BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Hermann Samuel Reimarus

1694 - 1768

 

Ein Mehreres

aus den Papieren des Ungenannten,

die Offenbarung betreffend

 

1777

 

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V.

 

Ueber die Widersprüche in der Auferstehungsgeschichte, welche das fünfte Fragment uns so nahe legt, dächte ich nun so. [540]

§.  Die Zeugen der Auferstehung Christi sind nicht die nehmlichen Personen, die uns die Nachricht von der Aussage dieser Zeugen überliefert haben. Denn wenn schon in einem und dem andern beide Charaktere zusammen kommen, so ist doch unwidersprechlich, daß kein einziger Evangelist bey allen und jeden Erscheinungen Christi gegenwärtig gewesen.

§.  Folglich sind zweyerley Widersprüche hier möglich. Widersprüche unter dm Zeugen, und Widersprüche unter den Geschichtschreibern der Aussage dieser Zeugen.

§.  Sind Widersprüche unter den Zeugen vorhanden? – Dergleichen könnten nur seyn, wenn ein Evangelist über den einzeln Fall, bey welchem er selbst Augenzeuge gewesen, sich selbst widerspräche: oder wenigstens, wenn mehrere Evangelisten über den nehmlichen einzeln Fall, bey welchem jeder gegenwärtig gewesen, sich unter einander widersprächen. Dergleichen Widersprüche sind mir unbekannt.

§.  Sind Widersprüche unter den Zeugen vorhanden gewesen? – Anscheinende: warum nicht? Denn die Erfahrung giebt es, und es kann schlechterdings nicht anders seyn, als daß von mehrern Zeugen nicht jeder die nehmliche Sache, an dem nehmlichen Orte, zu der nehmlichen Zeit, anders sehen, anders hören, folglich anders erzählen sollte. Denn eines jeden Aufmerksamkeit ist anders gestimmt. Ich halte es sogar für unmöglich, daß der nehmliche Zeuge von dem nehmlichen Vorfalle, den er mit aller vorsetzlichen Aufmerksamkeit beobachtete, zu verschiedenen Zeiten die nehmliche Aussage machen könne. Denn die Erinnerung des Menschen von der [541] nehmlichen Sache ist zu verschiedenen Zeiten verschieden. Er müßte denn seine Aussage auswendig gelernt haben: aber alsdann sagt er nicht, wie er sich der Sache itzt erinnerlich ist, sondern wie er sich derselben zu der Zeit, als er seine Aussage auswendig lernte, erinnerlich war.

§.  Sind wahre Widersprüche unter den Zeugen vorhanden gewesen? solche, die bey keiner billigen Vergleichung, bey keiner nähern Erklärung verschwinden? – Woher sollen wir das wissen? Wir wissen ja nicht einmal, ob jemals die Zeugen gehörig vernommen worden? Wenigstens ist das Protokoll über dieses Verhör nicht mehr vorhanden; und wer Ja sagt, hat in diesem Betracht eben so viel Grund für sich, als wer Nein sagt.

§.  Nur daß, wer Nein sagt, eine sehr gesetzliche Vermuthung für sich anführen kann, die jener nicht kann. Diese nehmlich. Der grosse Proceß, welcher von der glaubwürdigen Aussage dieser Zeugen abhing, ist gewonnen. Das Christenthum hat über die Heydnische und Jüdische Religion gesiegt. Es ist da.

§.  Und wir sollten geschehen lassen, daß man uns diesen gewonnenen Proceß nach den unvollständigen, unconcertirten Nachrichten von jenen, wie aus dem Erfolge zu schliessen, glaubwürdigen und einstimmigen Zeugnissen, nochmals nach zwey tausend Jahren revidiren wolle? Nimmermehr.

§.  Vielmehr: so viel Widersprüche in den Erzählungen der Evangelisten, als man will! – Es sind nicht die Widersprüche der Zeugen, sondern der Geschichtschreiber; nicht der Aussagen, sondern der Nachrichten von diesen Aussagen. [542]

§.  Aber der heilige Geist ist bey diesen Nachrichten wirksam gewesen. – Ganz recht; nehmlich dadurch, daß er jeden zu schreiben getrieben, wie ihm die Sache nach seinem besten Wissen und Gewissen bekannt gewesen.

§.  Wenn sie nun dem einen so, dem andern anders bekannt war, bekannt seyn mußte? – Sollte der heilige Geist in dem Augenblicke, da sie die Feder ergriffen, lieber ihre verschiednen Vorstellungen einförmig, und eben durch diese Einförmigkeit verdächtig machen, oder sollte er zugeben, daß die Verschiedenheit beybehalten wurde, auf die itzt gar nichts mehr ankömmt?

§.  Sagt man, Verschiedenheiten sind keine Widersprüche? – Was sie nicht sind, das werden sie in dem zweyten und dritten Munde. Was Verschiedenheit bey den Augenzeugen war, wird Widerspruch bey denen, welche die Sache nur von Hörensagen haben.

§.  Nur ein fortdauerndes Wunder hätte es verhindern können, daß in den 30 bis 40 Jahren, ehe Evangelisten schrieben, solche Ausartungen der mündlichen Erzählung von der Auferstehung sich nicht eräugnet hätten. Aber was für Recht haben wir, dieses Wunder anzunehmen? Und was dringt uns, es anzunehmen?

§.  Wer sich irgend einen solchen Drang muthwillig schafft, der hab es. Aber er wisse auch, was ihm sodann obliegt: alle die Widersprüche zu heben, die sich in den verschiedenen Erzählungen der Evangelisten finden; und sie auf eine leichtere, natürlichere Art zu heben, als es in den gewöhnlichen Harmonieen geschehen ist. [543]

§.  Daß er dabey sich ja nicht auf dieses und jenes Werk zu sehr verlasse, dessen vielversprechender Titel ihm etwa nur bekannt ist. Ditton hat freylich die Wahrheit der christlichen Religion aus der Auferstehung demonstrativisch erwiesen. Aber er hat die Widersprüche der Evangelisten ganz übergangen; entweder weil er glaubte, daß diese Widersprüche schon längst auf die unwidersprechlichste Weise gehoben wären, – woran ich zweifle; oder weil er dafür hielt, daß seine Demonstration, ohngeachtet aller dieser Widersprüche, in ihrer ganzen Stärke bestehen könne, – wie auch mich dünkt.

§.  Eben so ist Th. Sherlok in seiner gerichtlichen Prüfung der Zeugen der Auferstehung verfahren. Er erhärtet, daß die eigentlichen Zeugen allen Glauben verdienen; aber auf die Widersprüche in den Erzählungen der Evangelisten läßt er sich nicht ein.

§.  Der einzige Gilbert West hat diese Widersprüche zum Theil mit in seinen Plan ziehen zu müssen geglaubt. Wen indeß seine ewige Vervielfältigung der nehmlichen Personen und Erscheinungen beruhigen kann, der muß so schwer eben nicht zu beruhigen seyn.

§.  Folglich findet der Mann, der die Untrüglichkeit der Evangelisten in jedem Worte behauptet, auch hier noch unbearbeitetes Feld genug. Er versuche es nun, und beantworte die gerügten zehn Widersprüche unsers Fragments, Aber er beantworte sie alle. Denn diesem und jenen nur etwas wahrscheinliches entgegen setzen, und die übrigen mit triumphirender Verachtung übergehen, heißt keinen beantworten.