BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Christian Friedrich Daniel Schubart

1739 – 1791

 

Ideen zu einer Ästhetik

der Tonkunst

 

Die Grundsätze der Tonkunst

 

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Vom musikalischen Genie

 

Kein Sprichwort ist so wahr und der Natur der Sache so angemessen als dies graue:  D i c h t e r  u n d  M u s i k e r  w e r d e n  g e b o r e n.  So gewiß es ist, daß jeder Mensch einen musikalischen Keim mit auf die Welt bringt, so gewiß ist es auch, daß die Werkzeuge des Ohrs, der Kehle, auch eine ungünstige Struktur der Hände, manche auch die Erziehung verhindern, diesen musikalischen Keim zu entwickeln. Das musikalische Genie hat das  H e r z  zur Basis und empfängt seine Ein-drücke durchs Ohr. «Er hat kein Ohr, kein Gehör!» heißt also in der musikalischen Sprache soviel als: er ist kein musikalischer Kopf. Die Erfahrung lehrt, daß Menschen ohne Taktgefühl auf die Welt kommen und daß sie taub und unempfänglich für die Schönheiten der Tonkunst sind. Hingegen kündiget sich der künftige Virtuos schon in seiner Jugend an. Sein  H e r z  ist sein Hauptakkord, und mit so zarten Saiten bespannt, daß sie von jeder harmonischen Berührung zusammen-klingen. Alle großen musikalischen Genies sind mithin Selbstgelehrte (AYTODIDAKTOI), denn das Feuer, das sie beseelt, reißt sie unauf-haltsam hin, eine eigene Flugbahn zu suchen. Die  B a c h e,  ein  G a l u p p i  J o m m e l l i,  G l u c k  und  M o z a r t  zeichneten sich schon in der Kindheit durch die herrlichsten Produkte ihres Geistes aus Der musikalische Wohlklang lag in ihrer Seele, und den Krückstab der Kunst warfen sie bald hinweg. Die Charakterzüge des musikalischen Genies sind also unstreitig folgende:

1.  B e g e i s t e r u n g  oder enthusiastisches Gefühl des musikali-schen Schönen und Großen;

2. Äußerst zartes  H e r z g e f ü h l,  das mit allem sympathisiert, was die Musik Edles und Schönes hervorbringt. Das  H e r z  ist gleich-sam der Resonanzboden des großen Tonkünstlers, taugt dieses nicht, so wird es ewig nichts Großes schaffen können.

3. Ein höchst feines  O h r,  das jeden Wohllaut verschlingt und jeden Mißton mit Widerwillen anhört. Wenn ein Kind ohne alle Anweisung einen Akkord auf dem Flügel herausbringt, wenn ein Mädchen oder Knabe den Second zu einem Volksliede treffen kann, wenn sich bei Dissonanzen des jungen Hörers Stirne kraust und bei Konsonanzen glättet, wenn die junge Kehle schon in der Jugend eigene Melodien trillert: dann ist das musikalische Genie vorhanden.

4. Natürliches  G e f ü h l  f ü r  d e n  R h y t h m u s  u n d  T a k t.  – Man gebe einem Kinde von sechs bis sieben Jahren einen Schlüssel in die Hand und singe oder spiele sodann ein Stück; trifft es den Takt von sich selbst, auch wenn ich gerade und ungerade Takte durch-einandermische, so ist sicher ein musikalischer Kopf da.

5. Unwiderstehliche  L i e b e  u n d  N e i g u n g  z u r  T o n -k u n s t,  die uns so allgewaltig fortreißt, daß wir Musik allen übrigen Freuden des Lebens vorziehen, ist ein sehr starkes Criterion von der Gegenwart des musikalischen Geistes. Und doch ist diese Kenntnis mitunter täuschend, denn es gibt Leute, die alle Tage fiedeln, klimpern und leyern und sich doch kaum über das Mittelmäßige erheben.

Mit einem Wort, der  h i m m l i s c h e  G e n i u s s t r a h l  ist so göttlicher Natur, daß er sich unmöglich verbergen läßt. Er drückt, treibt, stößt und brennt so lange, bis er als Flamme ausschlägt und sich in seiner olympischen Herrlichkeit verklärt. Der mechanische Musiker schläfert ein, das  m u s i k a l i s c h e  G e n i e  aber weckt und hebt himmelan. Es hat Raum genug, auf seinen Cherubsschwingen auch den Hörer emporzutragen.

Indessen wird doch das musikalische Genie ohne Kultur und Übung immer sehr unvollkommen bleiben. Die Kunst muß vollenden und ausfüllen, was die Natur roh niederwarf. Denn gäbe es Menschen, die in irgendeiner Kunst vollkommen geboren würden, so dürften leicht Fleiß und Anstrengung in der Welt ersterben.

Die Geschichte der großen Künstler beweist es, wieviel Schweiß bei ihren Übungen troff, wieviel Öl ihre nächtliche Lampe verzehrte, wieviel unvollkommene Versuche sie im Kamin aufdampfen ließen, wie tief in der Einsamkeit verborgen sie Finger, Ohr und Herz übten, bis sie endlich auftraten und der Welt durch Meisterwerke ein zujauchzendes Bravo abnötigten.

Die größte Stärke des musikalischen Genies zeigt sich im Tonsatz und in der weisen Anführung eines großen Orchesters; Ein wahrer Kapellmeister und Musikdirektor muß alle musikalischen Stile kennen und wenigstens in einem derselben sich als Meister zu zeigen wissen. Er muß den Kontrapunkt im engsten Verstande studiert haben, muß reich an großen und interessanten melodischen Gängen sein, muß das Herz der Menschen tief studiert haben, um auf den Cordialnerven ebenso sicher spielen zu können wie auf seinem Lieblingsinstrumente. Er muß endlich Akustiker sein und hundert und mehrere Köpfe mit Hauch und Strich so in eins zu lenken wissen, daß dadurch ein großes, allwirkendes Ganzes gebildet wird. Wenn man auch nur nach Mattheson oder Junker den vollkommenen Kapellmeister studiert, so muß man über den weiten Umfang seiner theoretischen und praktischen Erfordernisse staunen.

Wehe dir, Zögling der Tonkunst, wenn du schon vom Kapellmeister schwindelst, ehe du noch die Eigenschaften des guten Ripienisten hast, oder wie Händel zu sagen pflegte: Wenn du Admiral sein willst, ohne Matrosenkenntnisse zu besitzen. Die halb ausgebildeten Musiker, die reisenden Kraftmänner, die heutzutage wie Heuschreckenschwärme die musikalische Welt verfinstern, mögen dich abschrecken, daß du dich in dein Kämmerlein verschließest, dich in Melodie, Modulation und Harmonik übest – und dann in der Glorie des kultivierten Genies unter deine Zeitgenossen treten könnest.