BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Hermann Samuel Reimarus

1694 - 1768

 

Ein Mehreres

aus den Papieren des Ungenannten,

die Offenbarung betreffend

 

1777

 

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[499]

I.

 

Das erste Fragment bestreitet eine Sache, die nichts weniger, als das Christenthum annehmlich zu machen, vermögend ist. Wenn es also Theologen gegeben, die darauf gedrungen, so müssen sie wol von der Nothwendigkeit derselben sich sehr lebendig überzeugt gefühlt haben. Würden sie sonst unter das Thor, in welches sie einzugehen, ermunterten, Fußangel vor aller Augen haben streuen wollen?

Und allerdings hat es dergleichen Theologen gegeben: allein wo giebt es deren denn noch? Hat man den Mantel nicht längst auf die andere Schulter genommen? Die Kanzeln, anstatt von der Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens zu ertönen, ertönen nun von nichts, als von dem innigen Bande zwischen Vernunft und Glauben. Glaube ist durch Wunder und Zeichen bekräftigte Vernunft, und Vernunft raisonnirender Glaube geworden. Die ganze geoffenbarte Religion ist nichts, als eine erneuerte Sanction der Religion der Vernunft. Geheimnisse giebt es entweder darinn gar nicht; oder wenn es welche giebt, so ist es doch gleichviel, ob der Christ diesen oder jenen oder gar keinen Begriff damit verbindet.

Wie leicht waren jene Theologaster zu widerlegen, die außer einigen mißverstandenen Schriftstellen nichts ans ihrer Seite hatten, und durch Verdammung der Vernunft die beleidigte Vernunft im Harnisch erhielten! Sie brachten alles gegen sich auf, was Vernunft haben wollte, und hatte. [500]

Wie kitzlich hingegen ist es, mit diesen anzubinden, welche die Vernunft erheben und einschläfern, indem sie die Widersacher der Offenbarung als Widersacher des gesunden Menschenverstandes verschreyen! Sie bestechen alles, was Vernunft haben will, und nicht hat.

Gleichwol muß ohnstreitig die Wahrheit auch hier liegen, wo sie immer liegt; zwischen beiden Extremen. Ob eine Offenbarung seyn kann, und seyn muß, und welche von so vielen, die darauf Anspruch machen, es wahrscheinlich sey, kann nur die Vernunft entscheiden. Aber wenn eine seyn kann, und eine seyn muß, und die rechte einmal ausfündig gemacht worden: so muß es der Vernunft eher noch ein Beweis mehr für die Wahrheit derselben, als ein Einwurf darwider seyn, wenn sie Dinge darinn findet, die ihren Begriff übersteigen. Wer dergleichen aus seiner Religion auspoliret, hätte eben so gut gar keine. Denn was ist eine Offenbarung, die nichts offenbaret? Ist es genug, wenn man nur den Namen beybehält, ob man schon die Sache verwirft? Und sind das allein die Ungläubigen, welche den Namen mit der Sache aufgeben?

Eine gewisse Gefangennehmung unter den Gehorsam des Glaubens beruht also gar nicht auf dieser oder jenen Schriftstelle: sondern auf dem wesentlichen Begriffe einer Offenbarung. Unser Verfasser mag immerhin jene Schriftstellen besser verstanden haben; und ich wüßte mehr als einen würdigen Ausleger, der eben nicht mehr darinn gefunden. Er mag immerhin sehr Recht gegen die armseligen Homileten haben, welche zu dem kläglichen [501] Sündenfalle der ersten Aeltern ihre Zuflucht nehmen, eine Sache zu beweisen, die dieses Beweises gar nicht bedarf. Die Mosaische Geschichte davon, erkennet er selbst für unschuldig an solchem Mißbrauche. Aber wie es nicht wahr ist, daß daraus ein nachheriges Verderben der menschlichen Vernunft zu folgern: so scheinet mir doch auch Er nicht völlig eingesehen zu haben, was darinn liegt. Wenn er nehmlich sagt: daß, nach Anleitung derselben, die Prediger, als wahre Seelsorger, vielmehr schuldig wären, ihren Zuhörern die gesunde Vernunft und den Gebrauch derselben als eine untrügliche Richtschnur der göttlichen Erkenntniß und eines frommen Wandels zu empfehlen; indem unsere ersten Aeltern eben darum gefallen wären, weil sie ihrer Vernunft sich nicht bedienet hätten: so erschöpft er die Sache nur zur Hälfte. Denn über dieses wird auch noch die Ursache darinn angedeutet, wie und warum ihre Vernunft unwirksam geblieben. Mit einem Worte; die Macht unsrer sinnlichen Begierden, unsrer dunkeln Vorstellungen über alle noch so deutliche Erkenntniß ist es, welche zur kräftigsten Anschauung darinn gebracht wird. Von dieser Macht berichtet die Mosaische Erzählung entweder die erste traurige Erfahrung, oder ertheilet das schicklichste Beyspiel. Factum oder Allegorie: in dieser Macht allein liegt die Quelle aller unserer Vergehungen, die dem Adam, des göttlichen Ebenbildes unbeschadet, eben sowohl anerschaffen war, als sie uns angebohren wird. Wir haben in Adam alle gesündiget, weil wir alle sündigen müssen: und Ebenbild Gottes noch genug, daß wir doch nicht eben nichts anders thun, als sündigen; daß wir es in [502] uns haben, jene Macht zu schwächen, und wir uns ihrer eben sowohl zu guten als zu bösen Handlungen bedienen können. Dieser lehrreichen Auslegung wenigstens ist das so oft verhöhnte Märchen Mosis sehr fähig, wenn wir die Accommodationen, welche ein späteres System davon machte, nur nicht mit hinein tragen, und Accommodationen Accommodationen seyn lassen.

Wie gesagt: eine gewisse Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens beruhet blos auf dem wesentlichen Begriffe einer Offenbarung. Oder vielmehr, – denn das Wort Gefangennehmung scheinet Gewaltsamkeit auf der einen, und Widerstreben auf der andern Seite anzuzeigen, – die Vernunft giebt sich gefangen, ihre Ergebung ist nichts, als das Bekenntniß ihrer Grenzen, sobald sie von der Wirklichkeit der Offenbarung versichert ist. Dieß also, dieß ist der Posten, in welchem man sich schlechterdings behaupten muß; und es verräth entweder armselige Eitelkeit, wenn man sich durch hämische Spötter herauslachen läßt, oder Verzweiflung an den Beweisen für die Wirklichkeit einer Offenbarung, wenn man sich in der Meinung hinausziehet, daß man es alsdann mit diesen Beweisen nicht mehr so streng nehmen werde. Was man damit retten will, geht um so viel unwiederbringlicher verloren; und es ist bloßer Fallstrick, den die Widersacher der christlichen Religion, durch Uebertreibung des Unbegreiflichen in derselben, denjenigen von ihren Vertheidigern legen, die ihrer Sache so ganz gewiß nicht sind, und vor allen Dingen die Ehre ihres Scharfsinns in Sicherheit bringen zu müssen glauben. [503]

Ein anderer Fallstrick, den man selbst Theologen von der bessern Art legt, ist der, daß man sich mit den bisherigen katechetischen Lehrbüchern so unzufrieden bezeigt, und es ihrer fehlerhaften Einrichtung zuschreibt, daß die Religion nicht mehr Eingang finde. Nun will ich zwar gar nicht leugnen, daß an diesen Büchern nicht manches zu verbessern seyn sollte: aber man sehe doch wohl zu, ehe man mit gutherziger Uebereilung eben das daran verbessert, was gewisse Leute so gern verbessert haben möchten, zu welchen selbst unser Verfasser gehöret, wenn er ihnen „den Mangel an einer vernünftigen Religion und an einem vernünftigen Uebergange von derselben zur Offenbarung“ vorwirft.

Ich denke: dieser Mangel ist Theils kein Mangel, und Theils würde es äußerst gefährlich seyn, ihm abzuhelfen; ihm wirklich abzuhelfen. Denn davon kann doch nur die Rede seyn; weil blos so obenhin daran künsteln, die lieben Bücherchen ja erst recht schal und kahl machen würde.

Die geoffenbarte Religion setzt im geringsten nicht eine vernünftige Religion voraus: sondern schließt sie in sich. Wann sie dieselbe voraussetzte, das ist, wann sie ohne dieselbe unverständlich wäre: so wäre der gerügte Mangel der Lehrbücher ein wahrer Mangel. Da sie aber dieselbe in sich schließt; da sie alle Wahrheiten enthält, welche jene lehret, und sie blos mit einer andern Art von Beweisen unterstützt: so ist es noch sehr die Frage, ob die Einförmigkeit der Beweisart, in Lehrbüchern für Kinder und gemeine Leute, nicht bequemer und nützlicher ist, [504] als eine genaue Absonderung der vernünftigen und geoffenbarten Lehrsätze, einen jeden aus der ihm eigenthümlichen Quelle erwiesen.

Wenigstens ist es gewiß, daß der Uebergang von bloßen Vernunftswahrheiten zu geoffenbarten, äußerst mißlich ist, wenn man sich durch die eben so scharfen als faßlichen Beweise der. erstern verwöhnt hat. Man erwartet und fodert sodann bey den Beweisen der andern ebendieselbe Schärfe und Faßlichkeit, und hält, was nicht eben so erwiesen ist, für gar nicht erwiesen. Ich erinnere mich hierbey, was mir in meiner Jugend begegnete. Ich wollte Mathematik studiren, und man gab mir des ältern Sturms Tabellen in die Hände, in welchen noch die Chiromantie mit unter den mathematischen Wissenschaften abgehandelt ist. Als ich auf diese kam, wußte ich gar nicht, wie mir geschahe. Mein kleiner Verstand kam auf einmal aus aller seiner Wirksamkeit; und obschon eine Kunst, die mich mit meinem künftigen Schicksale bekannt zu machen versprach, keinen geringen Reiz für mich hatte: so war mir doch, als ob ich schales Zuckerwasser auf lieblichen Wein tränke, wenn ich aus der Geometrie in sie herüber blickte. Ich wußte nicht, was ich von dem Manne denken sollte, der so disparate Dinge in Ein Buch vereiniget hatte: ich gab ihm seinen Abschied, und suchte einen andern Lehrer. Hätte ich aber glauben müssen, daß dieser Mann unfehlbar gewesen: so würden die erbetenen Grundsätze der Chiromantie, deren Willkührlichkeit mir so auffallend war, mich mit Furcht und Mißtrauen gegen die mathematischen Wahrheiten erfüllt [505] haben, die meinem Verstande so sehr behagten, ob ich sie gleich zum Theil nur noch blos mit dem Gedächtnisse gefaßt hatte. Unmöglich hätte ich beide, Geometrie und Chiromantie, für gleich gewiß halten können: aber möglich wäre es gewesen, daß ich mich gewöhnt hätte, Chiromantie und Geometrie als gleich ungewiß zu denken.

Ich halte es kaum der Mühe werth, mich vor dem Verdachte zu bewahren, als wolle ich hiermit zu verstehen geben, daß die Beweise für die Offenbarung und die Beweise für die Chiromantie von einerley Gewichte wären. Sie sind freylich nicht von einerley Gewichte; ihre specifiquen Gewichte haben schlechterdings kein Verhältniß gegen einander: aber beider Beweise sind doch aus der nehmlichen Klasse; sie gründen sich beide auf Zeugnisse und Erfahrungssätze. Und das Abstechende der stärksten Beweise dieser Art gegen Beweise, die aus der Natur der Dinge fliessen, ist so auffallend, daß alle Kunst, dieses Auffallende zu vermindern, dieses Abstechende durch allerley Schattirungen sanfter zu machen, vergebens ist.