Sprache noch nicht gewachsen waren, die schwersten Stellen erklären,

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und beantwortete ihnen die Fragen, so ihnen etwa dabey in den Sinn kamen. Sie sind

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dazu angehalten, sich selbst einen kleinen Bücher-Vorrath zu sammlen, darinnen man denn

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mehrentheils solche Wercke sieht, die entweder Frauenzimmer zu Verfasserinnen haben,

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oder doch dem schönen Geschlechte zu gefallen geschrieben worden. Dahin gehören so viel

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französische Poetinnen, darunter die Mad. Deshoulieres, von Villedieu, von Barbier,

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von Scudery, imgleichen viele von der Mad. Dacier Schrifften u.s.w. die berühmtesten

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sind: Von Deutschen aber gleichfalls verschiedene alte und neuere; davon mir itzo nur

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Annen Ovenen Hoyers geistliche und weltliche Poemata vom Jahr 1650, Fr. Catharinen

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Reginen von Greifenberg, Freyherrin auf Seißeneg, Sieges=Seule der Busse und des

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Glaubens von 1675, Frauen Margarethen Susannen von Kuntsch sämtliche geistund

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weltliche Gedichte, und Frauen Annen Rupert Fuchsin Gedichte, beyfallen. Von

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denen, die dem Frauenzimmer zu gefallen geschrieben worden, will ich nur des Abts

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Genest Principes de la Philosophie anführen, darinnen die hauptsächlichsten Lehren der

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Welt=Weißheit, auf eine leichte Art, und zwar in Verßen vorgetragen sind. Ich behalte

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mirs aber vor, ehestens ein völliges Verzeichniß ihrer Bücher=Sammlung einzurücken.

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Euphrosyne hat die Gewohnheit, daß sie täglich eine Stunde, von ihren Töchtern

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sich wechselsweise was vorlesen läßt. Sind nicht nur dergestalt etliche Reise=Beschreibungen,

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Chroniken, und andre Historien=Bücher, sondern auch von Scrivern, Lasseniussen

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und Müllern, viel erbauliche Schrifften durchgelesen worden. Itzo ist sie mit des Abts

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Mosheim heiligen Reden beschäfftiget, davon Sonntags Nachmittage allezeit eine gelesen

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wird: seit dem Sophroniscus, dieses kleine, aber mit lauter Meisterstücken einer geistlichen

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Beredsamkeit angefüllte Buch, als ein Geschenck vor seine Töchter, nach Hause gebracht.

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Einer jeden hat er einen Theil davon gegeben, und zum gemeinschafftlichen Gebrauche

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angepriesen. Sie finden auch so viel Geschmack an dem Vortrage dieses grossen

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Lehrers, daß sie es mehr als einmahl durchlesen werden: indem sie mit gutem Grunde davor

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halten, daß sie nicht sobald was bessers in dieser Art zu gewarten haben.

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Man sollte sich wundern, wenn man mich bisweilen mit diesen bisher beschriebenen

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artigen Töchtern, meines Freundes, sollte sprechen hören. Ich werde weder durch mein

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Alter, noch durch meine besondre Neigung genöthiget, von Galanterien oder verliebten

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Thorheiten mit ihnen zu schwatzen. Meine Jahre erlaubens mir, etwas ernsthaffter mit

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ihnen umzugehen, als junge Stutzer thun würden: welches mir auch soviel leichter ankomt,

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da ihre an sich selbst sehr mächtige Schönheit, durch die lange Gewohnheit, an mir unkräfftig

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geworden. Ich habe sie nehmlich in den Windeln gekannt, und als Kinder aufwachsen

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gesehen. Da nehme ich nun von allen vorfallenden Dingen Gelegenheit, sie auf ernsthafftere

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Unterredungen zu bringen. Ich handle offt Fragen mit ihnen ab, die sich insonderheit

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vor sie schicken: z.E. Welche Person recht liebenswürdig sey? Ob man nach dem Ehestande

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ein Verlangen tragen müsse? Ob es besser sey, jung als alt zu freyen? Welche Ehen

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die glücklichsten sind? Ob die Schönheit besser sey, als der Reichthum? Ob Klugheit und

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Tugend mehr oder weniger Hochachtung verdienen, als Gold und Silber? Wie weit sich

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der Kinder Gehorsam im Heyrathen erstrecken müsse? Ob vernünfftige Eltern ihre Kinder

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zwingen, diesen oder jenen zu heyrathen? Und was dergleichen Dinge mehr sind. Ich

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ergetze mich allezeit über die muntern Antworten der ältern, und über die redlichen Absichten

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der jüngern Schwester. Ihre Muter kommt bisweilen darzwischen, und giebt entweder

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eine Zuhörerin ab; oder sie schlichtet den unter uns entstandenen Streit. Nicht selten

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erzehlt man mir, was in diesem oder jenem Buche gestanden; oder ich selbst thue dergleichen:

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wenn ich was angemercket habe, so sich vor Frauenzimmer schicket. Und so verfliessen

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uns offt etliche Stunden weit angenehmer, als wenn wir sie mit einem müßigen

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Lomber-Spiele verlohren hätten.