BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Christian Friedrich Daniel Schubart

1739 - 1791

 

Simon von Aalen.

Eine Familiengeschichte

 

ca. 1775

 

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Simon von Aalen.

Eine Familiengeschichte.

 

In der Reichstadt Aalen, wo zwischen Bergen, Eichenwäldern und dem fischewimmelnden Kocher dreitausend gesunde, knochenfeste, rauhschallende, biedere, altdeutsche Menschen wohnen, die dem Nordsturm im Rohrwang*) lieber horchen, als dem Lispel des Wests in Buxhecken, wohnte ein Bürger Namens Simon. Er genoß einer etwas mildern Erziehung, als die meisten seiner Mitbürger, ging als Tuchmachersgesell auf die Wanderschaft und ließ zu Leipzig und Berlin die Ecken seines rohen Charakters etwas glätter feilen. So kam er in seine Stadt zurück mit geschliffener Kehle und einer Leselust, die damals in Aalen etwas unerhörtes war. Er verheirathete sich gut, arbeitete fleißig, stahl dem Wirthshause die Stunden für seine Leserei ab, war dabei kein Sonderling, sondern lebte freundlich und bürgerlich mit jedermann. Sein Weib gebar ihm zwei Buben und ein Mädel, die hieß er: Kasper, Balthes, Urschel; denn damals hatte die ganze Bürgerschaft in Aalen, noch von den heiligen Dreikönigen her, die Namen Kasper, Balthes, Melcher; und die meisten Mädels hießen Urschel, oder Bärbel, oder Ketter. –

Der stattliche Bürger Simon zeichnete sich bald so aus, daß er einstimmig zum Rathsherrn erwählt wurde. Auch hier handelte er weislich; half mit Rath und That, und war unbestechlich. Seine Söhne ließ er gut unterrichten, sie nächst dem Christenthum, Lesen und Schreiben, auch Latein und Musik lernen, so daß sie bald Ausstich dasiger Jugend waren. Nun hatte Simon ein eignes Haus, einen Kramladen, auch Gärten, Aecker und Wiesen, und überdieß den allgemeinen Ruf eines biedern, ehrenfesten Reichsburgers.

Aber plötzlich winkte das Schicksal einer Hagelwolke: grau und drohend hing sie über ihm – zerplatzte und, ach! jede Aehre seiner goldnen Glückseligkeit ward im Hagelsturme zerknickt. Ganz klein und unmerklich begann sein Unglück, und endete gräßlich. – Er wollte etwas bauen in seinem Hause, und da wurde Mörtel vor der Thüre angemacht. Ein Schustersjunge, der  P e c h m e l c h e r  genannt, zerstörte die Einfassung des zerflossenen Kalks im Muthwillen. Simon sah's und gab dem Jungen eine derbe Ohrfeige. Der Junge sann auf Rache. Abends lehnte sich Simon mit einer geselligen Pfeife an ein Fenster seines Unterzimmers. Risch flog ein Ziegelstück mit zersplitterten Scheiben ihm in den linken Schlaf, und blutig und sinnlos stürzt' er zur Erde. Nach wenigen Stunden starb er. – Der  e r s t e  Schlag! – Der Junge, dessen Rache nur das Fenstereinwerfen zum Ziel hatte, wurde auf 6 Jahre ins Zuchthaus nach Ludwigsburg geschickt.

Man untersuchte darauf die häusliche Lage des Mannes; fand ihn weit über sein Vermögen verschuldet; verkaufte all seine Habe, und seine Familie wurde dadurch aus dem behaglichsten Zustande in Mangel und tiefe Verachtung versenkt. – Der  z w e i t e  Schlag! –

Die Wittwe, ein Weib von hoher Liebe, reizender Bildung, miethete sich ein dunkles Stübchen, wo Kummer und Elend um ihre Kunkel schwebten und Thränen den Faden netzten, der unter ihren Fingern sich bildete. Ein Werbeoffizier, in ihre Reize vergafft, that ihr Anträge, und unter Mangel und Verzweiflung erlag ihre Tugend. Sie nährte sich einige Zeit vom Lastersolde, ward schwanger, wollt' ihre Schmach nicht überleben und hängte sich mit hochschwangerm Leibe an einem Wasch-seile auf dem Dachboden auf. Der alten Stadt strenges Recht ließ ihren Leib, in eine Kühhaut genäht, auf einer Schleife durch die Straßen füh-ren und auf dem Schindanger begraben. – Der d r i t -t e  W e t t e r s c h l a g ! ! -

K a s p e r  und  B a l t h e s  verließen mit einer Zitter und Geige eine Stadt, wo ihr Name durch das Schicksal so stinkend gemacht war; und  U r s c h e l  begab sich nach Stuttgart, wälzte sich da in Pfützen der niedrigsten Wollust, wurde angesteckt, kam nach Aalen zurück, und starb als eine Verpestete im Siechhause; und das war der  v i e r t e  S c h l a g ! -

Die Jungens durchzogen das Land, fiedelten und sangen Volkslieder vor den Häusern, nährten sich auch nach Umständen köstlich. So kamen sie ins Baierland, und wie sie da einst durch einen langen Eichenwald zogen, trafen sie im Dickicht eine wilde Horde an, gelagert um's Feuer, beim Fraß und Soffe bachantisch aufjauchzend. – «Wo 'naus, ihr Räker?» brüllte sie ein bärtiges Hannickelsgesicht an. Gebeugt kamen die Jungens und beichteten mit schwäbischer Offenherzigkeit alles, was sie wußten. Sie dudelten darauf den Gaunern – denn das waren sie – ein paar Gassenhauer vor und «Bleibt bei uns, sollt's gut haben!» grunzte ein Räuber im gräulichsten Basse. Sie blieben, wurden in eine unterirdische Kluft geführt, wo der Diebesraub aufgehäuft war und wo man allen Lastern frönte, und Recht und Scham und Gewissen mit Höllenfreude unter die Füße rollte. – Kasper und Balthes zitterten unter diesem Gesindel, wie Tauben in der Gesellschaft der Geier. Nach ihrer Musik tanzte die infernalische Schaar, und an Fraß und Soff gebrach's den Jungen nie. – «Kommt, sollt heute eingeweiht werden zu Galgen und Rad!» hieß es einst in einer schwarzen Nachtstunde. Schaudernd folgten die Buben, und die Räuberschaar hielt vor dem Schlosse eines Landedelmanns stille. Eine Leiter wurde angelegt. «Steig' hinauf, Kasper», sprach einer von der Schaar, «schlüpfe durch's Gitter, erbrich mit diesem Dietrich eine links stehende Eisenkiste, nimm das Geld heraus und biet' es mir: ich harre dein auf der Leiter vor dem Gitter.» Hinauf stieg der Bube, schlüpfte durch's Gitter und stand mit einer Blendlaterne in einem weiten Zimmer. – Einbrechen, Stehlen, Straßenraub, Mord – und am Ziel das fürchterliche  H o c h g e r i c h t – schwebten der Seele des Knaben in blitzgeschlungenen Gruppen vor, – «Geist meines Vaters, wo bist du? – Schutzengel, hast du mich verlassen?» – Nein, er hatte ihn nicht verlassen. Bei dem emporstrebenden Haaren ergriff er ihn, schleppt' ihn hinaus zum Zimmer und schrie aus ihm: «Auf, auf, wer hier schläft! Räuber, Mörder lauren auf euch!» – Der Herr des Schlosses, ein durch Krieg und Jagd abgehärteter Mann, fuhr aus dem Schlaf, griff nach seinem Stutzer, weckte seine Hausgenossen und schoß den am Gitter laurenden Räuber vor den Kopf, daß er rücklings die Leiter hinabstürzte. Die Räuber flohen, weil ihr Führer todt war, und gingen wieder, ach! mit dem nun ganz verlassenen Balthes in ihre Mordhöhle zurück. Im Schlosse war nun alles wach. Der gute Kasper sank zu den Füßen des Edelmanns und entdeckte den ganzen ruchlosen Entwurf. – «Du hast mich gerettet vom Untergang», sprach der Edle, «ich will dich versorgen.» Etwa einige Wochen blieb Kasper da und hielt sich brav. Aber noch immer war der Arm des Schicksals schwer ausgestreckt über ihm. Sein Wohlthäter stürzte auf einer Gewaltjagd und starb. Mit dem wenig Ersparten ging nun Kasper in die weite Welt, kam nach Holland, gerieth unter die Seelenverkäufer und wurde nach Batavia abgeführt.

Inzwischen gewöhnte sich Balthes allmählig an das wilde Räuberleben, stahl, mordete, machte sich weit und breit fürchterlich, und starb unter dem Namen des  A a l e m e r  M o r d j o d e l s  zu Bucheloe auf dem Rade, mit den Zeichen der unbeschreiblichsten Reue und Zerknirschung. – Der  f ü n f t e  M o r d s c h l a g ! –

Kasper kam indeß als Sclave (was sind die Europäer, die dahin verkauft werden, mehr als dieß) zu einer reichen holländischen Wittwe und schwang sich bald durch seine Person, Geschicklichkeit und Fleiß zu ihrem Günstling empor. Die Wittwe fand, wie mehrere daselbst, ihre Freude daran, den Rücken der Neger mit einer Hetzpeitsche aufzuhauen und mit großen Hunden auf die Jagd der armen schwarzen Sclaven auszugehen. Kaspers sanfter und weiser Rath aber machte sie menschlich: die Eisenrinde sprang von ihrem Herzen; sie horchte dem warnenden Engel, liebte ihn und bot ihm ihre Hand. –

Der arme Kasper war nun ein reicher Mann, hochgeehrt von seinen Nachbarn und geliebt von seinen Untergebenen: denn menschlich und fromm war er, dacht' oft an sein Schicksal, hob die köstlichen Früchte des Landes, Gott dankend, gen Himmel und seufzte: «Ich bin's nicht werth!» – Sein Weib ward auch gar fromm; sie starb aber bald, drückt' auf dem Todtenbette ihres Kaspers Hand: «Du hast mich zur Christin gemacht!» sprach sie mit ihrem letzten Schluchzen, «All mein Hab und Gut ist dein! Aber wie wenig lohnt dich das! – Zur Christin hast du mich gemacht, zur Christin! – Lohn' es dir Gott im Himmel, du Seelenmann!!» – Sie starb. Von ihrer Leiche blickte Kasper zum Himmel und dankte Gott weinend, daß er gewürdigt ward, eine Seele gerettet zu haben! –

Nach vielen verflossenen Jahren fühlt' er Drang in seiner Seele, nach seiner Heimath zu wallen und da über den Trümmern seines zerstörten Familienglücks ein Denkmal des Danks und der Anbetung zu errichten. Er nahm große Wechsel mit, überließ die Verwaltung seines Hauses einem redlichen Schwaben, der indeß in seine Dienste getreten war, begab sich mit einem getreuen Neger zu Schiff und kam gesund in Holland an. Unterwegs starb sein treuer Sclave. Kasper kaufte sich ein Pferd und setzte so seine Wanderschaft allein fort; sein Weg ging über die Alb. Rauh stürmte die Luft und ein tiefer Schnee lag; überall waren die Wege verschneit, und Kasper stürzte mit seinem Gaul in eine Gähwinde. Der Gaul arbeitete sich heraus und harrte auf einem Fußsteige seines Herrn. Dieser lag im Schnee erstarrt und brütete schon im sanften Todesschlummer hin. Nicht weit davon lag Bartholomä, ein Dorf Holzischer Herrschaft. Da blickte ein Schäfer ins weite Schneegefild hinaus und sah einen Gaul einsam stehen. «Hat vielleicht seinen Reiter abgeworfen,» sprach der Schäfer und eilte zur Rettung. Bald fand er den erstarrten Reiter, legte ihn sanft aufs Pferd und führt' ihn in seine Hütte, wo er ihn mit Schnee rieb, ihn langsam der aufthauenden Wärme näherte und sich herzlich freute, als der Fremde die Augen aufschlug. – «Du hast mein Leben gerettet, Schäfer,» sprach Kasper, als Lebensgeist ihn wieder durchflutete, «o sprich, wie lohn' ich dich?» – Mit nichts, mit gar nichts, Ihr Gnaden! O die Freude, die ich habe, daß Ihr wieder lebt, zahlt mir kein König.» Darauf setzten sich sich um den Tisch her, erquickten sich mit Speise und Trank, und nachdem sie beide ihre Pfeifen am Buchenspan angesteckt hatten, so begann folgendes Gespräch:

Kasper.

Seyd Ihr in Aalen bekannt?

Der Schäfer.

Gar wohl, Herr! ist ja nur zwei Stunden von hier, und ich pferche manchmal dort.

Kasper.

Lebt dort kein Simon mehr?

Der Schäfer (tief aufseufzend).

Ach, denen ist's hart ergangen!

Kasper.

Wie so?

Der Schäfer.

Den Vater hat ein Bube todt geworfen; die Mutter liegt auf'm Schindanger begraben; die Tochter ist an den salvavene Franzosen gestorben, ein Sohn liegt auf dem Rade, und –

Kasper.

Was? Balthes auf'm Rade? –

Der Schäfer.

Ja, Balthes hieß er. Strahl auch! wie wißt Ihr das? Und der Kasper – o ein herrlicher Bub! – (er weint) – soll in der neuen Welt ersoffen seyn!

Kasper.

Schäfer, kannst du schweigen?

Der Schäfer.

Wie mein Ofen.

Kasper.

Nun, so wisse: Ich bin – der Kasper, Simons Sohn!

Der Schäfer.

Jesus Christus, Gottes Sohn! (der Schäfer stürzte von der Schranne) – und ich hab' euren Vater ermordet, gehängt eure Mutter, eure Schwester vergiftet, euren Bruder aufs Rad gelegt – Alles, alles kommt von mir her; denn ich bin der Pechmelcher!

Ein Wetterstrahl, der dicht vor dem Wanderer niederstürzt und den führenden Boten tödtet, ist nicht so betäubend, wie diese Nachricht für Kasper Simon war. Lange saß er und dachte; endlich erhob er sich – in seiner vollen Manneswürde, von Gottesfurcht verklärt – schaute durchs Schindelfenster gen Himmel und sprach: «Hochgelobet sey Gott! denn wunderbar sind seine Wege: Er tödtet und macht wieder lebendig. Auch mich hat er gerettet – durch die Hand, die meinen Vater schlug. Hochgelobet sey Gott und angebetet seyen von mir seine heiligen Wege.» – Er wandte sich mit dem Schimmerblick der werdenden Thräne zum Schäfer: «Steh' auf und sprich: wie kamst du hieher?» – «Ich kam, wie ihr wißt, ins Zuchthaus. Nach der Strafzeit wollte mich kein Meister mehr annehmen; da dingte ich mich zu einem Schäfer und bin nun die liebe lange Zeit Schäferknecht. – Hab' tausend millionenmal den lieben Hergott unterm freien Himmel angerufen, und hab' mich, Gott weiß es, heulend gewälzt in meinem Pferch, daß Gott möchte die Blutschuld von mir nehmen!» – Thränenströme stürzten durch des Schäfers braune Faust. Aber Kasper erhob sich, legt' ihm die Hand aufs Haupt: «Ich nehme die Blutschuld von dir,» sprach er mit der Hoheit eines Christusjüngers, «und segne dich mit der Hand, der deine menschliche Sorgfalt wieder das Leben gab.» – «O Gott, o Gott!» schrie laut weinend der Schäfer, «der ganze Burgstell**) ist mir vom Herzen weggewälzt!» – «Aber nun sollst' auch im Zeitlichen belohnt werden!» sprach Kasper und ging ins Pfarrhaus, wo eben der Amtmann von Aldorf zugegen war. Da hinterlegt er eine Summe, von welcher dem Schäfer ein eigener Schäferhof erkauft wurde, worauf er lange siedelte, schlecht und recht vor Gott und den Menschen wandelte, und gar sanft im Herrn entschlief. Gott verleihe ihm eine fröhliche Urständ!

In Aalen gab sich Kasper vor dem gesammten Rath und der Geistlichkeit zu erkennen, die alle ob der wunderbaren Führung Gottes staunten, und ihm die Bitte gewährten, seiner Mutter Gebein auf den Gottesacker zu begraben. Darauf vermachte er herrliche Legate an Kirchen, Schulen, Spital und Siechhaus. Auch vergaß er seiner armen Verwandten nicht, und begabte sie reichlich. Bei einem köstlichen Gastmahl, das er dem Rathe, der Geistlichkeit und einigen angesehenen Bürgern gab, ließ er die Schuljugend kommen, und begleitet von Zinken und Posaunen das Lied anstimmen:

 

«Womit soll ich dich wohl loben?

Mächtiger Herr Zebaoth! etc.»

 

Er sang mit, und Thränen flossen über seine Wangen. Als er seine Vaterstadt verließ, so segnete er sie, und sprach: «Gottes Schild flamm' über dir! In dir werden Männer geboren stark und voll Kraft. Deutschheit, redlicher Sinn, schwäbische Herzlichkeit, redselige Laune, unschuldiger Scherz seyen immer, wie bisher, dein Eigenthum. Der Vorsicht Flügel schweb' über eurer Kirche, eurem Rathhause, euren Hütten, und – eurem Gottesacker!»

Simons Segen ruht immer noch auf der Stadt. Er begab sich wieder nach Batavia, starb nach einigen Jahren, tausend Spuren seines liebevollen, menschlichen, vom Geiste des Christenthums verklärten Charakters hinter sich lassend. Die Holländer nannten ihn den Schwabenapostel, und die bekehrten Neger den deutschen Engel.

Sein Sohn erbte sein Vermögen und – seine Tugenden.

 

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 *)

Einem Eichenwalde nahe bei der Stadt.

 **)

Der Burgstell, ein Berg bei Aalen, worauf Kaiser Barbarossa weiland hauste.