BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Christoph Gottsched

1700 - 1766

 

Der Biedermann

 

1727

 

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Zehntes Blatt 1727. den 7. Julii.

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FONTENELLE Poes. Past.

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Quels pieges tend l'amour à ce qui Vous ressemble!

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EUphrosine, die Ehegattin meines Freundes, ist sehr sorgfältig in Auferziehung

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ihrer Töchter; und läßt sich nichts mehr angelegen seyn, als dieselben in ihrer

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angebohrnen Unschuld und Tugend zu bekräftigen. Diesen ihren Endzweck

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zu erhalten, bedient sie sich keiner äusserlichen strengen Zucht, auch keiner

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außerordentlichen Schärfe. Sie weiß, daß aller Zwang der Eltern nicht zureichend

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ist, die bösen Neigungen der Kinder zu unterdrücken: und daß alle Aufsicht der Mütter

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vergebens ist, wenn eine Tochter selbst zu Ausschweifungen Lust hat. Hiernechst erkennet

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sie auch, daß eine erzwungene Keuschheit keine Tugend ist: weil man das Gute freywillig

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und mit Lust thun muß, wenn man Lob verdienen will. Sie sucht also vielmehr die

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Gemüther ihrer Kinder in einen rechten Stand zu setzen. Sie bemüht sich, ihren Hertzen

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eine solche Liebe zur Schamhafftigkeit und Zucht einzupflanzen, daß sie hernach keiner fremden

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Aufsicht in ihrer Aufführung benöthiget seyn mögen. Eine jede von denselben soll ihre

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eigene Aufseherin werden, und sich vor niemanden so sehr, als vor ihrem eigenen Gewissen

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fürchten, dessen Gegenwart ihr gewiß allezeit unvermeidlich seyn wird.

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Zu diesem Ende hat sie sich ohn Unterlaß bemühet, den Verstand derselben wohl zu

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unterrichten. Sie hat demselben diejenigen Grundsätze beygebracht, die nachmahls zur

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Richtschnur ihres Wandels dienen können. Dahin gehört diese wohlgegründete Lehre,

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daß eines jungen Frauenzimmers gantze Ehre in ihrer Zucht und Unschuld bestehe. Diese

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herrliche Wahrheit hat sie denenselben nicht nur oft vorgesagt; sondern bey allen vorfallenden

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Gelegenheiten mit deutlichen Gründen und Exempeln lebendiger Personen dargethan.

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Daß sie aber auch die Historien alter Zeiten zu diesem Ende geschickt angewendet, habe ich

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nur neulich aus einer augenscheinlichen Probe gesehen. Bey einem Besuche, den ich dieser

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klugen Hausfrauen abstattete, als eben mein Sophroniscus durch andere Geschäffte genöthiget

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ward, mich eine Stunde von sich zu lassen, fand ich ihre beyde Töchter bey einem Buche

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sitzen, daraus ihnen ihre vernünfftige Mutter etliche Blätter zu lesen vorgeschlagen hatte.

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Indessen daß ich mit Euphrosynen etliche Worte gewechselt hatte, waren jene mit ihrer

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Historie zum Ende, und danckten ihrer Mama vor die gütige Anweisung einer so schönen

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Geschicht. Ich konnte mich nicht enthalten nachzufragen: Was es denn vor eine merckwürdige

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Begebenheit wäre, die sie durchgelesen hätten; und ob es sich nicht thun ließe,

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mir dieselbe zu erzehlen? Die Antwort fiel hierauf: Was sie beyde gelesen hätten, wäre

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zwar kein Geheimniß, und ich könnte es gar wohl wissen: allein daß sie mir solches erzehlen

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sollten, das würde sich nicht wohl schicken. Ich merckte sogleich daß eine löbliche Schamhafftigkeit

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es diesen artigen Kindern nicht erlaubte, mir zu willfahren: und wie man dieselbe

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allezeit zu erhalten Ursache hat, also nöthigte ich sie nicht ferner, etwas zu thun, was ihnen

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so bedencklich vorkam: bat mir aber selbst das Buch aus, trat eine Weile ans Fenster und

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laß die folgende Historie. Ich rücke sie aber aus keiner andern Ursache in meine Blätter,

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als weil ich mir dieselbe Wirckung bey meinen Leserinnen davon verspreche, die bey den Töchtern

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Euphrosynens bereits gespüret worden.

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In einer der besten Städte, so in der französischen Provintz Touraine liegen, war ein

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junger Printz, aus einem sehr guten Geschlechte, von Jugend auf erzogen worden. Von

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der guten Gestalt, Anmuth und Artigkeit, und andern Vollkommenheiten desselben darf

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man nichts mehr sagen, als daß er damahls seines gleichen nicht gehabt. In seinem funfzehnten

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und sechzehnten Jahre war die Jagd sein bester Zeitvertreib; so gar, daß er Hunde,

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Pferde und wilde Thiere weit lieber, als das schönste Weibesbild von der Welt ansahe.

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So brachte er seine Zeit zu, biß er ohngefehr eines Frauenzimmers ansichtig ward, die

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vormahls in seinem Schlosse erzogen worden, aber nach dem Tode ihrer Mutter, nebst

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ihrem Vater und Bruder in eine andre angränzende Landschafft gewichen, und daselbst

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völlig erwachsen war. Charlotte, so hieß diese Jungfer, hatte eine unehlige Halbschwester,

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die ihr Vater überaus geliebet, und an einen Küchenschreiber des oberwehnten Prinzen

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verheyrathet hatte. So bald ihr Vater gestorben war, fiel ihr das wenige Vermögen

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zu, was derselbe in der vorhin gedachten Stadt besessen; und sie begab sich nach seinem

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Tode wieder dahin, wo ihre Güter lagen. Es war nicht rathsam, daß sie als ein junges

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wohlgebildetes Frauenzimmer, welches schon im Stande war zu heyrathen, in einem eigenen

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Hause allein wohnen sollte: derowegen begab sie sich zu ihrer Schwester, der Küchenschreiberin,

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ins Haus, als zu welcher sie ein gutes Vertrauen hatte. Der Printz sahe

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nun, wie gedacht, diese wohlgestalte Brunette mit gantz andern Augen an, als er biß dahin

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alles andre Frauenzimmer angesehen hatte. Ihre Annehmlichkeiten schienen ihm ihren

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Stand zu übertreffen, denn man hätte sie eher vor ein Fräulein oder eine Prinzeßin, als

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vor ein Bürgermädchen ansehen sollen. Da er noch niemahls geliebet hatte, so empfand

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er bey diesem Anblicke ein gantz ungewöhnliches Vergnügen; und als er nachfragte, wer

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sie wäre, vernahm er, daß es eben dasjenige Mädchen wäre, das in seiner Kindheit mit

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seiner Schwester im Schlosse offtmahls gespielet hätte. Er that dieses der Princeßin alsbald

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zu wissen, mit dem Ansinnen, die alte Bekanntschafft mit dieser Schönen wieder zu

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erneuern. Das geschach auch in der That; Charlotte ward zur Schwester des Prinzen geruffen

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und überaus wohl aufgenomen, auch gebeten dieselbe öffters zu besuchen. So offt also

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einige Lustbarkeiten bey Hofe vorgiengen, so offt war Charlotte mit dabey, und je öffter sie

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der Printz sahe, desto mehr gefiel sie ihm: biß endlich seine Liebe in eine solche Flamme gerieth,

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daß sie nicht anders als auf eine verbotene Weise gestillet werden konnte. Denn da

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diese Schöne von weit schlechterm Herkommen war, als daß er eine eheliche Zuneigung

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zu ihr hätte haben sollen; so ward seine Begierde allmählich ein Feuer, welches nicht anders

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als durch Schande und Laster auszubrechen drohete.

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Ein vertrauter Edelmann des Prinzen, muste dem ehrlichen Kinde den Vortrag

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thun, den sein Herr selbst anzubringen keine Gelegenheit finden konnte. Die tugendhaffte

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Charlotte hörte denselben mit Zittern u. Entstzen an, und gab dem verdrüßlichen Boten mit

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der bescheidensten Mine zur Antwort: Sie könnte sichs nicht einbilden, daß ein so schöner

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und wackerer Printz sich die Mühe nehmen sollte, nach einem so ungestalten Mädchen zu

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sehen. Er hätte ja in seinem Schlosse eine solche Menge vollkommener Schönheiten, daß

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er es nicht nöthig hätte, dergleichen anderwerts zu suchen. Sie hielte also davor, daß er

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ihr diesen Antrag von sich selbst und ohne das Vorwissen seines Herrn gethan hätte. Als

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der Printz diese Antwort vernahm, ward seine vorige Liebe um desto hefftiger, und diese

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spornte ihn an, keine Mühe zu sparen, biß er sein Unternehmen zum Stande gebracht hätte.

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Er setzte sich also hin, und verfertigte ein Schreiben an seine Geliebte, darinnen er sie aufs

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zärtlichste bat, alles dasjenige zu glauben, was sein Bedienter ihr von seinetwegen sagen

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würde. Ohngeachtet es ihr sehr leicht gewesen wäre, diesen Brief schrifftlich zu beantworten:

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so war doch alles Bitten des Uberbringers nicht vermögend, solches von ihr zu

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erlangen. Ihr Vorwand war; es schicke sich vor Personen von so schlechtem Stande nicht,

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an Printzen Briefe zu schreiben, und dabey ersuchte sie den Edelmann, sie nicht vor so thöricht

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anzusehen, daß sie sich einbilden solte, der Printz wäre ihr in der That so gewogen, als er

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sie bereden wollen. Dächte er aber, in Betrachtung ihres armseeligen Zustandes, sie

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bloß zu seinem Vergnügen zu mißbrauchen; so betröge er sich sehr in seiner Meynung. Sie

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hätte nehmlich ein so tugendhafftes Hertz als die gröste Princeßin von der Welt, und schätzte

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nichts so hoch als ihre Ehre und ein unbeflecktes Gewissen. Sie bäte ihn also, es ihr zu

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erlauben, daß sie diesen Schatz lebenslang erhalten, und mit sich ins Grab nehmen möchte:

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denn sie wolle viel lieber sterben als diese ihre Gedancken ändern, und ihrer Tugend zum

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Nachtheil, der Liebe vornehmer Herren Gehör geben.

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Eine so strenge Antwort konnte dem verliebten Printzen nicht sonderlich gefallen:

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doch ließ seine Neigung nicht nach, und er sann auf Mittel, dieselbe zu vergnügen. So offt

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man, nach Gewohnheit ihrer Kirche, in die Messe gieng, fand er sich nahe bey ihrem Stuhle

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ein, und sahe sie weit eifriger an, als der andächtigste Verehrer seinen Heiligen. Kaum

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ward sie solches inne; so änderte sie ihren Stand, gieng auch endlich gar in gantz andere

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und weit entlegenere Kirchen, als sie sonst gewohnt war. Nicht etwa, als wenn sie vor

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der Person des Printzen einen Abscheu gehabt hätte: Nein, so närrisch war sie nicht, daß

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sie seine angenehme Gestalt ohne Vergnügen hätte ansehen sollen. Sie wollte nur von ihm

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nicht gesehen werden; und da sie unfähig war, auf eine ehrliche und eheliche Weise von

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ihm geliebet zu werden; so wollte sie auch auf keine andre Art, aus Thorheit und Uppigkeit,

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seiner Zuneigung geniessen. Sie entzog sich sogar den öffentlichen Lustbarkeiten des Hofes,

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und wenn sie gleich allezeit dazu eingeladen ward, so war sie recht sinnreich, die wahrscheinlichsten

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Entschuldigungen zu erfinden, womit sie ihr Aussenbleiben beschönigte. Als nun der

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Printz sahe, daß er alle Mühe vergebens anwenden würde, wenn ihm nicht jemand zu seinem

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Vorhaben behülflich seyn möchte: machte er sich an seinen Küchenschreiber, bey welchem

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Charlotte im Hause war. Dieser machte sich ein Vergnügen, seinem Herrn in einer so angenehmen

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Sache zu dienen. Er erzehlte ihm täglich, was seine Schöne zu Hause gesagt

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oder gethan hätte, und unterhielte dadurch nicht nur seine Neigung gegen dieselbe, sondern

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machte ihm auch mehr und mehr Hoffnung, durch seinen Beystand die Früchte derselben zu

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genießen.

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Es mangelte nur an einer Gelegenheit, dabey der Printz sich bequem in sein Hauß

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begeben und seine Geliebte daselbst allein sprechen könnte. Daran konnte es aber nicht

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lange fehlen, weil insgemein nichts so reich an Erfindungen ist, als die Liebe. Eines Tages

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ließ der Printz seine beste Stall=Pferde aufreiten, und machte sich selbst das Vergnügen,

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auf etlichen der muthigsten Hengste, seine Geschicklichkeit in der Reit=Kunst zu zeigen.

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Er galoppirte durch die vornehmsten Gassen der Stadt, und als er vor die Thür seines

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Küchenschreibers kam, wuste er sein Pferd so zu regieren, daß es einen Seitensprung that,

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er aber, wiewohl gantz gemächlich, in eine ziemliche Pfütze fiel, und also seine Kleider mehr,

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als seinen Cörper beschädigte. Niemand wuste, daß dieses mit Fleiß geschehen wäre; darum

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lief ein jeder zu, dem Printzen zu helfen. Er selbst stellte sich erschockener, als er war,

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und als man ihm etliche Häuser in der Gegend vorschlug, wo er seiner Bequemlichkeit geniessen

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und sich anders ankleiden könnte: wehlte er das Haus seines Küchenschreibers, welches

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das Gelegenste zu seyn schien. Man führte ihn hinein; man wieß ihm ein Zimmer

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an, und er legte sich, nach geschehener Auskleidung, in ein für ihn zubereitetes sauberes Bette.

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So bald die Bedienten davon gegangen waren, ihm eine reine Kleidung zu holen, rief

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er den Wirth und die Wirthin zu sich, und fragte, wo Charlotte wäre? Es war aber fast

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nicht möglich, dieselbe zu finden; wiewohl man alle Winckel des Hauses durchsuchte. Sobald

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der Printz ins Haus gebracht worden, hatte ihrs ihr Hertz schon gesagt, daß diese

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gantze Begebenheit ihrentwegen angestellet wäre: deswegen hatte sie sich auf dem obersten

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Boden an einem gantz heimlichen Orte verstecket. Endlich fand man sie doch; und ihre

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Schwester ermahnte und bat sie, einem so tugendhafften und wackern Printzen, der sie zu

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sprechen verlangte, ohne alles Bedencken ihre Aufwartung zu machen. Wie? meine

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Schwester, versetzte Charlotte, wollt ihr, die ich doch vor meine Mutter halte, mirs selbst

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zumuthen, daß ich mit einem Printzen sprechen soll, dessen Absichten leicht zu errathen sind?

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Doch ihre Schwester that ihr so viel Versicherungen und soviel Verheissungen, sie nicht

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alleine zu lassen, daß die unschuldige Creatur sich endlich bereden ließ, mit ihr zu gehen.

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Sie trat also zum Printzen ins Zimmer, aber mit einer Mine die eher Mitleiden, als Begierde

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zu erwecken geschickt war.

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Als sie der Printz vor seinem Bette sahe, faßte er sie bey der Hand, die vor Schrecken

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bebete und gantz eiskalt war. Charlotte, sprach er, haltet ihr mich denn vor einen so grausamen

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Unmenschen, daß ich ein Frauenzimmer durch meinen Anblick ermorden werde?

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Warum scheuet ihr euch vor demjenigen, der doch nur euren Vortheil und eure Ehre suchet?

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Ihr wisset, daß ich an unzehligen Orten, und auf alle mögliche Weise, mit euch zu sprechen,

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Gelegenheit gesuchet habe; welches mir aber biß diese Stunde nicht möglich gewesen. Denn

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ihr seyd allezeit vor mir geflohen, und habt mir nicht einmahl in der Kirche das Vergnügen

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gönnen wollen, euch zu sehen; geschweige denn mit euch zu reden Gelegenheit finden lassen.

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Allein seht das alles hat doch nichts geholfen. Ich habe mich nicht zufrieden gegeben, biß

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ich hieher gekommen bin. Ihr wisset wohl, durch was vor Mittel solches geschehen. Ich

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habe mich in die Gefahr begeben, den Hals zu brechen, indem ich mich vom Pferde stürtzete,

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bloß in der Absicht euch zu sprechen. Da ich nun durch soviel Mühe endlich so weit gekommen

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bin, daß ich euch hier nach Wunsche angetroffen: so laßt doch dieses alles nicht vergebens

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seyn, sondern erlaubt es, daß ich durch meine so grosse Liebe gegen Euch, auch die

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Eurige gewinnen möge.

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Das übrige soll ehestens folgen.