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B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A

 

 

 

 
Immanuel Kant
Prolegomena
 


 






 




      [23]

Prolegomena

V o r e r i n n e r u n g

von dem
Eigentümlichen aller metaphysischen
Erkenntnis



§ 1
Von den Quellen der Metaphysik


      Wenn man eine Erkenntnis als  W i s s e n s c h a f t  darstellen will, so muß man zuvor das Unterscheidende, was sie mit keiner andern gemein hat, und was ihr also  e i g e n t ü m l i c h  ist, genau bestimmen können; widrigenfalls die Grenzen aller Wissenschaften ineinander laufen, und keine derselben, ihrer Natur nach, gründlich abgehandelt werden kann.

      Dieses Eigentümliche mag nun in dem Unterschiede des  O b j e k t s,  oder der  E r k e n n t n i s q u e l l e n,  oder auch der  E r k e n n t n i s a r t,  oder einiger, wo nicht aller dieser Stücke zusammen, bestehen, so beruht darauf zuerst die Idee der möglichen Wissenschaft und ihres Territorium.

      Zuerst, was die  Q u e l l e n  einer metaphysischen Erkenntnis betrifft, so liegt es schon in ihrem Begriffe, daß sie nicht empirisch sein können. Die Prinzipien derselben, [24] (wozu nicht bloß ihre Grundsätze, sondern auch Grundbegriffe gehören,) müssen also niemals aus der Erfahrung genommen sein: denn sie soll nicht physische, sondern metaphysische, d. i. jenseit der Erfahrung liegende Erkenntnis sein. Also wird weder äußere Erfahrung, welche die Quelle der eigentlichen Physik, noch innere, welche die Grundlage der empirischen Psychologie ausmacht, bei ihr zum Grunde liegen. Sie ist also Erkenntnis a priori, oder aus reinem Verstande und reiner Vernunft.

      Hierin würde sie aber nichts Unterscheidendes von der reinen Mathematik haben; sie wird also  r e i n e  p h i l o s o p h i s c h e  E r k e n n t n i s  heißen müssen; wegen der Bedeutung dieses Ausdrucks aber beziehe ich mich auf Kritik d. r. V. Seite 712 u. f., wo der Unterschied dieser zwei Arten des Vernunftgebrauchs einleuchtend und gnugtuend ist dargestellt worden. - So viel von den Quellen der metaphysischen Erkenntnis.


§ 2
Von der Erkenntnisart,
die allein metaphysisch heißen kann


a) Von dem Unterschiede synthetischer und analytischer
Urteile überhaupt

      Metaphysische Erkenntnis muß lauter Urteile a priori enthalten, das erfordert das Eigentümliche ihrer Quellen. Allein Urteile mögen nun einen Ursprung ha[25]ben, welchen sie wollen, oder auch ihrer logischen Form nach beschaffen sein wie sie wollen, so gibt es doch einen Unterschied derselben, dem Inhalte nach, vermöge dessen sie entweder bloß  e r l ä u t e r n d  s i n d,  und zum Inhalte der Erkenntnis nichts hinzutun, oder  e r w e i t e r n d,  und die gegebene Erkenntnis vergrößern; die erstern werden  a n a l y t i s c h e,  die zweiten  s y n t h e t i s c h e  Urteile genannt werden können.

      Analytische Urteile sagen im Prädikate nichts, als das, was im Begriffe des Subjekts schon wirklich, obgleich nicht so klar und mit gleichem Bewußtsein gedacht war. Wenn ich sage: alle Körper sind ausgedehnt, so habe ich meinen Begriff vom Körper nicht im mindesten erweitert, sondern ihn nur aufgelöset, indem die Ausdehnung von jenem Begriffe schon vor dem Urteile, obgleich nicht ausdrücklich gesagt, dennoch wirklich gedacht war; das Urteil ist also analytisch. Dagegen enthält der Satz: einige Körper sind schwer, etwas im Prädikate, was in dem allgemeinen Begriffe vom Körper nicht wirklich gedacht wird, er vergrößert also meine Erkenntnis, indem er zu meinem Begriffe etwas hinzutut, und muß daher ein synthetisches Urteil heißen.

b) Das gemeinschaftliche Prinzip aller analytischen Urteile
ist der Satz des Widerspruchs

      Alle analytische Urteile beruhen gänzlich auf dem Satze des Widerspruchs, und sind ihrer Natur nach Er[26]kenntnisse a priori, die Begriffe, die ihnen zur Materie dienen, mögen empirisch sein, oder nicht. Denn, weil das Prädikat eines bejahenden analytischen Urteils schon vorher im Begriffe des Subjekts gedacht wird, so kann es von ihm ohne Widerspruch nicht verneinet werden, ebenso wird sein Gegenteil in einem analytischen, aber verneinenden Urteile, notwendig von dem Subjekt verneinet, und zwar auch zufolge dem Satze des Widerspruchs. So ist es mit denen Sätzen: Jeder Körper ist ausgedehnt und kein Körper ist unausgedehnt (einfach), beschaffen.

      Eben darum sind auch alle analytische Sätze Urteile a priori, wenngleich ihre Begriffe empirisch sein, z. B. Gold ist ein gelbes Metall; denn um dieses zu wissen, brauche ich keiner weitern Erfahrung, außer meinem Begriffe vom Golde, der enthielte, daß dieser Körper gelb und Metall sei: denn dieses machte eben meinen Begriff aus, und ich durfte nichts tun, als diesen zergliedern, ohne mich außer demselben wornach anders umzusehen.

c) Synthetische Urteile bedürfen ein anderes Prinzip,
als den Satz des Widerspruchs

      Es gibt synthetische Urteile a posteriori, deren Ursprung empirisch ist; aber es gibt auch deren, die a priori gewiß sein, und die aus reinem Verstande und Vernunft entspringen. Beide kommen aber darin überein, daß sie nach dem Grundsatze der Analysis, nämlich dem Satze des Widerspruchs, allein nimmermehr entspringen können; [27] sie erfordern noch ein ganz anderes Prinzip, ob sie zwar aus jedem Grundsatze, welcher er auch sei, jederzeit  d e m  S a t z e  d e s  W i d e r s p r u c h s  g e m ä ß  abgeleitet werden müssen; denn nichts darf diesem Grundsatze zuwider sein, obgleich eben nicht alles daraus abgeleitet werden kann. Ich will die synthetischen Urteile zuvor unter Klassen bringen.

      1.  E r f a h r u n g s u r t e i l e  sind jederzeit synthetisch. Denn es wäre ungereimt, ein analytisches Urteil auf Erfahrung zu gründen, da ich doch aus meinem Begriffe gar nicht hinausgehen darf, um das Urteil abzufassen, und also kein Zeugnis der Erfahrung dazu nötig habe. Daß ein Körper ausgedehnt sei, ist ein Satz, der a priori feststeht, und kein Erfahrungsurteil. Denn ehe ich zur Erfahrung gehe, habe ich alle Bedingungen zu meinem Urteile schon in dem Begriffe, aus welchem ich das Prädikat nach dem Satze des Widerspruchs nur herausziehen, und dadurch zugleich der  N o t w e n d i g k e i t  des Urteils bewußt werden kann, welche mir Erfahrung nicht einmal lehren würde.

      2.  M a t h e m a t i s c h e  U r t e i l e  sind insgesamt synthetisch. Dieser Satz scheint den Bemerkungen der Zergliederer der menschlichen Vernunft bisher ganz entgangen, ja allen ihren Vermutungen gerade entgegengesetzt zu sein, ob er gleich unwidersprechlich gewiß, und in der Folge sehr wichtig ist. Denn weil man fand, daß die Schlüsse der Mathematiker alle nach dem Satze des Widerspruches fort[28]gehen, (welches die Natur einer jeden apodiktischen Gewißheit erfordert,) so überredete man sich, daß auch die Grundsätze aus dem Satze des Widerspruchs erkannt würden, worin sie sich sehr irreten; denn ein synthetischer Satz kann allerdings nach dem Satze des Widerspruchs eingesehen werden, aber nur so, daß ein anderer synthetischer Satz vorausgesetzt wird, aus dem er gefolgert werden kann, niemals aber an sich selbst.

      Zuvörderst muß bemerkt werden: daß eigentliche mathematische Sätze jederzeit Urteile a priori und nicht empirisch sein, weil sie Notwendigkeit bei sich führen, welche aus Erfahrung nicht abgenommen werden kann. Will man mir aber dieses nicht einräumen, wohlan so schränke ich meinen Satz auf die  r e i n e  M a t h e m a t i k ein, deren Begriff es schon mit sich bringt, daß sie nicht empirische, sondern bloß reine Erkenntnis a priori enthalte.

      Man sollte anfänglich wohl denken: daß der Satz 7+5=12 ein bloß analytischer Satz sei, der aus dem Begriffe einer Summe von Sieben und Fünf nach dem Satze des Widerspruches erfolge. Allein, wenn man es näher betrachtet, so findet man, daß der Begriff der Summe von 7 und 5 nichts weiter enthalte, als die Vereinigung beider Zahlen in eine einzige, wodurch ganz und gar nicht gedacht wird, welches diese einzige Zahl sei, die beide zusammenfaßt. Der Begriff von Zwölf ist keinesweges dadurch schon gedacht, daß ich mir bloß jene Vereinigung von Sieben und Fünf denke, und, ich mag meinen [29] Begriff von einer solchen möglichen Summe noch so lange zergliedern, so werde ich doch darin die Zwölf nicht antreffen. Man muß über diese Begriffe hinausgehen, indem man die Anschauung zu Hülfe nimmt, die einem von beiden korrespondiert, etwa seine fünf Finger, oder (wie  S e g n e r  in seiner Arithmetik) fünf Punkte, und so nach und nach die Einheiten der in der Anschauung gegebenen Fünf zu dem Begriffe der Sieben hinzutut. Man erweitert also wirklich seinen Begriff durch diesen Satz 7+5=12 und tut zu dem ersteren Begriff einen neuen hinzu, der in jenem gar nicht gedacht war, d. i. der arithmetische Satz ist jederzeit synthetisch, welches man desto deutlicher inne wird, wenn man etwas größere Zahlen nimmt; da es denn klar einleuchtet, daß, wir möchten unsern Begriff drehen und wenden, wie wir wollen, wir, ohne die Anschauung zu Hülfe zu nehmen, vermittelst der bloßen Zergliederung unserer Begriffe die Summe niemals finden könnten.

      Ebensowenig ist irgend ein Grundsatz der reinen Geometrie analytisch. Daß die gerade Linie zwischen zweien Punkten die kürzeste sei, ist ein synthetischer Satz. Denn mein Begriff vom Geraden enthält nichts von Größe, sondern nur eine Qualität. Der Begriff des Kürzesten kommt also gänzlich hinzu, und kann durch keine Zergliederung aus dem Begriffe der geraden Linie gezogen werden. Anschauung muß also hier zu Hülfe genommen werden, vermittelst deren allein die Synthesis möglich ist.

      [30 :::] Einige andere Grundsätze, welche die Geometer voraussetzen, sind zwar wirklich analytisch und beruhen auf dem Satze des Widerspruchs, sie dienen aber nur, wie identische Sätze, zur Kette der Methode und nicht als Prinzipien, z. B. a=a, das Ganze ist sich selber gleich, oder (a+b)>a d. i. das Ganze ist größer als sein Teil. Und doch auch diese selbst, ob sie gleich nach bloßen Begriffen gelten, werden in der Mathematik nur darum zugelassen, weil sie in der Anschauung können dargestellet werden. Was uns hier gemeiniglich glauben macht, als läge das Prädikat solcher apodiktischen Urteile schon in unserm Begriffe, und das Urteil sei also analytisch, ist bloß die Zweideutigkeit des Ausdrucks. Wir  s o l l e n  nämlich zu einem gegebenen Begriffe ein gewisses Prädikat hinzudenken, und diese Notwendigkeit haftet schon an den Begriffen. Aber die Frage ist nicht, was wir zu dem gegebenen Begriffe hinzu  d e n k e n  s o l l e n,  sondern was wir  w i r k l i c h  in ihm, obzwar nur dunkel,  d e n k e n,  und da zeigt sich, daß das Prädikat jenem Begriffe zwar notwendig, aber nicht unmittelbar, sondern vermittelst einer Anschauung, die hinzukommen muß, anhänge.
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      [::: 34] Das Wesentliche und Unterscheidende der reinen  m a t h e m a t i s c h e n  Erkenntnis von aller andern Erkenntnis a priori ist, daß sie durchaus  n i c h t  a u s  B e g r i f f e n,  sondern jederzeit nur durch die Konstruktion der Begriffe (Kritik S. 713) vor sich gehen muß. Da sie also in ihren Sätzen über den Begriff zu demjenigen, was die ihm korrespondierende Anschauung enthält, hinausgehen muß: so können und sollen ihre Sätze auch niemals durch Zergliederung der Begriffe, d. i. analytisch, entspringen, und sind daher insgesamt synthetisch.

      Ich kann aber nicht umhin, den Nachteil zu bemerken, den die Vernachlässigung dieser sonst leichten und unbedeutend scheinenden Beobachtung der Philosophie zugezogen hat. H u m e,  als er den eines Philosophen wür[35]digen Beruf fühlete, seine Blicke auf das ganze Feld der reinen Erkenntnis a priori zu werfen, in welchem sich der menschliche Verstand so große Besitzungen anmaßt, schnitte unbedachtsamer Weise eine ganze und zwar die erheblichste Provinz derselben, nämlich reine Mathematik, davon ab, in der Einbildung, ihre Natur, und so zu reden ihre Staatsverfassung, beruhe auf ganz andern Prinzipien, nämlich, lediglich auf dem Satze des Widerspruchs, und ob er zwar die Einteilung der Sätze nicht so förmlich und allgemein, oder unter der Benennung gemacht hatte, als es von mir hier geschieht, so war es doch gerade so viel, als ob er gesagt hätte: reine Mathematik enthält bloß  a n a l y t i s c h e  Sätze, Metaphysik aber synthetische a priori. Nun irrete er hierin gar sehr, und dieser Irrtum hatte auf seinen ganzen Begriff entscheidend nachteilige Folgen. Denn wäre das von ihm nicht geschehen, so hätte er seine Frage, wegen des Ursprungs unserer synthetischen Urteile, weit über seinen metaphysischen Begriff der Kausalität erweitert, und sie auch auf die Möglichkeit der Mathematik a priori ausgedehnt; denn diese mußte er ebenso wohl vor synthetisch annehmen. Alsdenn aber hätte er seine metaphysische Sätze keinesweges auf bloße Erfahrung gründen können, weil er sonst die Axiomen der reinen Mathematik ebenfalls der Erfahrung unterworfen haben würde, welches zu tun er viel zu einsehend war. Die gute Gesellschaft, worin Metaphysik alsdenn zu stehen gekommen wäre, hätte sie wider die Gefahr einer [36] schnöden Mißhandlung gesichert, denn die Streiche, welche der letztern zugedacht waren, hätten die erstere auch treffen müssen, welches aber seine Meinung nicht war, auch nicht sein konnte: und so wäre der scharfsinnige Mann in Betrachtungen gezogen worden, die denjenigen hätten ähnlich werden müssen, womit wir uns jetzt beschäftigen, die aber durch seinen unnachahmlich schönen Vortrag unendlich würde gewonnen haben.

      3.  E i g e n t l i c h  m e t a p h y s i s c h e  Urteile sind insgesamt synthetisch. Man muß zur  M e t a p h y s i k  gehörige von eigentlich  m e t a p h y s i s c h e n  Urteilen unterscheiden. Unter jenen sind sehr viele analytisch, aber sie machen nur die Mittel zu metaphysischen Urteilen aus, auf die der Zweck der Wissenschaft ganz und gar gerichtet ist, und die allemal synthetisch sein. Denn wenn Begriffe zur Metaphysik gehören, z. B. der von Substanz, so gehören die Urteile, die aus der bloßen Zergliederung derselben entspringen, auch notwendig zur Metaphysik, z. B. Substanz ist dasjenige, was nur als Subjekt existiert etc. und vermittelst mehrerer dergleichen analytischen Urteile suchen wir der Definition der Begriffe nahe zu kommen. Da aber die Analysis eines reinen Verstandesbegriffs (dergleichen die Metaphysik enthält) nicht auf andere Art vor sich geht, als die Zergliederung jedes andern auch empirischen Begriffs, der nicht in die Metaphysik gehört (z. B. Luft ist eine elastische Flüssigkeit, deren Elastizität durch keinen bekannten Grad der Kälte aufgehoben wird), so ist zwar der [37] Begriff, aber nicht das analytische Urteil eigentümlich metaphysisch: denn diese Wissenschaft hat etwas Besonderes und ihr Eigentümliches in der Erzeugung ihrer Erkenntnisse a priori; die also von dem, was sie mit allen andern Verstandeserkenntnissen gemein hat, muß unterschieden werden; so ist z. B. der Satz: alles, was in den Dingen Substanz ist, ist beharrlich, ein synthetischer und eigentümlich metaphysischer Satz.

      Wenn man die Begriffe a priori, welche die Materie der Metaphysik und ihr Bauzeug ausmachen, zuvor nach gewissen Prinzipien gesammlet hat, so ist die Zergliederung dieser Begriffe von großem Werte; auch kann dieselbe als ein besonderer Teil (gleichsam als philosophia definitiua), der lauter analytische zur Metaphysik gehörige Sätze enthält, von allen synthetischen Sätzen, die die Metaphysik selbst ausmachen, abgesondert vorgetragen werden. Denn in der Tat haben jene Zergliederungen nirgend anders einen beträchtlichen Nutzen, als in der Metaphysik, d. i. in Absicht auf die synthetischen Sätze, die aus jenen zuerst zergliederten Begriffen sollen erzeugt werden.

      Der Schluß dieses Paragraphs ist also: daß Metaphysik es eigentlich mit synthetischen Sätzen a priori zu tun habe, und diese allein ihren Zweck ausmachen, zu welchem sie zwar allerdings mancher Zergliederungen ihrer Begriffe, mithin analytischer Urteile bedarf, wobei aber das Verfahren nicht anders ist, als in jeder andern Erkenntnisart, wo man seine Begriffe durch Zergliederung [38 :::] bloß deutlich zu machen sucht. Allein die  E r z e u g u n g  der Erkenntnis a priori sowohl der Anschauung als Begriffen nach, endlich auch synthetischer Sätze a priori, und zwar im philosophischen Erkenntnisse, macht den wesentlichen Inhalt der Metaphysik aus.

      [::: 30]

§ 3
Anmerkung
zur allgemeinen Einteilung der Urteile in
analytische und synthetische


      Diese Einteilung ist in Ansehung der Kritik des menschlichen Verstandes unentbehrlich, und verdient daher [31] in ihr  k l a s s i s c h  zu sein; sonst wüßte ich nicht, daß sie irgend anderwärts einen beträchtlichen Nutzen hätte. Und hierin finde ich auch die Ursache, weswegen dogmatische Philosophen, die die Quellen metaphysischer Urteile immer nur in der Metaphysik selbst, nicht aber außer ihr, in den reinen Vernunftgesetzen überhaupt, suchten, diese Einteilung, die sich von selbst darzubieten scheint, vernachlässigten, und wie der berühmte  W o l f f,  oder der seinen Fußstapfen folgende scharfsinnige  B a u m g a r t e n  den Beweis von dem Satze des zureichenden Grundes, der offenbar synthetisch ist, im Satze des Widerspruchs suchen konnten. Dagegen treffe ich schon in  L o c k e s  Versuchen über den menschlichen Verstand einen Wink zu dieser Einteilung an. Denn im vierten Buch, dem dritten Hauptstück § 9 u. f., nachdem er schon vorher von der verschiedenen Verknüpfung der Vorstellungen in Urteilen und deren Quellen geredet hatte, wovon er die eine in der Identität oder Widerspruch setzt (analytische Urteile), die andere aber in der Existenz der Vorstellungen in einem Subjekt (synthetische Urteile), so gesteht er § 10, daß unsere Erkenntnis (a priori) von der letztern sehr enge und beinahe gar nichts sei. Allein es herrscht in dem, was er von dieser Art der Erkenntnis sagt, so wenig Bestimmtes und auf Regeln Gebrachtes, daß man sich nicht wundern darf, wenn niemand, sonderlich nicht einmal  H u m e,  Anlaß daher genommen hat, über Sätze dieser Art Betrachtungen anzustellen. Denn dergleichen allgemeine und dennoch bestimmte Prinzipien [32] lernt man nicht leicht von andern, denen sie nur dunkel obgeschwebt haben. Man muß durch eigenes Nachdenken zuvor selbst darauf gekommen sein, hernach findet man sie auch anderwärts, wo man sie gewiß nicht zuerst würde angetroffen haben, weil die Verfasser selbst nicht einmal wußten, daß ihren eigenen Bemerkungen eine solche Idee zum Grunde liege. Die, so niemals selbst denken, besitzen dennoch die Scharfsichtigkeit, alles, nachdem es ihnen gezeigt worden, in demjenigen, was sonst schon gesagt worden, aufzuspähen, wo es doch vorher niemand sehen konnte.

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Die folgenden fünf Absätze bilden in der Ausgabe von 1783 die Absätze 2 bis 6 des Paragraphen 4. Gemäß der Vaihinger-Sitzlerschen Blattversetzungshypothese gehören sie jedoch zu Paragraph 2.
 
 
 
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