BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Hermann Samuel Reimarus

1694 - 1768

 

Ein Mehreres

aus den Papieren des Ungenannten,

die Offenbarung betreffend

 

1777

 

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[265]

Erstes Fragment.

Von Verschreyung der Vernunft

auf den Kanzeln.

 

 

§. 1. Wenn die Herren Prediger diesen Mangel der catechetischen Lehrbücher an einer vernünftigen Religion, und an einem vernünftigen Uebergange von derselben zur Offenbarung in ihren Canzel-Reden für die Erwachsenen wieder zu ersetzen suchten: so mögte man sie noch damit entschuldigen, daß sie dem kindischen Alter, nur aus einer irrigen Meynung, kein Vermögen denken zu lernen zugetraut hätten, und also die vernünftige Einsicht göttlicher Wahrheiten bis zu einem gesetzteren und geübteren Alter versparen wollen. Das wäre zwar eine verkehrte Methode, den Grund der Religion mit bloßen Vorurtheilen und angehängten fürchterlichen Drohungen legen, und hernach auf diese eingewurzelte Vorurtheile und ängstliche Vorstellungen eine vernünftige Einsicht bauen wollen. Ein so zugerichtetes Gemüth sieht jeden Schimmer der Vernunft für unwidersprechliche Beweise an: es ist schon geneigt, alles, was seinen Vorurtheilen gemäß ist, für die Wahrheit anzunehmen und das Gegentheil zu verabscheuen, und daher bildet es sich leicht ein, volles Licht und Ueberführung von einer Sache zu haben, davon es nichts verstehet. Man darf sich nur die Gelehrten selbst zum Beyspiele vorstellen, wie mächtig die Vorurtheile der Kindheit und angeerbten [266] Religion über die Menschen sind. Diese Leute wissen ja wohl mehr, was zur Beurtheilung der wahren Offenbarung gehört, als der gemeine Mann davon weiß. Es fehlt ihnen zum Theile an keinen Hülfsmitteln der Einsicht. Sie wollen es auch mit allem Fleiße untersuchen; und man müßte lieblos handeln, wenn man glaubte, daß sie wider besser Wissen und Gewissen redeten, wenn sie nach solcher Untersuchung bekennen, von der Wahrheit ihrer Religion völlig überzeugt zu seyn. Nein, sie mögen größten[t]heils ehrliche Leute seyn, und von Grunde ihres Herzens glauben. Aber ein jeder findet denn doch, beym Beschlusse seiner Prüfung, die Religion und Secte, worinn er erzogen worden, die beste und einzig wahre zu seyn. Wie geht das zu, daß ein Mufti, ein Ober-Rabbiner, ein Bellarminus, ein Grotius, ein Gerhard, ein Vitringa, mit so vieler Wissenschaft, und aufrichtiger Bestrebung, von so entgegenstehenden Systemen alle gleich überführt seyn können? Es hat allerwärts einerley Grund. Einem jeden ist seine Religion und Secte, in der Kindheit, bloß als ein Vorurtheil, durch unverstandene Gedächtniß-Formeln und eingejagte Furcht für Verdammniß, eingeprägt worden: und man hat ihn glauben gemacht, er sey durch eine besondere göttliche Gnade von solchen Eltern in einer seligmachenden wahren Religion geboren und erzogen. Das macht einen jeden geneigt zu seiner Secte; und wenn es denn bey reiferen Jahren zur Untersuchung der Wahrheit kommt, so wird die Gelehrsamkeit und Vernunft selbst zu Werkzeugen gebraucht, dasjenige zu erweisen und zu rechtfertigen, was sie schon zum voraus [267] wünschten wahr zu finden. Geht das nun so bey Leuten, die alle Hülfsmittel zur Einsicht der Wahrheit besitzen, daß dennoch ihre männliche Betrachtungen durch den Hang von kindlichen Vorurtheilen eben so leicht zu Irrthümern als zur Wahrheit gelenkt werden können: was würden die Herren Theologi, bey gemeinen unstudirten Leuten, für aufrichtige Ueberführung schaffen können, wenn sie da eine vernünftige Einsicht der Religion hinternach auf die einmal ihnen eingeprägten Vorurtheile zu gründen anfingen? Die allermeisten unter ihnen würden nicht einmal fähig seyn, die ihnen ganz fremde Lehrart zu fassen, geschweige die Vorstellung zu beurtheilen, da sie bisher in den Schulen nach den eingeführten Lehrbüchern, zu keinem Denken und zur Uebung der Vernunft angeführt sind.

§. 2. Aber, das ist auch in der That der Vorsatz der Herren Prediger nicht, daß sie die Erwachsenen nunmehr von der Canzel zu einer vernünftigen Religion, und zur vernünftigen Einsicht der Wahrheit des Christenthums, unterrichten wollten. Sondern man schreckt vielmehr diejenigen, welche nun Lust bekommen mögten nachzudenken und auf den Grund ihres bisherigen blinden Glaubens zu forschen, von dem Gebrauche ihrer edelsten Natur-Gabe, der Vernunft, ab. Die Vernunft wird ihnen als eine schwache, blinde, verdorbene und verführerische Leiterinn abgemahlt; damit die Zuhörer, welche noch nicht einmal recht wissen, was Vernunft oder vernünftig heisse, jetzt bange werden, ihre Vernunft zur Erkenntniß göttlicher Dinge anzuwenden, weil sie dadurch leicht zu gefährlichen Irrthümern gebracht[268] werden mögten. Es heißt da: was der Mensch durch eigene Kräfte von Gott erkenne, das helfe ihm nichts zur Seligkeit, alles was nicht aus dem Glauben kommt, sey Sünde; der natürliche Mensch fasse die Dinge nicht, die des Geistes Gottes sind, sie seyn ihm eine Thorheit und er könne sie nicht erkennen, dieweil sie geistlich geurtheilt werden müßten. Darum vermahnen sie, als mit des Apostels Pauli Worten, daß wir unsre Vernunft gefangen nehmen sollen unter den Gehorsam des Glaubens. Diese Vorstellung kann in den christgläubigen Seelen, bey aller übrigen Anwendung ihrer gesunden Vernunft in weltlichen Dingen, nichts anders wirken, als daß sie sich demnach in der Erkenntniß Gottes sorgfältig hüten, nicht vernunftmäßig zu denken, und sich nur befleißigen fein gehorsahmlich zu glauben. Die vernünftige Religion, meinen sie denn, könne ihnen ja doch zur Seligkeit nicht helfen, aber leicht daran hinderlich seyn, daß sie am Glauben Schiffbruch litten. Also gehen sie gerne den kürzesten und sichersten Weg, und enthalten sich des Gebrauchs der Vernunft, sobald es die Erkenntniß göttlicher Dinge betrifft, welche geglaubt und geistlich beurtheilt seyn wollen. Es ist ihnen an sich bequemer, einfältig zu glauben, was sie einmal gelernt haben, als viel nachzudenken, und wie es denn heißt, zu grübeln und zu philosophiren. Ja ich habe manche Gelehrte und in allen übrigen Stücken vernünftige Leute gekannt, die von der Warnung gegen die Vernunft dergestalt eingenommen waren, und die bey dem Glauben empfundene Sicherheit so sehr liebten, daß sie sich selbst nicht zutrauten, in Religions-Sachen sich mit [269] Nachdenken einzulassen, oder Bücher, welche die Religion nach der Vernunft abhandeln, zu lesen, aus Beysorge, sie mögten in ihrem Glauben irregemacht, und in ihrer sanften Gemüths-Ruhe durch Zweifel gestört werden. Also ist diese Methode, welche der Vernunft und vernünftigen Religion einen bösen Namen macht, bey den mehrsten Erwachsenen wirksam genug, dieselben in aller Einfalt und Gehorsam bey ihrem Catechismus-Glauben zu erhalten, und die unzulängliche natürliche Erkenntniß den verdammten Heyden, Naturalisten und Vernünftlern auf ihre Gefahr zu überlassen. Die Umstände der Menschen machen einen solchen blinden Glauben, welcher keiner Vernunft braucht, fast bey allen Ständen und Lebens-Arten beliebt und interessant. Denn, wie er die Hierarchie auf den Thron setzt, und den geistlichen Orden zu der Macht erhebt, über die Gewissen zu herrschen: so sind auch die Layen und weltlichen gerne damit zufrieden, daß sie nun ohne vieles Kopfbrechen in den Himmel kommen, und mitlerweile, ihr zeitlich Glück auf Erden desto embsiger suchen, oder wohl gar ihren Lüsten desto sicherer nachhängen können. Sobald die Geringerern ihr Glaubens-Bekenntniß erlernet, und nach Ablegung desselben zum Abendmale gelassen sind: geht ein jeder mit dem sechszehnten Jahre, wol früher, an sein Handwerk und Gewerbe, oder zur See, oder in Dienste der Reichern, oder wo er sonst sein Brodt am besten gewinnen kann, und weiter hat er für seine Seele nicht zu sorgen, als nur das bis an sein seliges Ende zu glauben, was er aus seinem Catechismo behalten hat. Andere bemühen sich durch die [270] Kaufmannschaft, Künste, Wissenschaften, Kriegs-Uebungen, oder auch Civil- und Hofbedienungen, aus dem Staube mehr empor zu steigen, oder sie setzen sich auf ihre Güter, treiben das Landwesen, verzehren ihren geerbten Ueberfluß in Wohlleben. Bey allen solchen Lebensarten, werden die Menschen entweder in das geschäftige Gewühle nach zeitlicher Ehre und Reichthümern so vertieft, oder in dem müßigen Genusse abwechselnder Ergötzungen so ersoffen, daß sie sich gern einer weitern Forschung nach Wahrheit überhoben sehen, und ihre Seelsorger für sich denken lassen. Ein großer Theil schweift gar aus in sinnlichen Lüsten, Leichtsinn, Lastern und Geringschätzung der Religion, da entweder das gläubige Vertrauen auf ein fremdes Verdienst die Regungen ihres Gewissens stillen muß, oder doch zum äussersten Trost in der letzten Stunde verspart wird.

§. 3. Sehet denn, was den blinden Glauben ohne vernünftige Religion allen Ständen und Lebensarten beliebt zu machen pflegt, und wie sich der geistliche Orden dieser Schwachheit der Menschen zur Unterdrückung der gesunden Vernunft in der Erkenntniß Gottes zu bedienen weiß. Ich will noch nicht untersuchen, ob das wahre Christenthum, oder auch der äußerliche Zustand der Kirche durch dieses Mittel etwas gewinne. Meine Erste Frage soll jetzt nur seyn: Haben die Herren Theologi darinn recht, daß sie die Vernunft und vernünftige Religion durch den Glauben verdrengen und ersticken? Das Beyspiel ihres großen Lehrers Jesu ist darinn nicht auf ihrer Seite. Denn der hat nichts als eine vernünftige praktische Religion geprediget. Die Jüdische und Apostolische Kirche spricht ihnen entgegen. Denn die hat die vernünftigen [271] Verehrer Gottes aus den Heyden als fromme Leute erkannt, und, wenn sie vollkommene Juden oder Christen werden wollten, nicht von ihnen verlangt, daß sie nun ihre vernünftige Religion bey Seite setzen und in einen bloßen Glauben verwandeln sollten. Paulus aber, dessen Worte sie immer im Munde führen, hat das gar nicht sagen wollen, was unsre Herren Theologi daraus zu erzwingen suchen. Theils übersetzet man die Worte unrichtig, theils deutet man sie wider den Zweck und Zusammenhang. Die erste Stelle lautet 1) nach der Uebersetzung so: Der natürliche Mensch fasset die Dinge nicht, die des Geistes Gottes sind, dann sie sind ihm eine Thorheit und er kann sie nicht erkennen; dann sie werden geistlich geurtheilet. Das nehmen die Theologi so, als ob die Rede sey von einem Menschen, der seinen Naturkräften, besonders der angebornen Vernunft überlassen ist, im Gegensatz von einem, der durch die übernatürliche Offenbarung erleuchtet worden. Die Meynung sey demnach, daß jener mit aller seiner Vernunft nichts von demjenigen, was der Geist Gottes in der Offenbarung vorgetragen, recht verstehen oder beurtheilen könne, sondern daß eine höhere Einwirkung des göttlichen Geistes erfodert werde, um die geoffenbarten Wahrheiten, recht einzusehen, sonst würden sie ihm als Thorheiten vorkommen. Allein man erlaube mir zu sagen, daß diese Uebersetzung und Auslegung dem Gebrauche [272] der Grundworte und dem Zwecke des Apostels zuwider laufe. Das Grundwort ψυχικὸς ἄνθρωπος stellet uns eine ganz andere Person dar, als diejenige ist, welche in der Uebersetzung untergeschoben wird 2). Was es eigentlich bedeute, muß aus dem Gebrauche der Schreiber des Neuen Testaments bestimmt werden, da es noch zweymal in ganz parallelen Stellen vorkommt. Nämlich allerwärts bedeutet es einen Menschen, der seinen sinnlichen Neigungen und Affecten, besonders der Zanksucht, folgt. Der Apostel Jacobus sagt 3): Habt ihr bittern Neid und Zank im Herzen, so rühmt euch nicht. Dies ist nicht die Weisheit, die von oben kommt, sondern sie ist irdisch ἐπίγειος, boshaft ψυχική ja teuflisch δαιμονιώδης. Eben so schreibt der Apostel Judas 4): Die nach ihren gottlosen Lüsten wandeln, sind solche, die sich absondern, boshafte Leute δαιμονιώδης, die den Geist nicht haben. Also stellet das Grundwort einen Menschen vor, der bittern Neid und Zank im Herzen hat, nach seinen bösen Lüsten wandelt, sich von andern absondert, irdisch gesinnet ist, und voller teuflischer [273] Bosheit steckt, und Paulus nennet ihn gleich nach dieser Stelle (σαρκινόν), einen fleischlich gesinneten. Der Begriff stimmt auch vollkommen mit dem Zwecke Pauli überein. Denn er äußert ja gleich anfangs in dem Briefe die Absicht, seine Corinther zu bestrafen, daß Neid, Zank und Zwietracht unter ihnen herrsche, indem der eine Paulisch, der andere Apollisch, der dritte Kephisch, der vierte Christisch seyn und heissen wolle 5). Nachdem er nun, vermöge seiner feurigen Einbildungskraft, einige Ausschweiffungen auf Nebendinge gemacht, so lenkt er seine Rede wieder zu seinem Hauptzwecke, und macht gleichsam diesen Schluß: Wer fleischlich gesinnet ist und voller Affecten, der nimmt die Wirkungen des Geistes Gottes nicht an. Ψυχικὸς δὲ ἄνθρωπος οὐ δέχεται τὰ τοῦ πνεύματος τοῦ Θεοῦ. Nun seyd ihr Corinther noch fleischlich gesinnet und voller Affekten. Denn es ist Neid, Zank und Zwietracht unter euch, darüber daß der eine sich Paulisch, der andere Apollisch u. s. w. nennet. Demnach könnet ihr in solchem Zustande die Wirkungen des Geistes Gottes zu eurer Bekehrung nicht annehmen. Wenn also hier die Frage gar nicht ist, von den natürlichen Verstandes-Kräften, was die an sich vermögend sind zu begreifen oder nicht zu begreifen, sondern von einem verkehrten sinnlichen Willen, der voller Affecten ist, was der dem lebendigen Erkenntniß, oder der Frucht des Geistes, hinderlich sey: so ist ja offenbar, daß die Herren Theologi diese Worte zur Ungebühr auf das Unvermögen und auf die Blindheit der natürlichen Vernunft in geistlichen Dingen ziehen. Paulus will [274] nichts weiter sagen, als was auch von aller andern Erkenntniß gilt, daß sinnliche Affecten alle heilsame Lehren unfruchtbar machen. So spricht er demnach hier in Absicht auf die lebendige Erkenntniß des Evangelii: Ein Mensch der voller Affecten ist, der Neid, Zank und Zwietracht im Herzen hat, der kann die Wirkungen des Geistes Gottes zu seiner Bekehrung nicht annehmen; sie sind ihm noch eine Thorheit, die er verachtet; er kann sie nicht nach ihrem Wesen und Nutzen erkennen, weil sie nach dem Geist zu schätzen sind. Der Apostel hat es hier gar nicht mit solchen Leuten zu thun., die sich mit Vernünfteleyen dem Evangelio widersetzten, und es etwa wie die Griechen, darum für Thorheit hielten, weil sie nach nichts als nach philosophischer Weisheit fragten; sondern mit solchen, die das Evangelium allerdings gläubigst angenommen hatten, aber über den Vorzug ihrer verschiedenen Lehrer in einen heftigen Zwiespalt gerathen waren, daß sie die Frucht des Evangelii darüber vernichteten. Er will also nur die Affecten und unnütze Zänkereyen unterdrücken, welche der lebendigen Erkenntniß und Einwirkung des Geistes Gottes zur Weisheit, Gerechtigkeit und Heiligung den Weg versperreten. Was haben denn die Verstandes-Kräfte, das Vermögen und die Einsicht der Vernunft, die theoretische Erkenntniß der Geheimnisse hiebey zu schaffen? Da lag es in der corinthischen Gemeine nicht an, weil sie nun alles gepredigte ohne Widerrede glaubten, sondern an den ungezähmten fleischlichen Affekten. Wie mögen denn die Herren Theologi diese Stelle, wider den Gebrauch der Worte, wider die Gelegenheit und Absicht [275] derselben, ja wider die Natur der Sache selbst, zur Hemmung alles Gebrauchs der gesunden Vernunft in der Annehmung der Offenbarung, und zur Unterdrückung aller vernünftigen Religion, mißdeuten?

§. 4. Es wird uns auch ausser dieser Stelle, noch eine andere von den Canzeln fleißig vorgehalten, welche Paulus gleichfalls den Christen zur Regel gegeben haben soll: daß wir unsre Vernunft gefangen nehmen müssen unter dem Gehorsam des Glaubens. Ich gestehe es, daß ich diesen Machtspruch, auch durch Hülfe der Concordanz, in meiner ganzen Bibel nicht finden kann; und ich habe mich oft gewundert, wie unsre Schriftgelehrte so dreist seyn können, dieses für eine göttliche Forderung an uns Menschen auszugeben. Die Stelle, worauf gezielet wird 6), enthält das gewiß nicht, sondern vielmehr das Gegentheil. Paulus hatte die Corinther gerühmt, daß sie, auf seine Ermahnung, eine sehr milde Steuer zu dem Mangel der Heiligen hergegeben, und dadurch ihren Gehorsam gegen das Evangelium Christi öffentlich bezeugt hätten 7). Diese Willfahrung der Corinther, welche Paulus von ihnen zu erhalten gewust, hatte dem Apostel Neider und Verleumder erweckt. Sie gaben ihm Schuld, als wandelte er nach dem Fleische, als hätte er mit fleischlichen Waffen gestritten, oder, wie es hernach noch deutlicher heißt, als hätte er die Corinther durch Arglist gefangen 8). Man könnte diese Beschuldigung [276] etwa zuvörderst auf gedachte milde Steuer ziehen, die ihnen Paulus vielleicht mit Liebkosungen in fleischlicher Absicht, und zu seinem eigenen Vortheile, abgeschwatzt haben könnte. Denn er widerlegt solchen Verdacht dadurch, daß er keinen Sold von ihnen begehret, sondern sich mit seiner Hände Arbeit unterhalten habe, und daß weder er selbst, noch Titus, noch sonst jemand, welchen er statt seiner gesandt, die Corinther übervortheilet hätte 9). Aber, weil Paulus bey dieser Gelegenheit sein ganzes Bekehrungswerk, das er bey den Corinthern ausgeführt hatte, rettet, und auf die falschen Apostel gewaltig loszieht, so ist auch wohl zu erkennen, daß die Verleumdung nicht bey der einzigen Armensteuer bestehen geblieben sey, sondern das ganze Betragen Pauli überhaupt angeschwärzt haben müsse. Demnach können wir den Gehorsam Christi und das gefangen nehmen füglich ins gemein verstehen, so fern die falschen Apostel, welche Christum aus Hader und Nacheifferung predigten, auf Paulum neidisch waren, daß er bey den Corinthern so vielen Eingang gefunden, sie zum Christenthum zu bekehren. Also beschreibt denn Paulus, wie er mit seinen Gehülfen die Corinther bloß durch Gründe und Benehmung aller Zweifel und Einwendungen von der Wahrheit des Christenthums überführt habe: indem wir die Vernunftschlüsse umgestossen, nebst allem was wider die Erkenntnis Gottes erhoben ward, Λογισμοὺ καθαιροῦντες καὶ πᾶς ὕψωμα ἐπαιρόμενον κατὰ τῆς γνώσεως τοῦ Θεοῦ, und folglich alle Gedanken gefangen genommen zum [277] Gehorsam Christi: καὶ αἰχμαλωτίζοντες πᾶν νόημα εἰς τὴν ὑπακοὴν τοῦ Χριστοῦ. Zum bessern Verstande der Ausdrücke muß man nur merken, daß Paulus figürliche und eigentliche Redensarten unter einander mischt, die sich denn einander erklären. Vielleicht hatte die Nachrede, daß er die Corinther durch Arglist gefangen genommen, zu den Sinnbildern Anlaß gegeben. Er stellt sich unter dem Bilde eines Kriegers vor, der mit Waffen zu Felde zieht, um eine Vestung einzunehmen, sodann alle hohe Vestungswerke, die ihm entgegen gesetzt sind, über den Haufen wirft, und die nunmehr wehrlosen Einwohner gefangen nimmt. Dies macht alles verständlich. Der Kriegszug ist sein Bekehrungswerk; die geistlichen Waffen sind seine Beweisgründe; die Vestungswerke, die hohen Mauren und Thürme, (πᾶν ὕψωμα ἐπαιρόμενον) die er umzustossen hatte, waren die Vernunftschlüsse und Einwendungen, (λογισμοί) welche ihm die Corinther anfangs machten; die Wegräumung solcher Bollwerke bedeutet die gründliche Beantwortung aller Zweifel gegen die Erkenntniß Gottes; die Gefangennehmung zielt auf die völlige Ueberführung der Corinther von der Wahrheit des Evangelii, nachdem ihnen alle Ausflüchte benommen worden; und endlich ist die Folge der Eroberung der Ueberwundenen, welcher hier durch den Gehorsam Christi erklärt wird. Ich hoffe, daß hierin alles so klar ist, als man irgend etwas verlangen kann.

§. 5. Unsre Herren Theologi weichen aber auf dreyfache Art von dem Grundtexte und dem Sinne Pauli ab. Erstlich redet Paulus nicht von der Vernunft [278] selbst, daß sie umzustossen, aufzuheben oder gefangen zu nehmen sey, sondern er spricht nur von den Vernunftschlüssen, daß sie umgestoßen, und von den Gedanken, daß sie gefangen genommen worden. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Denn Vernunftschlüsse und Gründe können falsch seyn und widerlegt werden; und wenn das mit völliger Klarheit und Deutlichkeit geschehen ist, so wird der Mensch innerlich genöthiget, der Wahrheit bey sich Platz zu geben; er muß seine Einwendungen fahren lassen, und wird gleichsam gefangen genommen. Aber die Vernunft selbst, mit ihren ewigen Grundregeln, ist nicht zu widerlegen, und wir müssen sie auch immer fahren lassen, wo wir uns nicht in unvernünftige Irrthümer stürzen wollen. Warum heißt man uns denn die Vernunft selbst gefangen nehmen? Kann dies wohl einen andern Verstand erwecken, zumal bey Leuten, die noch nimmer zu einer vernünftigen Religion angeführt sind, als daß sie ihre Vernunft, da sie doch von Dingen, die des Gottes sind, nicht versteht, immer bey sich unterdrücken, und gänzlich ungebraucht lassen müssen, wenn sie gute Christen seyn wollen. Eine zweyte Abweichung von den Worten und dem Sinne Pauli ist diese, daß die Vernunft gefangen zu nehmen sey unter dem Gehorsam des Glaubens. Es steht eigentlich im Texte nichts vom Gehorsam des Glaubens, sondern vom Gehorsam Christi. Und wenn auch jener Ausdruck an sich mit diesem eins wäre, so müste doch εἰς ὑπακοήν nicht gegeben werden unter dem Gehorsam, sondern zum Gehorsam Christi oder des Glaubens. Nämlich Paulus rühmt sich, er habe die Corinther, da sie noch Heyden [279] waren, auf solche Art zum Christenthum bekehrt, daß er zuvor alle ihre Vernunftschlüsse und Einwendungen gegen dasselbe überführend widerlegt, so daß sie weiter keine Ausflüchte mehr gehabt, und also alle ihre Gedanken wären gefangengenommen worden zum Gehorsam Christi. Also ist der Gehorsam Christi eine Wirkung und Erfolg der überzeuglichen Predigt Pauli gewesen: die Corinther sind durch unwidersprechliche Gründe und durch völlige Benehmung aller Zweifel endlich dahin gebracht worden, daß sie sich entschlossen, Christo zu gehorsamen. Aber, die Vernunft gefangen nehmen unter dem Gehorsam des Glaubens, klingt so, als ob der Glaube, oder der Vorsatz dem Glauben zu gehorchen, schon vorher da wäre, und eine Ursache des Beyfalls der Vernunft seyn müßte: ich glaube es, also muß es wahr seyn, meine Vernunft mag sagen was sie will. Das ist ja wohl eine verkehrte Ordnung. Die Vernunft kann gar nicht unter einem Gehorsam stehen, ihr Beyfall ist nichts willkührliches, ihr muß zuvor Genüge geschehen, ehe man glauben kann, daß eine Lehre wahr, daß ein Zeugnis göttlich sey, ehe man sich mit freyem und gutem Willen entschließt, dem zu gehorchen, was die Lehre zu thun verlangt. Eine dritte Verdrehung der Paulinischen Worte bestehet darin: daß die Theologi und Prediger eine Regel und Befehl an die Lehrlinge oder catechumenos daraus machen: sie sollen selbst ihre Vernunft gefangen nehmen unter dem Gehorsam des Glaubens; da doch Paulus sagt, er, als Lehrer und Apostel an die Heyden, habe alle Vernunftschlüsse und Gedanken der Corinther wider die Erkenntniß Gottes gefangen genommen, [280] d. i. überführend widerlegt. Sie stunden noch nicht unter dem Gehorsam Christi oder des Glaubens, sondern Paulus wollte sie erst durch geistliche Waffen zu einem solchen Gehorsam bringen, da war natürlich, daß sie sich nicht sogleich gefangen gaben, sondern sich in ihren Verschanzungen und Bollwerken so lange wehrten als sie konnten, d. i. daß sie der neuen Religion allerley Gründe der Vernunft entgegen setzten. Und Pauli Amt erforderte es, ihnen zuvörderst alle diese vernünftig scheinende Einwendungen zu benehmen, wie er sich rühmt auch gethan zu haben. Er läßt sie also ihre Vernunft gebrauchen, so viel Vernunftschlüsse und Gründe als sie nur wollen, gegen seine Lehre ersinnen und vorbringen. Dann widerlegt er dieselben auf eine völlig überführende Art; und dieses hat die Wirkung, daß sie sich ergeben müssen, und nun als Gläubige verpflichtet werden zum Gehorsam Christi. Wenn es unsre Herren Theologi auch so machten: so würden sie in die Fußstapfen des Apostels treten. Aber das ist nicht der rechte Weg: erst die Kinder in der Wiege par forçe zu Christen zu taufen, und ihnen dabey einen christlichen Glauben und Verlangen nach der Taufe anzutichten: sie darnach, vor dem Gebrauche der Vernunft, ohne alle vernünftige Religion, zu einem blinden Glauben an die Bibel und deren Lehre anzuführen, und solchen Glauben durch Furcht und Hofnung, durch Himmel und Hölle, tief in die zarten Gemüther einzuprägen: endlich aber, wenn die Jahre der Ueberlegung und Prüfung des Glaubens kommen sind, sie vor dem Gebrauch der blöden und verdorbenen Vernunft sorgfältig zu warnen, und von [281] ihnen zu verlangen, daß sie ihre Vernunft zum voraus gefangen nehmen sollen unter dem Gehorsam desjenigen Glaubens, der ihnen blos durch ein kindliches Vorurtheil eingeflößet war. Das heißt in der That, alle Vernunft und vernünfttige Religion bey den Menschen ersticken.

§. 6. Wenn die Verdrehung der angeregten Schriftörter etwa nicht mehr helfen wollte, dem Gehorsam eines blinden Glaubens, zum Nachtheil der gesunden Vernunft, zu autorisiren: so muß der klägliche Sündenfall der ersten Eltern, und das dadurch auf uns gebrachte Verderben unsrer Naturkräfte die Sache unterstützen. Im Stande der Unschuld, sagen sie, hatte der Mensch ein anerschaffenes Ebenbild Gottes, das ist, eine genugsame Einsicht von Gott, der Welt und ihm selbst, wie auch Weisheit, Gerechtigkeit und Heiligkeit, an sich. Durch den Sündenfall aber hat er diese Vorzüge verscherzt, und alles leib- und geistliche Verderben auf die Nachkommen fortgepflanzet. Jetzt herrscht von Natur lauter Unwissenheit, Finsterniß und Blindheit im Verstande, und der Wille ist von Kindesbeinen an zum Bösen geneigt, und zu allem Guten erstorben. So wäre denn, nach diesem System, eine gewaltige Veränderung in der Natur des menschlichsn Geschlechts vorgegangen, und auch unsre edelste Naturkraft, die Vernunft, wenigstens in geistlichen Dingen, sehr verdorben. Aber ich muß gestehen: wenn ich die mosaische Geschichte von dem ersten Menschen im Paradiese, an sich und ohne Vorurtheil betrachte, so kann ich im geringsten nicht sehen, daß sie eine vorzügliche Seelen-Vollkommenheit vor [282] uns voraus gehabt hätten. Denn sie scheinen vor ihrem Falle weder Gott noch den Teufel, weder die Natur noch sich selbst, zureichend gekannt zu haben; indem sie sich durch den sinnlichen Reitz der schönen Aepfel, auf das Zureden einer verführerischen Schlange, oder des Teufels, so gleich verleiten lassen, wider das klare Verbot Gottes zu handeln, und das zu thun, was in der That böse war. Sie vergehen sich also eben dadurch, daß sie keine Vernunft brauchen, und den trieglichen Sinnen und falschen Ueberredungen in großer Uebereilung folgen. Wenn nun die ersten Menschen, in ihrem vollkommensten Stande der Unschuld, ohne Erbsünde an sich zu haben, dennoch, wie wir, haben fehlen und sündigen können, und wenn sie aus eben der Ursache, wie wir, gesündiget, daß sie die sinnlichen Begierden und Affekten nicht durch ihre Vernunft bezwungen: wie will man denn aus dieser Geschichte ein Verderben unsrer edelsten Naturkräfte herleiten, und besonders die Vernunft eines solchen Verderbens bezüchtigen, daß sie in der Erkenntniß göttlicher Dinge blind, und ihr Gebrauch bey derselben gefährlich sey. Die Versäumung dieses Gebrauchs wäre gerade der Weg, daß wir eben also von der wahren Erkenntniß Gottes und von dem Gehorsam, welchen wir seinen Geboten schuldig sind, abweichen, als uns von unsern ersten Eltern berichtet wird. Die Herren Prediger wären also, als wahre Seelsorger, schuldig, allen und jeden Zuhörern die gesunde Vernunft und ihren Gebrauch, als eine untriegliche Richtschnur der göttlichen Erkenntniß und eines frommen Wandels zu empfehlen, und ihnen vielmehr zu sagen, daß unsre ersten Eltern eben darum gefallen [283] wären, und sich den Versuchungen des Satans bloß gestellet hätten, weil sie keine Vernunft gebraucht. Und siehe! sie folgern ganz verkehrt daraus, daß unsre Vernunft nunmehr von Natur verdorben sey, und daß es Eingebungen des Satans sind, wenn jemand in göttlichen Dingen seine Vernunft zu brauchen anfängt. Muß nicht der christgläubige Zuhörer, nach dieser Vorstellung von dem Verderben seiner Vernunft, in seiner Einfalt denken, er habe, wegen der Erbsünde, keine gesunde Vernunft mehr, wenn es auf göttliche Wahrheiten ankömmt, und keine Freyheit des Willens mehr, um etwas selbst zu thun und zu üben, was gut und Gott gefällig wäre?

§. 7. Mögte doch ein jeder sich so viel ermannen, daß er mit seiner jetzigen Vernunft einen Versuch machte, ob er nicht, nach der bloß natürlichen Erkenntniß, viel richtiger von Gott, und seinem Verbot im Paradiese, zu urtheilen vermögend sey, als die ersten Eltern sollen geurtheilet haben. Wir sind ja durch die bloße Vernunft von Gottes Wahrheit, Weisheit, Güte und Macht genugsam überführt, daß wenn er unmittelbar seinen Willen zu erkennen gäbe, wir sollten nur von dem einen Fruchtbaume mitten im Garten nicht essen, alle die übrigen wären uns zur Nahrung erschaffen, so würden wir nimmer auf die Gedanken fallen, Gott habe das nicht gesagt, oder so gemeynt; er wisse es, selbst besser, daß von dem Baume gut zu esscn sey, daß er klug machte, und wir dadurch an Weisheit ihm gleich werden könnten, zu unterscheiden, was gut oder böse sey. Wenn wir auch die Ursache des Verbots nicht errathen könnten, so würden [284] wir doch in Ewigkeit nicht argwöhnen, daß es aus Neid oder Mißgunst gegeben sey, damit wir Gott nicht gleich werden sollten; sondern sicherlich glauben, daß uns der Genuß schaden würde, und also zu unserm eigenen Besten untersagt sey. Nimmer würden wir einem sprechenden Thiere mehr Aufrichtigkeit und Einsicht zutrauen, als dem weisesten Schöpfer der Natur. Wir hätten folglich die unzeitige Lüsternheit nach einer einzigen Frucht des Gartens bey dem freyen Genusse aller übrigen eben so leicht überwunden, als wir bey einem wohlgedeckten Tische ein und anderes Essen, das uns der Arzt verboten, vorbeygehen lassen. Daraus könnte also ein jeder, der natürlichen Verstand hätte und brauchen wollte, überzeugt werden, daß seine angeborne Vernunft jetzt in der Einsicht der Vollkommenheiten Gottes nichts verkürzter, noch in der Herrschaft über die sinnlichen Begierden schwächer und ohnmächtiger sey, als wir beydes in der Geschichte der ersten Menschen finden. Wollte man unsere Vernunft darum jetzt verdorben heissen, weil sie Schranken hat: so würde aller Creaturen und selbst der ersten Menschen Kräfte verdorben zu nennen seyn, weil außer Gott nichts Unendliches seyn kann; und so wäre, nach dieser Mißdeutung, an der ganzen Natur vom Anfange nichts Gutes, sondern alles verdorben gewesen. Moses hat aber eine bessere Meynung davon gehabt, nämlich, daß alles, was Gott gemacht hat, gut sey; genug, daß die Beschaffenheit der Dinge ein richtiges Verhältniß zu jedes wesentlichen Bestimmung hat. Wer wird doch den Magen und die Verdauungskraft deswegen verdorben heissen, weil wir keine [285] Knochen und Kieselsteine verdauen können? wer nennt unsre Augen und Gesicht, oder unsre Ohren und Gehör, darum verdorben, weil wir keine Mücke an der Spitze des Thurms sehen, noch was in Rom gesprochen wird, hören können? Eine jede Kraft ist von Natur gesund und unverdorben, wenn sie nach ihren eingepflanzten Regeln dasjenige leisten kann, was sie eigentlich wirken soll; und die Vernunft, welche des Menschen Wesen von andern Thierarten unterscheidet, hat selbst bey den ersten Menschen keine mehrere Stärke gehabt, als sie jetzt bey den Nachkommen hat, wie wir kurz vorher gesehen haben. Daher scheint sie mit eben den wesentlichen Schranken und Maaß der Kraft, welche ihr jetzt zukommen, vom Anfange und unmittelbar aus der Hand des Schöpfers gekommen zu seyn; und wir thäten eben so unrecht, wenn wir derselben, mit der Fortpflanzung, einen Abgang und eine Schwäche beymessen wollten, als wenn einige sich träumen lassen, daß die ganze Natur, mit so vielen Jahrhunderten, alt und unvermögend geworden sey. Was hat denn doch die einzige Vernunft bey den Herren Theologis verschuldet, daß sie bey Adams Nachkommen von Natur verdorben seyn soll?

§. 8. Man kann ja wohl eine Kraft nicht besser beurtheilen, als nach den Regeln, wodurch sie von Natur bestimmt ist. Sind denn etwa die Regeln, welche die Vernunft wesentlich bestimmen, falsch und unrichtig? Ich meyne, man werde die Grundregeln der Vernunft völlig mit den beyden Sätzen ausdrücken können: Ein jedes Ding ist das, was es ist: ein Ding kann nicht [286] zugleich seyn und nicht seyn. Nach dem erstern muß man von einem Dinge gedenken, was mit demselben übereinstimmt; nach dem letztern kann man von einem Dinge nicht gedenken, was ihm widerspricht: Diese Regeln gelten nicht allein in der Weltweisheit und Mathematik, sondern in allen und jeden Wahrheiten, selbst in der Schrift und Theologie. Die Schrift sagt z. E. Gott ist wahrhaftig: es ist unmöglich, daß Gott lüge, und unmöglich, daß ihn etwas gereue. Warum? weil jenes mit dem Begriffe von Gott und dessen wesentlicher Vollkommenheit übereinstimmt, dieses ihm widerspricht. So bedienen sich die Propheten der Regel des Widerspruchs, wenn sie den Juden die Ungereimtheit ihres heydnischen Götzendienstes vorstellen wollen; da sie einen Schöpfer verehrten, den sie selbst mit ihren Händen gemacht hatten, ein todtes Holz und Stein statt des lebendigen Gottes. Götzen, die Augen hatten und doch nicht sahen, Ohren hatten und doch nicht hörten. Die Schrift legt demnach die Vernunft und ihre Regeln, in dem was des Geistes Gottes ist, zum Grunde der Wahrheit. So muß sie denn wol nicht von Natur verdorben, sondern vielmehr selbst in der Erkenntniß Gottes brauchbar, und eine gewisse Richtschnur seyn, wahres vom falschen zu unterscheiden. Die Herren Theologi bringen auch den rechten Verstand der Schriftörter, und das daraus aufgerichtete Lehrgebäude, durch lauter Vernunftschlüsse, heraus: und wenn sie einander des Irrthums beschuldigen, so muß ihnen die Vernunft die Waffen dazu leihen. Der Lutheraner will den unbedingten Rathschluß Gottes [287] über der Menschen Seligkeit und Verdammniß nicht gelten lassen, weil er den Vollkommenheiten Gottes widerspricht. Der Reformirte hergegen streitet wider die Allgegenwart der menschlichen Natur Christi, weil sie den Begriff eines leiblichen und eingeschränkten Wesens aufhebt. Beyde aber setzen sich wider die päbstische Transsubstantiation, als eine Lehre, die den Sinnen und fühlbaren Eigenschaften des Brodts und Weins widerspricht, als ob Brodt nicht mehr Brodt, Wein nicht mehr Wein wäre. Dann ruft man von allen Seiten, des Gegners Lehre sey der gesunden Vernunft zuwider. Nun, so ist ja denn die Vernunft nach dem Geständnisse aller Theologen, annoch von Natur gesund, und sie wird von ihnen selbst als eine solche in der Erkenntniß göttlicher Dinge gebraucht. Ist sie denn nur so lange gesund, als sie eines jeden System beyzutreten scheinet? Warum soll sie denn blind und verdorben heissen, wenn sie das ganze System überhaupt nach eben denselben Regeln zu untersuchen anfängt? Wozu dient, die Beschuldigung anders, als dem gemeinen Manne, d. i. allen die keine Lehrer der Christenheit sind, ihren Gebrauch zu nehmen, und einen blinden Glauben sowol in jeder Secte, als in dem ganzen Christenthume einzuführen? Es ist eben derselbe hierarchische Kunstgriff, als da die Pfaffen bey den Catholiken den Layen die Lesung der Bibel verbieten, die sie für sich allein behalten, und nach ihrem Gefallen deuten wollen. –

 

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1) 1. Cor. II, 14. 

2) Das Wort ψυχικός ist bey guten Griechischen Schreibern nicht gar gebräuchlich, sondern scheint nach aller Vermuthung aus der Hebräischen Bedeutung des Wortes Nephesch, anima, gemacht zu seyn, so fern es zum öftern für sinnliche Neigungen, Begierden und Affecten genommen wird. Es ist also der Wahrheit näher, wenn es einige übersetzen: der thierische Mensch, animalis homo. 

3) Jacobi III. 13. 14. 15. 

4) Judae, vv. 18. 19. 

5) 1. Cor. I, 11. 12. coll. III. 3 sq. 

6) 2 Cor. X. 4. 5. 

7) 2 Cor. XII. 12. 13. 

8) 2 Cor. XII. 16. 

9) 2 Cor.XI. 7. sqq. XII. 17. 18.