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B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A

 

 

 

 
Albrecht von Haller
Tagebuch seiner Beobachtungen
 


 






 




T a g e b u c h
s e i n e r   B e o b a c h t u n g e n
ü b e r   S c h r i f t s t e l l e r
u n d   ü b e r   s i c h   s e l b s t .


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V .

V o n   d e r   I m m a t e r i a l i t ä t
d e r   S e e l e .


1 7 4 7   ( G . G . A.   S . 4 1 4 . )


Wenn die Seele nichts wäre, als das Ende der Schlagadern des Hirns und der Anfang der nervichten Fasern, (wie einige annehmen) so würde zwar jeder Theil dieser Adern nach seinen Sätzen fühlen, aber keiner würde seine Empfindung dem andern mittheilen. Das Reich des Schalls würde eine andere Provinz ausmachen, als die Gegend der Farben, es würde kein allgemeiner Herr mehr seyn, der sich alle diese Gegenden zueignete, dem sie alle ihre Empfindungen zollen: es würde aus diesen Adern zusammen keine Person, keine Seele entstehen, wie die unsrige; denn diese besitzt mit gleicher Macht, als ein einiges (selbstständiges) sich alle die verschiedenen Eindrücke der Sinne zueignendes Wesen alle diese verschiedenen Zollstätte der Sinne; sie vereiniget ihre Eindrücke in ein einiges Uns, und mit einem Worte, wir würden nicht eine, sondern unzählbare Seelen haben, die alle auf einmal; ohne Abrede und ohne Uebereinstimmung empfinden und denken müßten, ohne daß die eine sich der Empfindungen der andern bewußt wäre. - Daß ein la Mettrie, dieser unredliche Mann, den rechtschaffenen Börhaave zum Materialisten und Deisten machen will, ist eine strafbare Unbillichkeit. Börhaave hat tausendmal die Spinozistische Lehre aus der physiologischen Wahrheit wiederlegt, daß die Empfindungen der Seele keine nothwendige Folge der Eindrücke der Sinne, sondern eine willkührliche Sprache Gottes mit uns sey, welcher uns von allen äussern Dingen nicht die nothwendigen Eindrücke ihres wahren Wesens, sondern gewisse ihm ganz freygestandene Relationen empfinden läßt. Hat nicht la Mettrie selbst diese Anmerkungen aus den Börhaavischen Prälektionen abgeschrieben 1)? und was kann minder materialistisch seyn? Eben so leicht würde es zu erweisen seyn, wie unmöglich es sey, daß die in lauter einzeln empfindenden Nerven oder Adern bestehende Seele sich abgezogene Begriffe von Zahlen, Relationen, Arten, von Ehre und so vielen andern ganz unkörperlichen Dingen machen könnte, da jede Nerve für sich dächte, und niemand wäre, der ihre Verschiedenheit und Empfindungen in Ordnung, in gewisse Klassen brächte, und dren Uebereinstimmung erforschte. &c

    Es ist uns manchmal lächerlich vorgekommen, wenn La Mettrie von einem materiellen Wesen redet, und seine Sekte damit von unserm Abscheu befreyen will, daß er auch bey einem Naturalisten Reue und Gewissensbisse annimmt. Wenn kein Gott ist, wenn wir blosse Theile der Natur sind, wenn wir dasjenige thun müssen, was aus den Umständen folgt, in welche uns das Reich der Dinge gesetzt hat; was sollen wir uns über etwas grämen oder schämen, das wir gethan haben, und nach unsrer Natur unvermeidlich thun müssen? 2)

 
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    1)
Hist. de l'ame. S. 253.
 
    2)
G. Anz. 1749. S. 40.
 
 
 
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