BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Berthold Auerbach

1812 - 1882

 

Schwarzwälder Dorfgeschichten

 

Erster Theil

 

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[50]

III.

 

Des Schloßbauers Vefele.

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1.

Wenige werden errathen, wie der obenstehende Name eigentlich im Kalender heißt, und doch ist er allgemein bekannt und erinnert das Schicksal deren, die ihn trug, leider nur zu sehr an das ihrer Patronin Genovefa.

Das vornehmste Haus des ganzen Dorfes, das eine so breite Fronte nach der Straße zu macht, daß alle Handwerksburschen, die durch das Dorf wandern, hineingehen und um einen Zehrpfennig bitten, das gehörte einst dem Vater des Vefele; die beiden rechts und links stehenden Häuser, das waren seine Scheunen. Der Vater ist todt, die Mutter ist todt, die Kinder sind todt; in dem großen Hause ist eine Leinweberei. Die Scheunen sind zu Häusern verbaut, und das Vefele ist spurlos verschwunden.

Nur das Eine steht noch fest, und wird es wohl immer bleiben, im ganzen Dorfe heißt das große Haus noch immer „des Schloßbauern Haus“; denn der alte Zahn, der Vater Vefeles, wurde der Schloßbauer genannt. Er war nicht aus dem Dorfe gebürtig, sondern aus dem zwei Stunden entfernten [51] Baisingen herübergezogen. Baisingen gehört zu dem kornreichen sogenannten „Strohgäu“, und die Baisinger werden spottweise „die Strohgänger“ genannt, weil im ganzen Dorfe fast alle Gassen mit Stroh bestreut sind; dies dient sowohl dazu, um der Mühe der Straßenreinigung überhoben zu sein, als auch, um auf diese Weise in dem zertretenen Stroh neuen Dünger zu gewinnen; denn die Baisinger haben so viele Aecker, daß sie dessen nicht genug habhaft werden können. Dreißig Jahre wohnte der Schloßbauer im Dorfe, aber so oft er einen Streit hatte, wurde er der baisinger Strohgänger und seine Frau die krumme Baisingerin geschimpft. Die Frau Zahn war aber keineswegs krumm, sie war noch in ihrem Alter eine schöne, schlanke Frau mit gerader Haltung; nur war ihr linker Fuß etwas zu kurz, und daher kam's, daß sie beim Gehen hinkte. Dieser Körperfehler war aber auch mit die Ursache ihres ungewöhnlichen Reichthums: ihr Vater, Staufer mit Namen, sagte einmal öffentlich im Wirthshause, daß der kurze Fuß seiner Tochter nichts schade, er stelle als Heirathsgut ein gestrichenes Simri Kronenthaler darunter und da wolle er sehen, ob das nicht grade mache.

Der alte Staufer hielt Wort, und als der Zahn dessen Tochter heirathete, ließ er ihn ein Simri mit Kronenthaler füllen und so viel hineinthun, als hineinging; drauf strich er mit dem Streichbengel drüber und sagte: „So, was drin ist, ist Dein!“ Seine Tochter mußte zum Spaß ihren linken Fuß darauf stellen, und das mit dem Gelde gefüllte Kornmaß prangte als schöne Schüssel auf dem Hochzeitstische.

Der Zahn kaufte sich bald darauf mit dem Gelde das gräflich schleitheimische Schloßgut, er baute das schöne große Haus, und darum hieß er der Schloßbauer; von neun Kindern, die [52] ihm geboren wurden, blieben fünf am Leben drei Söhne und zwei Töchter. Das jüngste Kind war Vefele, es war so schön und zart gebaut, daß man es, halb spöttisch halb anerkennend, das „Fräle“ hieß; halb aus Mitleid, halb aus Schadenfreude bemerkte fast Jeder, wenn von ihm die Rede war, es sei eben doch eine „Gezeichnete“, denn es hatte den kurzen Fuß von der Mutter geerbt. Mit dem Ausdruck „Gezeichnet“ verbindet sich ein schlimmer Nebenbegriff, man nennt die Rothen, Buckligen, Einäugigen, Hinkenden so, und will damit sagen, daß Gott sie damit gezeichnet habe, weil sie gewöhnlich gefährliche und ungutmüthige Menschen seien. Weil man nun solche Unglückliche spöttisch und argwöhnisch behandelt, werden sie meist schalkhaft, bitter und hinterlistig; das anfänglich ungerechte Vorurtheil ruft die Folgen hervor, die man dann als Bestätigung für das Vorurthe[i]l annimmt.

Das Vefele that zwar Niemand etwas zu Leide, ja es war gut und freundlich gegen alle Menschen; aber der Haß des ganzen Dorfes gegen den Schloßbauer wurde auch auf alle seine Kinder ausgedehnt.

Der Schloßbauer prozeßte schon seit achtzehn Jahren mit der ganzen Gemeinde, er machte auf die patronatsherrlichen Rechte Anspruch, er bezog den Rauchhafer, Hühnerhafer, Weghafer, und wie alle die grundherrlichen Abgaben heißen; auch hatte er fünfzig Stimmen bei der Schultheißenwahl. Nur mit dem tiefsten Aerger, mit Schelten und Schimpfen entrichteten die Bauern diese ihre gewohnten Abgaben. So sind die Menschen! Einem Grafen, Baron oder Freiherrn hätten sie ohne Widerrede Alles entrichtet; aber jetzt verfluchten sie jedes Körnchen, das sie an einen ihres Gleichen abgeben mußten. Sie wußten sich nicht anders [53] zu rächen, als daß sie dem Schloßbauer Nachts seine Kornfelder niedermähten, wenn das Korn noch grün war. Das gereichte ihnen aber doppelt zum Nachtheil, denn der Schloßbauer brachte es durch Klagen beim Syndikatsamte dahin, daß der zugefügte Schaden, da die Thäter nicht entdeckt wurden, auf den Gemeindeschaden gestellt und ihm aus der Gemeindekasse entschädigt wurde; auch hielt er sich fortan einen eigenen Flurschützen, den das Dorf zur Hälfte besolden mußte.

Die Reibereien zwischen den Dorfbauern und dem Schloßbauer dauerten aber noch immer fort.

Da ließ sich ein neuer Advokat in dem Städtchen Sulz nieder, und nun begann der Prozeß der Gemeinde mit dem Schloßbauer, bei dem so viel Papier verschrieben wurde, daß man einen ganzen Morgen Ackers damit zudecken konnte.

Das Dorf gehörte damals noch, wie ein großer Theil des Schwarzwaldes, zu Vorderösterreich, der Landvogt hatte seinen Sitz in Rottenburg, das Appellationsgericht in Freiburg im Breisgau; ein größerer Prozeß konnte aber noch weiter getrieben werden; bei der entfernten und verwickelten obern Gerichtsbarkeit war es daher ein Leichtes, den Prozeß bis zum jüngsten Gericht in gehöriger Verwirrung zu erhalten.

Der Streit zwischen dem Schloßbauer und seinen Ortsbewohnern gestaltete sich mit der Zeit zur Feindseligkeit zwischen den Baisingern und Nordstettern; die Baisinger foppten und neckten auf Märkten oder in der Stadt, wo sie mit den Nordstettern zusammen kamen, dieselben, sie nannten spottweise ihre Unterthanen und Grundholden, weil ein baisinger Bauer über sie herrschte. Die Nordstetter, unter dem Namen der Spitzmäuligen oder der Spöttler bekannt, blieben keine Antwort [54] schuldig; ein Wort gab das andere, man lachte, man scherzte, immer noch als „gut Freund“, aber die Anzüglichkeiten wurden immer derber, und ehe man sich's versah, war der Krieg auf irgend einer Seite ausgebrochen und es setzte die ergiebigsten Prügel. Das war zum ersten Male auf dem Ergenzinger Markt, als dies geschah, und nun konnten Nordstetter und Baisinger nie mehr beisammen sein, ohne sich zu prügeln. Stundenweit gingen namentlich die jungen Burschen beider Orte zu einem Tanze oder zu einer Hochzeit, tranken und tanzten zuerst ruhig mit einander, und am Ende brach das Hauptfest, eine tüchtige Prügelei, los.

Der Schloßbauer lebte aber mitten im Dorfe wie auf einer Einöde, kein Mensch bot ihm die Zeit, kein Mensch besuchte ihn; wenn er ins Wirthshaus kam, war Alles plötzlich still, es war ihm immer, als ob sie gerade von ihm gesprochen hätten; er legte seinen mit gutem Tabak gefüllten Beutel neben sich auf den Tisch, aber eher hätte einer seinen Mund auf einen Stein aufgeschlagen, ehe er den Schloßbauer um eine Pfeife Tabak gebeten hätte. Anfangs gab er sich Mühe, um die wie verabredete Feindseligkeit Aller durch Freundlichkeit und Güte zu zerstreuen, denn er war von Natur ein guter und nur etwas strenger Mann; als er aber sah, daß es nichts fruchtete, verachtete er Alle insgesammt, scherte sich wenig mehr um sie, und setzte nun erst recht seinen Kopf darauf, sein Recht zu behaupten; er schloß sich nun selber von Allen ab, nahm Taglöhner aus Ahldorf zu seinen Feldarbeiten, und gleichsam um auch nicht einmal Gott mit seinen Dorfgenossen zu dienen, ging er Sonntag Morgens jedesmal nach Horb in die Kirche. Er sah stattlich aus, wenn er so dahinschritt, er schien kleiner, als er war, denn [55] er war gedrungen und breitschulterig; er hatte seinen dreieckigen Hut etwas muthig nach der linken Seite zu gesetzt und den breiten Theil nach vorn gekehrt, durch den Schatten, der dadurch auf sein Antlitz fiel, ward dieses noch finsterer und ernster, als es eigentlich war; wenn er dann so fest einherschritt, klingelten die breiten, ganz nahe an einander gereihten silbernen Knöpfe an seinem blauen Rocke ohne Kragen und die runden, silbernen Knöpfe an seiner rothen Weste hell wie ein Glockenspiel aufeinander.

Die Mutter und ihre Kinder, namentlich aber ihre beiden Töchter Agathle und Vefele, litten am meisten bei dieser Trennung von der Gemeinde; sie saßen oft bei einander und klagten über ihr Loos und weinten, während der Vater in der Stadt mit seinem Advokaten beim Schoppen saß und erst spät heimkehrte. So weit war der Haß gegangen, daß selbst die Armen, aus Furcht vor den Anderen, keine Gabe aus des Schloßbauern Hause nehmen durften; in doppelter Heimlichkeit, sowohl vor dem Vater als vor den anderen Dorfbewohnern, übten die Mutter und ihre Töchter ihre fromme Wohlthätigkeit, gleich als ob es Diebstähle wären, trugen sie Kartoffel, Korn und Mehl in den Schloßgarten, wo die Armen ihrer warteten.

Die Mutter hielt Alles das nicht mehr aus, sie ging zu ihrem Vater und klagte ihm ihre Noth. Der alte Staufer war ein besonnener, ruhiger Mann und wollte sichern Weges gehen; er schickte daher zuerst seinen Hofjuden Marem nach Nordstetten, damit er ins Geheim auskundschafte, wer denn eigentlich die Rädelsführer bei dem Prozesse seien, und ob sich nicht ein Vergleich machen ließe. Der Marem war aber gescheidter als der alte Staufer, trotzdem dieser schon funfzehn Jahre Schultheiß war; er ließ durch einen Bekannten in Nordstetten das Gerücht [56] aussprengen, der Schloßbauer habe es dahin gebracht, daß eine kaiserliche Commission auf Unrechts Kosten nach Nordstetten kommen, die Sache untersuchen und dort bleiben werde, bis sie entschieden sei. Dann kam er selber und ging unmittelbar zu den Hauptleuten, sagte ihnen, daß er gegen eine bestimmte Vergütung einen Vergleich zu Stande bringen wolle, obgleich es sehr hart halten werde; er sicherte sich so auf beiden Seiten einen Vortheil.

Was helfen aber alle noch so feinen Finten bei Menschen, die bärenmäßig drein schlagen und alle Berechnungen und Kunststücke zu Schande machen?

Der alte Staufer kam, mit ihm Marem; sie gingen in Begleitung des Schloßbauern nach dem Wirthshause, wo sich die Wortführer versammelt hatten.

„Guten Tag, Herr Schultheiß“, sagten die Versammelten zu den Eintretenden, sie thaten, als ob sonst Niemand als der Gegrüßte eingetreten wäre; der alte Staufer fuhr zusammen, ließ aber doch alsbald zwei Flaschen Wein bringen, schenkte ein, und sein Glas ergreifend stieß er an die anderen Gläser an und trank den Versammelten zu. Da sagte der Schlosser Ludwig: „Wir nehmen's für genossen an, wir trinken aber nicht. Allen Respect vor Euch, Herr Schultheiß, aber bei uns ist der Brauch, daß man erst nach dem Handel den Weinkauf trinkt. Wie's die reichen Herrenbauern in Baisingen machen, das wissen wir nicht.“

Der Schultheiß setzte, ohne zu trinken, sein Glas wieder ab und seufzte tief; er begann darauf mit ziemlicher Ruhe die Verhandlung und setzte aus einander, daß man sein sauer erworbenes Gut nicht an „die Blutsauger, die Advokaten“, wegwerfen solle, [57] daß jeder Prozeß mit aus der Schüssel esse und das Fett oben 'runter schöpfe, und er schloß damit, daß ein Schritt hüben und ein Schritt drüben zum Frieden führe.

Es wurde nun von beiden Seiten eine weit aus einander liegende Vergleichssumme ausgeworfen, der Marem gab sich alle Mühe, sie einander näher zu bringen; er nahm bald Diesen, bald Jenen bei Seite, flüsterte ihm etwas in's Ohr, er nahm endlich sogar, trotz beiderseitiger Einrede, eine Vergleichssumme auf seine eigene Verantwortung, er zerrte an Allen umher und suchte die Hände der beiden Parteien mit Gewalt in einander zu legen.

Da sagte endlich der Schloßbauer: „Nein, eh' ich so einen Bettel nehm', schenk' ich's Euch lieber ganz, Ihr Hungerleider.“

„Was Du!“ sagte darauf der Schlosser Ludwig, „mit Dir schwätzt man ja gar nicht, Du Strohgänger.“

„Gebt nur Acht“, erwiederte der Schloßbauer, „Ihr werdet keine Strohgänger. Ich will Euch schon betten, daß Ihr kein Stroh mehr unter'm Kopf habt zum Draufliegen. Und wenn ich und Weib und Kind drüber zu Grund gehen soll, und wenn mir kein Handbreit Ackers übrig bleibt, keinen rothen Heller lass' ich Euch jetzt mehr nach; ich muß mein Recht haben, und wenn ich an den Kaiser selber gehen muß. Wartet nur!“ er stand zähneknirschend auf, der Vergleich war durch keinerlei Bemühungen mehr zu Stande zu bringen; er fing sogar zuletzt noch mit seinem Schwäher Händel an und ging fort, indem er die Thüre laut hinter sich zuschlug.

Zu Hause weinte die Mutter mit ihren Töchtern so laut, als ob Jemand gestorben wäre, so daß alle Vorübergehenden eine Weile [58] vor dem Hause stehen blieben; aber alle Bitten der Mutter und der Kinder halfen nichts, der Schloßbauer blieb bei seinem Vorsatze. Der alte Staufer reiste wieder nach Hause, ohne nochmals zu seiner Tochter zu kommen, er ließ ihr nur durch den Marem Adjes sagen.

Der alte Zustand dauerte fort, der Schloßbauer und seine Frau lebten oft in Unfrieden, aber das Vefele wußte immer Alles gut zu machen. Der Vater hatte eine gewisse heilige Ehrfurcht vor dem Kinde, denn „das Kind“ hieß Vefele im ganzen Hause; es hatte ein so engelmildes Antlitz und eine so bezaubernde Stimme, es durfte nur seine Hand nehmen, ihn mit den treuen blauen Augen anschauen und sagen: „Aber lieber Aetti“, und er war still und gut; der starke, trotzige Mann ließ sich von seinem Kinde besänftigen, wie wenn es ein höheres Wesen wäre, nie redete er ein hartes Wort, wenn das Vefele zugegen war, er that ihm Alles, was es wollte, zu Gefallen, nur nicht die Versöhnung mit seinen Feinden.

In dieser letztern Beziehung war der Schloßbauer, trotzdem er nach außen so fest und bestimmt auftrat, doch innerlich in einem gewaltigen Zwiespalte; er hätte gern seinen Feinden gutwillig die Hand gereicht, aber er schämte sich, so schwach zu sein, wie er es nannte, und er glaubte auch, er habe es schon zu weit kommen lassen, seine Ehre hänge davon ab, es durchzusetzen. Dann, wenn er an die Ehre dachte, erhob sich wieder sein Stolz, und er hielt sich für etwas Besseres als alle die anderen Bauern. In letzterm Gedanken bestärkten ihn die schmarotzenden Schreiber in dem nahen Städtchen und der Kronenwirth, sie redeten ihm viel vor von seinem ungewöhnlichen Verstande und von seinem Baronenvermögen, er glaubte es zwar nicht, es that ihm aber [59] doch wohl, es zu hören; nach und nach, als er merkte, daß die Stadtleute wirklich nicht gescheidter waren, als er, hielt er sich in der That für besser als alle anderen Bauern. Es war ihm zwar nie recht wohl in der Gesellschaft dieser Leute, die sich gern einen guten Schoppen von ihm bezahlen ließen; aber, dachte er, wieder, man muß doch Gesellschaft haben, und es ist doch besser als Bauerngeschwätz. Ohne daß er sich's recht gestand, ging er gern in diese Gesellschaft, weil sie auf alle Art seiner Eitelkeit schmeichelte.

So geht's, der Schloßbauer lebte in Unfrieden mit sich, mit seinem Weibe, mit seinen Mitbürgern, mit Allen, blos weil er sich nicht demüthigen wollte, weil er nichts von den alten Herrenrechten, oder besser Unrechten, nachlassen wollte, während er doch sonst noch vollauf zu leben hatte; sein Herz und seine Gedanken kamen immer mehr in Verwirrung, und er richtete sich und die Seinigen zu Grunde, während es ihnen doch hätte so wohl sein können.

Nach und nach kamen in den Winterabenden einige alte Bauern, die zu Hause keinen warmen Ofen hatten, oder die ihren scheltenden Weibern davon gegangen waren, zu dem Schloßbauer; er aber war mürrisch und barsch gegen sie, es verdroß ihn, daß nur diese und nicht auch die Angeseheneren kamen; die Besuchenden blieben wieder weg.

Die Mutter war mit beiden Töchtern oft mehrere Tage bei ihrem Vater in Baisingen, der Schloßbauer aber schmollte mit seinem Schwäher. Er sah ihn nicht mehr, bis er auf der Bahre lag.

Das Leben im Dorfe ward immer unangenehmer. Es ist ein traurig Ding, wenn man ins Feld geht, und Niemand einem [60] die Zeit bietet; der Schloßbauer unterhielt sich dann immer mit seinem großen Hunde, dem Sultan, das ist und bleibt aber doch immer eine traurige Unterhaltung für einen Menschen.

Die schweren Zeiten, die durch Napoleon über Europa kamen, verschonten auch nicht das einsamste Bauernhaus im Schwarzwald; Straßburg war nicht weit, und Leute, die besonders gute Ohren hatten, wollten auf der Hochbux die in Straßburg abgefeuerten Siegesschüsse gehört haben, das sollte kommende große Noth anzeigen; freilich war damals leicht prophezeien, daß Alles drunter und drüber zugehen werde.

Zum Feldzug nach Rußland wurde mit aller Macht gerüstet, auch der Philipp und der Caspar, die beiden ältesten Söhne des Schloßbauern, mußten mit in den Krieg; ihr Vater wäre lieber selber mitgezogen, denn ihm war Alles verleidet, er sah seine beiden Söhne mit einem Stumpfsinn und einer Gleichgültigkeit scheiden, wie wenn Einer sagt: Mir ist alles eins, komm' was da wolle.

Der Philipp und der Caspar sind wahrscheinlich im russischen Schnee begraben, man hat nie mehr etwas von ihnen gehört; nur das Eine hat der General Hügel oft erzählt: Auf dem Rückzuge von Moskau aus sah er einen Soldaten, der etwas abseits ging und dem die Kälte oder die Noth und das Heimweh oder vielleicht Alles zusammen die Thränen stromweise über die Backen herunterrinnen machte, der General ritt auf ihn zu und fragte ihn freundlich: „Woher?“

„I bin des Schloßbauern Bua vom Schwarzwald do obe 'ra!“ erwiederte der Soldat nach der Seite zu deutend, als ob seines Vaters Haus nur einen Büchsenschuß weit dort um die Ecke läge. Der General mußte über die Antwort des Soldaten, [61] der in Gedanken so nahe zu Hause war, so herzlich lachen, daß auch ihm Thränen über die Backen liefen, die aber in seinem langen Schnurrbart als Eistropfen hängen blieben.

Das ist alles, was die Geschichte über das Leben und Ende der beiden Söhne des Schloßbauern berichtet.

Unterdessen war zu Hause Freud und Leid gemischt. Wenn ein Unglück oder ein trauriger Zustand lange dauert, richtet man sich zwischen Thür und Angel wohnlich ein; ein Mensch, wenn er gesund ist, kann nicht lange dem Schmerze nachhängen, die alte Lust des Lebens steigt bald wieder in ihm auf. So wurden zu Hause Kirchweihen und Hochzeiten gefeiert, während draußen in fernen Landen Hunderte der nächsten Angehörigen vom Tode in sein kaltes Bett gelegt wurden.

Agathle, die älteste Tochter des Schloßbauern, war die Braut des Rößlewirths in Eutingen geworden; der Schloßbauer, der mit dem ganzen Dorfe verfeindet war, mußte seine Kinder außerhalb des Orts verheirathen.

Vefele sah am Hochzeitstage der Schwester gar prächtig aus. Die Schwestern hatten im Dorfe keinen weitern Umgang, und so war Vefele die einzige „Gespiele“ der Braut und ganz so wie sie gekleidet. Es hatte die „Schappel“ – eine Krone von flimmernden Silberflittern – auf dem Haupte, in die beiden den Rücken hinabhängenden Zöpfe waren handbreite, ziegelrothe Seidenbänder eingeflochten, die fast bis auf den Boden herabreichten; das ist die besondere Zierde einer Jungfrau, denn nur eine solche darf rothe Bänder im Haare tragen, ein Mädchen, „das sich verfehlt hat“, muß weiße leinene Bänder tragen. Um den Hals hatte Vefele die vielreihige Granatenschnur, deren dunkle Farbe die auffallende Zartheit der Haut noch mehr hervorhob, über dem weißen [62] Spitzen-Koller ragte ein frischer Blumenstrauß aus dem scharlachrothen Mieder hervor, das zu beiden Seiten von silbernen Agraffen, durch die sich Silberkettchen schlangen, gehalten war; der um und um weitfaltige blaue „Wieflingrock“, der bis an die Kniee reichte, war zur Hälfte von der weißen Schürze bedeckt; überall, an den Schultern wie an den Enden der kurzen Hemdärmel flatterten rothe Bänder, die „Stöckleschuhe“ mit den hohen hölzernen Absätzen in der Mitte, gaben dem ohnedies schwankenden Gange Vefele's noch etwas Unsicheres. Dennoch, als es unter dem Klange der Musik und dem Abfeuern der Pistolen neben seiner Schwester zur Kirche ging, erschien Vefele so liebreizend, daß Jeder es gerne als die Braut angesehen hätte. –

Wer weiß, wo die beiden Söhne des Schloßbauern waren, während dieser mit den Seinen fröhlich beim Hochzeitsschmause saß! Niemand gedachte ihrer, nur Vefele schaute einmal lange unverrückt drein, es war, als ob sie nichts von alle dem sehe, was um sie her vorging; es war, als ob ihr Blick durch die Wände dringe und suchend hinausschweife in's Unendliche – es gedachte seiner fernen Brüder.

Kaum zwei Monate später feierte auch Melchior, der dritte Sohn des Schloßbauern, seine Hochzeit. Er hatte auf des Agathle's Hochzeit seine Braut, die einzige Tochter des Engelwirths von Ergenzingen, kennen gelernt und sich mit ihr versprochen. Obgleich Melchior noch sehr jung und kaum ein Jahr älter war als Vefele, beschleunigte man doch die Hochzeit, denn man fürchtete, er müsse sonst auch mit in den Krieg. Melchior zog nun auch fort aus dem Dorfe, und Vefele blieb allein im Hause. Die Mutter kränkelte, ein stiller Gram zehrte an ihrem Leben, sie wollte ihren Mann immer dazu bringen, daß er Alles verkaufe [63] und aus dem Dorfe weg zu einem seiner Kinder zöge; der Schloßbauer aber gab ihr so heftige Antworten, daß sie nicht mehr davon reden durfte. Da hatte das Vefele traurige Zeiten, denn es hatte immer zu vertuschen und zu begütigen. Die Kränklichkeit der Mutter machte sie noch immer gereizter und unnachgiebiger, und sie sagte oft: wenn ihr Vater noch lebte, würde sie ihrem Manne auf und davon gehen. – Diese Leute sahen doch schon bald das zweite Geschlecht aus ihrer Ehe hervorgehen und noch konnten sie sich nicht in einander finden; ja, je älter sie wurden, um so mehr schien sich eine Uebelnehmerei, eine heftige Bitterkeit zwischen ihnen kund zu geben. Das Vefele wußte zwar immer wieder den Frieden herzustellen, es war dann vergnügt und munter, aber im Stillen weinte es oft bitterlich über das traurige Schicksal seiner Eltern und über sein eigenes, und dann gelobte es sich heilig, nie zu heirathen; es kannte ja ohnedies Niemanden, dem es sein Leben hätte widmen mögen, und dann sah es wohl ein, wie nöthig es im elterlichen Hause sei, wenn nicht das Feuer zum Dache herausschlagen solle. Geschrieben steht: Gott ahndet die Sünde der Väter an den Kindern; das gilt am meisten von einer bösen Ehe, in dem Herzen ohne Kindesliebe nimmt gar leicht Trübseligkeit oder Verirrung anderer Art Platz.

Der Tod brachte die Mutter Vefeles bald zu ihrem Vater, und jetzt, nachdem seine Frau todt war, fühlte der Schloßbauer erst, wie viel ihm fehlte, wie lieb er doch im Grunde seines Herzens seine Frau gehabt hatte; er grämte sich, daß er sie nicht nachgiebiger behandelt und daß er ihre Kränklichkeit so oft für Verstellung angesehen hatte; jedes harte Wort, das er ihr gegeben, schnitt ihm tief durch die Seele, er hätte gern sein Leben [64] drum gegeben, wenn er es wieder hätte zurückrufen können. So geht's, statt im Leben freundlich und friedfertig einander zu tragen und zu erfreuen, grämen sich die meisten Menschen, wenn es zu spät ist, wenn der Tod die traulichen Lebensgefährten von der Seite gerissen hat; darum soll man sich lieben, so lange man noch lebt, denn jede Stunde, die man in Unliebe verbringt, hat man sich und dem Andern unwiederbringlich vom Leben geraubt.

Der Schloßbauer ging des Sonntags nicht mehr nach der Stadt, sondern in die Kirche des Dorfes, denn neben der Kirche lag ja seine Frau begraben; er machte jedesmal den Umweg und ging über den Gottesacker. Es war, als ob er das Grab seiner Frau durch diesen sonntäglichen Besuch versöhnen wollte.

Im Hause war Alles still, man hörte kein lautes Wort mehr, und das Vefele waltete sanft wie ein Friedensengel; der Friede war da, aber die Freude fehlte doch, es war immer im Hause, wie wenn man Jemand schmerzlich vermißte oder erwartete.

Nach und nach fühlte sich der Schloßbauer durch das freundliche Walten Vefeles so wohl, daß er wieder neu auflebte; er that gar nichts ohne die Zustimmung „des Kindes“, er ließ es sogar meist allein über Alles verfügen, und wenn Jemand etwas von ihm haben wollte, sagte er immer ruhig: „Da müsset Ihr eben mein Vefele fragen.“

So lebten sie viele Jahre. Vefele hatte die erste Hälfte der zwanziger Jahre überschritten, viele Freier stellten sich ein und hielten um seine Hand an, aber es sagte immer, daß es nicht heirathen wolle; der Vater gab ihm recht, dann sagte er wieder: „Vefele, Du bist zu fein für einen Bauersmann, und [65] wenn ich meinen Prozeß gewinn', ziehen wir in die Stadt, und ich geb' Dir auch ein Simri voll Kronenthaler zum Heirathsgut, und dann kannst Du unter den Herren-Leuten wählen.“ Das Vefele lachte zwar, aber innerlich gab es seinem Vater doch darin Recht, daß, wenn es auch heirathe, es doch nie und nimmer einen Bauern heirathen wolle; es hatte ihre Leidenschaftlichkeit und Unversöhnlichkeit zu lange mit erduldet und hatte nun ein tiefes Vorurtheil gegen sie, es wähnte, in der Stadt, wo die Leute gesitteter und feiner wären, müßten sie auch besser und braver sein; die vielen Kränkungen hatte es nur dadurch ertragen, daß es die Leute für zu roh und sich selber für etwas Besseres hielt, und indem es so immer mehr über das Bauernleben nachdachte, hielt es sich selber nicht nur für besser als die Anderen, sondern auch für höher stehend und vornehmer; das war sein großes Unglück.

 

2.

Man irrt sich gar gewaltig, wenn man glaubt, auf dem Lande da könne man ganz ungestört allein für sich leben; das kann man nur in einer großen Stadt, wo die Menschen sich nicht um einander bekümmern, wo einer an dem Andern täglich vorübergeht, ohne zu wissen, wer er ist, was er thut und treibt, wo man ohne Gruß, ja fast ohne Blick vor einem Menschen vorbeirennt, als ob er ein Stein und nicht, als ob er ein Mensch wäre; auf dem Lande, in einem Dorfe aber, wo die kleine Anzahl der Einwohner sich kennt, muß man gewissermaßen von seinem Thun und Treiben einem Jeden Rechenschaft geben, man kann sich nicht selbstgenügsam abschließen. – Im Schwarzwalde ändert sich der Gruß je nach dem öffentlichen Thun: gehst Du [66] den Berg hinab, so sagt Dir der Begegnende: „Weant (wollt) Ihr au do 'na?“ Den Berg hinauf: „Weant Ihr au do 'nuf?“ Ladest Du Etwas auf den Wagen, so heißt es: „Ueberladet et“; oder „Ueberschaffet Eu et“. Sitzest Du ausruhend vor Deinem Hause oder auf einem Feldraine: „Weant Ihr au g'ruawe (ruhen)?“ oder „Hent (habt) Ihr Feierobed?“ Plauderst Du mit Anderen, so sagt der Vorübergehende: „Hent Ihr gute Roth?“ u. s. w.

In dieser ausgesprochenen Theilnahme an dem Thun und Lassen des Andern liegt eine gewisse sinnige Gemeinschaft des Lebens, die sich über Alles ausbreitet; aber auch hier fehlen die Schattenseiten nicht: will Einer aus besonderen Gründen sein Leben so einrichten, daß es gegen die allgemeinen Sitten und Gewohnheiten verstößt, so ist er dem Widerstreben und dem Spotte Aller ausgesetzt; namentlich ist ein alter Junggeselle oder eine alte Jungfer die Zielscheibe des Straßenwitzes, gleichviel, ob sie aus Armuth oder aus irgend einem andern Grunde im ledigen Stande verharren.

Je mehr sich nun Vefele der trübseligen Altjungferzeit näherte, um so mehr erlaubte man sich, das „Schloßfräle“ zu necken und zu verhöhnen. Einmal, an einem Sonntage, ging Vefele durch das Dorf. Vor dem Rathhause stand ein „Rädchen“ junger Bursche, der Tralle, ein halbstummer Dorftölpel, stand nicht weit davon; als sie nun das Vefele bemerkten, da rief einer: „Tralle, da kommt Dein' Hochzeiterin!“ Der Tralle grinste fröhlich; sie ermuthigten, hetzten und stießen ihn nun, er solle seine Braut am Arme nehmen, das Vefele hörte es und glaubte, es müsse vor Scham und Aerger in den Boden sinken, schon stolperte der Tralle zu ihm her und faßte es mit grinsenden, [67] verzerrten Mienen am Arme; Vefele erhob seinen Blick so jammernd und vorwurfsvoll nach den Burschen, daß wirklich einer derselben versucht war, ihm beizustehen, man hörte nicht, was es sprach, denn die Burschen lachten überlaut; da kam dem Vefele unversehens Hülfe, der Hund, das Mohrle, der ihm gefolgt war, sprang plötzlich auf den Rücken des Tralle, faßte ihn am Kragen und riß ihn zu Boden. Vefele hatte nur zu thun, den Hund wieder von seiner Beute loszumachen, und dann ging es schnell seines Weges fort. Das Mohrle war fortan eine gefürchtete Macht im Dorfe. Dieser Vorfall betrübte das Vefele sehr, und die Abneigung gegen das Bauernwesen bestärkte sich immer mehr in ihm.

Vefele war auf einige Wochen zum Besuche bei Melchior in Ergenzingen; auch hier war es oft betrübt, denn der Melchior hatte eine hartherzige, geizige Frau, bei der er kaum satt zu essen bekam.

Der Schultheiß von Ergenzingen, ein Wittwer mit drei Kindern, kam oft zum Melchior, und eines Tages freite er um Vefele. Vefele war fast entschlossen, dem Antrag zu willfahren; es hatte zwar keine Neigung zu dem Schultheißen, aber das einsame Leben war ihm verleidet, und dann erfreute es sich an dem Gedanken, den mutterlosen Kindern eine freundlich liebende Mutter zu sein. Da kam der Schloßbauer und stellte seinem Kinde vor, daß der Schultheiß ein Grobian sei, der seine erste Frau hart gehalten habe, und dann sagte er wieder, daß für Vefele nur ein feiner Mann passe. Der Schultheiß erhielt eine abschlägige Antwort, sein Antrag war aber im Flecken bekannt geworden; die jungen Burschen, die dem strengen Mann gern einen Streich spielten, streuten ihm des Nachts Spreu von seinem Hause [68] bis zu dem Hause Melchior's. Der Schultheiß faßte fortan einen besondern Haß gegen Melchior und Vefele, dieses aber zog mit seinem Vater wieder nach Haus in die Einsamkeit.

Hätte nur Vefele seiner eigenen Eingebung gefolgt und den Schultheißen geheirathet! Aber es war bestimmt, es sollte sein trauriges Schicksal erfüllen.

Das Leben des Schloßbauern schien früher enden zu wollen als sein Prozeß. Der einst so starke Mann kränkelte und siechte, der lange verhaltene Gram und Aerger hatten wie ein Wurm seinen Lebenskern angefressen; oft halbe Tage saß er in seinem großen Lehnstuhle und redete kein Wort, nur bisweilen murmelte er ein paar unverständliche Laute mit seinem Hunde Mohrle, der, den Kopf auf seines Herrn Schooß gelegt, mit treuen Augen nach ihm aufschaute.

Vefele konnte nicht immer um den Vater sein, und jetzt in seiner Krankheit fühlte er doppelt und dreifach, wie vereinsamt und abgeschnitten er von aller Welt war. Gerade wie es vielen Menschen ergeht, die, solange sie gesund und glücklich sind, oft von Gott verlassen so in den Tag hineinleben, wenn aber Krankheit und Unglück über sie kommen, um so schmerzlicher nach Gott, ja sogar oft nach dem falschen Gott des Aberglaubens ringen: so erging es in anderer Weise dem Schloßbauer, er hatte, so lange er gesund war, von den Menschen verlassen gelebt, und sich wenig darum bekümmert; jetzt wäre es ihm überaus lieb gewesen, wenn irgend einer, wer es auch sei, mit ihm seine warme Stube getheilt hätte, und wenn sie sich gegenseitig nur hätten eine Prise Tabak bieten können. Der Schloßbauer legte sich in das Fenster und schaute hinaus, er hustete, wenn Einer vorüberging, [69] aber Niemand grüßte, Niemand kam. Er machte dann immer wieder mißmuthig das Fenster zu.

Es war zwei Tage vor Neujahr, Vefele war mit der Magd am Rathhausbrunnen, um Wasser zu holen; es zwang sich absichtlich zu dieser groben Arbeit, weil es gehört hatte, daß die Leute im Dorfe sagten, es schäme sich einer solchen. Eben hatte es seinen Kübel voll gepumpt, da sagte die Magd: „Guck', der do mit den doppelten Augen, des ist g'wiß der neu' Feldscherer.“ Ein modisch gekleideter Herr kam das Dorf herab, er trug eine Brille auf der Nase; eben als er an den beiden Mädchen vorüber ging, nahm Vefele das Wasser auf den Kopf, aber durch einen unglücklichen Tritt glitt es auf dem Glatteise aus, fiel auf den Boden und ward ganz durchnäßt. Als Vefele sich wieder aufrichtete, stand der fremde Herr bei ihm, er reichte ihm die Hand und hob es auf, dann fragte er theilnehmend, ob es sich keinen Schaden gethan, es wäre gar gefährlich gefallen. Es lag so was Gutes in dem Ton seiner Worte, daß dem Vefele plötzlich gar wunderlich zu Muthe wurde; es dankte herzlich und sagte, daß es sich nichts gethan; es ging weiter, der Fremde ging neben ihm. „Ei, Sie hinken ja!“ sagte der Fremde wieder, „haben Sie sich den Fuß verrenkt?“

„Nein, ich hab' einen kurzen Fuß“, sagte Vefele, und trotz dem, daß es an allen Gliedern fror, schoß ihm doch das Blut siedendheiß ins Gesicht. Es bedeckte sich mit der Schürze das Gesicht und that, als ob es sich abtrocknen wollte, und doch war die Schürze ganz durchnäßt. Der Fremde bemerkte nun, daß es kaum merklich hinke; Vefele lächelte halb ungläubig, halb geschmeichelt darüber. Es war Vefele ganz eigen zu Muthe, daß der Fremde immer so neben ihm herging durch das ganze [70] Dorf bis zu seinem Hause; aber auch dort trat er mit einigen Entschuldigungsworten ein, ohne eine Antwort darauf abzuwarten. Das Mohrle aber sprang plötzlich auf den Fremden los und hätte ihn gewiß niedergerissen, wenn nicht der herbeigekommene Schloßbauer und das Vefele mit aller Macht abgewehrt hätten. Der Fremde verordnete nun für Vefele mancherlei Vorkehrungen gegen Erkältung, es mußte sich in's Bett legen und Thee trinken etc. Mittlerweile saß nun der Fremde, oder wie er eigentlich hieß, Eduard Brönner, bei dem Schloßbauer und plauderte behaglich mit ihm; kaum eine Stunde war vorüber, so hatte er die ganze Geschichte des Schloßbauern erfahren. Dieser gewann den Herrn Chirurgus Brönner schnell lieb, er sprach aber so viel von der Brille und fragte mehrmals, ob er diese immer nöthig habe, daß Brönner wohl merkte, dieses Gelehrteninstrument war ihm unangenehm. Er nahm daher die Brille ab, und der Schloßbauer nickte ihm dafür freundlich zu, indem er zugleich bemerkte, daß er viel offener mit einem sprechen könne, der sein Augenlicht nicht in einer Laterne stecken habe. Nun klagte er auch sein körperliches Leid, Brönner machte eine gar wichtige Miene, sagte: er wäre bis jetzt durchaus falsch behandelt worden, und verschrieb ein unfehlbares Mittel.

Brönner kam von dieser Zeit an fast jeden Tag in des Schloßbauern Haus. Jedes freute sich, wenn er kam, nur das Mohrle behielt seine Abneigung; es gab keinen Worten mehr Gehör, sondern mußte jedesmal angebunden werden, wenn Brönner da war. Eines Tages, als Brönner wegging, warf er unversehens dem Hund ein Stück Brod hin, aber der Hund ließ das Brod liegen und sprang nach dem Geber, als ob er ihn zerreißen wollte, und das Sprüchwort, daß kein Hund ein [71] Stück Brod von ihm nimmt, bewährte sich an Brönner buchstäblich.

Vefele aber nahm um so mehr die Schmeicheleien und schönen Reden Brönner's an. Es zankte gar gewaltig rnit der Magd, welche behauptete, der Brönner habe nur Einen Rock, denn er käme Sonntags und Werktags in demselben; es schalt das Mädchen dumm und erklärte, daß das bei den Herren-Leuten so wäre. Vefele saß oft dabei, wenn Brönner mit dem Vater über Allerlei sprach, und es freute sich jedesmal, wenn dem Vater die Ansichten Brönner's gefielen und er sie gescheidt nannte, wie wenn es selber das gesagt hätte. Der Schloßbauer fühlte sich auf das von Brönner verordnete Mittel zufällig etwas besser, und nun sprach dieser oft davon, daß er eigentlich ein besserer Doctor sei, als der Physikus, daß aber das Gesetz ihm die Ausübung verbiete; er schalt dann auf die Herren, die da meinen, nur einer, der viel Bücher im Kopfe habe, wäre gescheidt, die „Praxi“ (wie er es nannte) mache den Meister; ein Bauer, der die Welt kennt, verstände oft mehr von der Regierung als alle Minister und Landvögte, und so sei es auch meistens bei der Medizin, die „Praxi“ mache den Meister. Indem er nun so, zufällig oder absichtlich, Wahres und Falsches unter einander mischte, gewann er die Neigung des Schloßbauern immer mehr, der sich in seinen Lieblingsansichten immer mehr bestärkt sah. – Auch des Prozesses nahm sich Brönner an, er bestärkte den Schloßbauer in seinem Vorsatze, nun endlich auch wie seine Gegenpartei zur Bestechung seine Zuflucht zu nehmen; Brönner hatte den gescheidten Gedanken, daß man seine Gegenpartei übertreffen und Gold geben solle.

Damals in der „guten alten Zeit“ konnte kein Rechtshandel [72] ohne „Schmierale“ fertig werden, und die Beamten nahmen dieß ohne Scheu an.

Als Brönner eines Abends aus des Schloßbauern Haus wegging, gab ihm Vefele das Geleite bis unter die Thür, da standen sie noch eine Weile bei einander. Brönner faßte die Hand Vefeles und sagte: „Parole d'honneur, Vefele, Sie sind ein liebes Mädchen und gar nicht wie ein Bauernmädchen, Sie sind auch viel zu fein für ein Bauernmädchen, parole d' honneur, und haben so viel Verstand, wie irgend eine in der Stadt.“

Vefele sagte zwar, er wolle es nur foppen, aber innerlich gab es ihm doch recht; er küßte dann die Hand Vefele's und nahm Abschied, indem er höflich seinen Hut vor ihm abzog. Vefele stand noch lange unter der Thür und blickte gedankenvoll drein, ein heiteres Lächeln schwebte auf seinem Antlitze, die höfliche und doch so gutherzige Art Brönner's hatte ihm gar wohl gefallen; dann ging es singend die Treppe hinauf, und als es die große Suppenschüssel fallen ließ, lachte es überlaut, es kam ihm heute Abend alles so lustig vor, daß es keine trübe Miene machen konnte, es ging noch spät in den Keller und holte den Knechten heimlich eine Flasche Obstwein, sie sollten auch einmal mitten in der Woche vergnügt sein.

Das Verhältniß zwischen Brönner und Vefele ging nun in Riesenschritten vorwärts.

Ein neues, durch das lange Harren fast unerwartetes Ereigniß, brachte frische Lust und Freude in des Schloßbauern Haus; die Nachricht war angekommen, er hatte endlich seinen Prozeß gewonnen. Die Gegenpartei war in Rottenburg gewesen, und der Landvogt hatte ihnen offen und doch verblümt gesagt: „Des Schloßbauers Füchsle haben Eure Schimmele überritten.“ Trotz [73] dem der Schloßbauer nicht ausgehen konnte, zog er doch sein Sonntagskleid an und saß vergnügt in seinem Stuhle und schüttete dem Mohrle einen ganzen Hafen Milch in seine Morgensuppe; er schickte sogleich Boten nach Melchior und Agathle, sie sollten kommen und sich mit ihm freuen; man sagte ihm nicht, daß Agathle todkrank darniederläge, auch nach Brönner wurde geschickt, und dieser war der Einzige, der zum Schmause kam. Der Schloßbauer saß bis tief in die Nacht hinein und trank und lachte und scherzte, manchmal wurde er auch trüb; er wünschte sich nur, daß seine „Alte“ das auch noch mit erlebt hätte, und er trank ein volles Glas zu ihrem Andenken. Man mußte den Ueberfröhlichen, der schon auf dem Stuhle halb eingeschlafen war, endlich zu Bette bringen. Es war schon spät, als auch Brönner sich zum Fortgehen anschickte; Vefele leuchtete ihm hinab, sie waren beide hoch erregt und küßten sich heftig; auf sein Bitten und Betteln sagte nun Vefele ganz laut: „gut Nacht“; Brönner that desgleichen, er nahm den Hausschlüssel, schloß die Thür auf, schlug sie heftig zu und verschloß wieder, aber er war nicht hinausgegangen, sondern er schlich sich hinauf in das Kämmerlein Vefele's. Niemand im Hause merkte etwas davon, nur das Mohrle, das im Hofe angebunden war, bellte unaufhörlich die ganze Nacht, wie wenn ein Dieb in's Haus gedrungen wäre.

In derselben Nacht theilte sich der Engel des Lebens und der Engel des Todes in die Herrschaft des einen Hauses; am andern Morgen fand man den Schloßbauer, vom Schlage gerührt, todt in seinem Bette.

Niemand ahnte, warum das Vefele bei der Leiche des Vaters wie wahnsinnig raste und sich gar nicht wollte beruhigen [74] lassen; es war sonst immer so verständig und besonnen, und jetzt wollte es gar keine Vernunft annehmen.

Das Schloßgut wurde nun wieder von einem Baron angekauft, und die Bauern bezahlten nach wie vor ohne Widerrede die alten Herrenabgaben.

 

3.

Vefele zog nun zu seinem Bruder Melchior nach Ergenzingen, nichts war ihm aus dem Dorfe gefolgt, als das Mohrle. Die Schwester Agathle starb bald nach dem Tode des Vaters, und die Leute munkelten, Vefele werde nun ihren Schwager heirathen; das konnte aber nie und nimmer geschehen. Brönner kam jede Woche mehrmals nach Ergenzingen; er mußte irgendwo Geld aufgetrieben haben, denn er war überaus prächtig gekleidet, auch benahm er sich gegen Vefele und die Anderen ganz sicher, ja fast vornehm. Er gab zu verstehen, daß man ihn künftighin „Herr Doctor“ heißen solle. Vefele wußte nicht recht, was das sein sollte, es ließ sich aber Alles gefallen, denn es hatte ihm seinen Stand eröffnet. – Im Hause Melchior's war ein Knecht, Wendel mit Namen, ein baumstarker und arbeitsamer Bursch, der theilte gleiche Freundschaft und Feindschaft mit dem Mohrle; er liebte den Hund, weil er gleich ihm den Brönner haßte, und er liebte ihn doppelt, weil er ebenfalls dem Vefele so gut war. Brönner hatte einmal per „Er“ mit dem Wendel gesprochen, und dieser, der schon lang gern einen Grund gehabt hätte, um Brönner zu hassen, faßte von da an eine Todfeindschaft auf den „Bartkratzer“. Dennoch aber ließ er sich mehr als zwanzigmal und oft spät in der Nacht zu ihm nach der Stadt schicken, wenn Vefele sagte: „Wendel, willst Du nicht so gut sein?“ Da [75] wanderte er dann hin und das Mohrle sprang mit, und sie brachten einen Brief von Vefele an den „Doctor“. Oft auch wenn der Wendel den ganzen Tag geackert hatte und müder war als seine Gäule, brauchte das Vefele nur ein gut Wort zu sagen, und er spannte nochmals ein und führte den Brönner durch Nacht und Wetter heim.

Eines Samstags Abends sagte Vefele im Hofe zum Wendel: „Morgen früh mußt Du so gut sein und ganz früh nach Horb fahren und den Brönner holen.“

„Ist's denn wahr?“ fragte Wendel, „daß Ihr Euch mit einander versprechen wollt?“

„Ja.“

„Wenn ich Euch rathen soll, so thut's nicht, es gibt noch rechtschaffene Bauersleut' genug.“

Vefele erwiederte: „Du kannst's eben dem Brönner nicht vergessen, daß er einmal Er zu Dir gesagt hat.“ Es wollte noch mehr hinzusetzen, aber es bedachte sich, denn es wollte den Wendel nicht beleidigen; innerlich aber sagte es sich: „es ist doch gräßlich, wie dumm und hartnäckig so ein Bauer ist“, und es freute sich, darüber hinausgekommen zu seyn. – Trotz seiner Widerrede war Wendel doch schon lange, ehe es tagte, mit dem Wägelchen auf der Straße, um den Brönner abzuholen.

Vefele und Brönner verlobten sich nun öffentlich mit einander, und die Leute sprachen allerlei davon, ja sie sagten sogar heimlich, Brönner habe dem Schloßbauer einen Trank gegeben, woran er gestorben sey, weil er die Heirath mit seiner Tochter nicht habe zugeben wollen. – So schießen die Leute in ihren überklugen Vermuthungen meist über das Ziel hinaus. [76]

Die erste Veränderung, der sich nun Vefele unterwerfen mußte, war eine sehr traurige; der Brönner schickte ihm eines Tages eine Näherin aus der Stadt und ließ ihm Kleider anmessen. Vefele kam sich vor wie ein Rekrut, der nicht mehr Herr über sich ist und sich in jede beliebige Uniform stecken lassen muß, weil ihn das Loos so getroffen; es ließ Alles ohne Widerrede aus sich machen. Als es nun am Sonntage darauf die neuen Kleider anziehen mußte, stand es weinend bei der Näherin in der Kammer, es nahm von jedem einzelnen Stückchen wehmüthig Abschied, es war ihm, als ob es seinem ganzen bisherigen Leben damit entsagte; mit besonderer Wehmuth betrachtete es den feinen Wiflingrock; seine Mutter hatte ihn ihm gegeben, als es gefirmt wurde, es war darin zum ersten Male zur Beichte und zu Gottes Tisch gegangen, und die Mutter hatte ihm gesagt, es solle einst damit zum Traualtare gehen. Auch das ist eine Unannehmlichkeit der Stadtkleider und bezeichnet schon das Herrenwesen, daß man sie nicht allein anziehen kann und Jemand zum Zuhaften braucht; Vefele schauderte immer zusammen, wenn die Näherin so an ihm herum posselte. Die Haare waren in einen Zopf geflochten und mit einem Kamme aufgesteckt, und als nun das Vefele endlich fix und fertig da stand und sich im Spiegel betrachtete, mußte es über sich lachen, und es verbeugte sich höflich vor sich selber.

Brönner war hocherfreut, als das Vefele schüchtern in die Stube trat, er bemerkte, daß es zehnmal hübscher aussehe. Als aber Vefele sagte: daß die Stadtkleider doch nichts seien und daß ein einziges Bauernkleid mehr wert sei und auch mehr koste als sechs solcher Stadtfahnen, da machte der Brönner ein böses Gesicht und sagte, das wäre „dummes Bauerngeschwätz“; [77] das Vefele preßte die Lippen zusammen und die Thränen standen ihm in den Augen, es ging hinaus und weinte.

Das Vefele ging fast gar nicht aus dem Hause, denn es schämte sich, so „vermaskirt“ zu sein; es meinte, Jedermann müsse es drum ansehen. Nur ein einziges Mädchen im Dorfe, das bei der alten Ursula aufgezogen ward, hatte auch Stadtkleider an, und man wußte nicht recht, woher es war. Das Vefele hatte schwere Zeiten in dem Hause Melchior's, dessen Frau ein böser Drache war und immer todte Kinder gebar, so daß die Leute sagten, ihr Gift tödte die Kinder im Leibe. – Oft saßen Melchior und Vefele in der Scheune, und sie thaten, als ob sie sich zum Spaß Rüben schälten; in der That aber aßen sie sie mit gutem Appetit. Vefele gab sich alle Mühe, den Bruder zu steter Nachgiebigkeit zu ermahnen. Es hatte erfahren, was Unfriede in einem Hause war, und es drang nun darauf, daß bei allen Entbehrungen Friede sein sollte; der gute Melchior willigte gern in Alles. Doppelt und dreifach drang aber Vefele bei Brönner auf baldige Verheirathung. Da trat dieser mit einem neuen Plane hervor; er wolle nach Amerika auswandern, er könne so gut doctern wie der Amtsphysikus, hier zu Lande aber dürfe er das nicht, und darum wolle und müsse er fort. Das Vefele rang die Hände, warf sich auf die Kniee und bat, daß er von diesem Plane abstehe, sie hätten ja Vermögen genug, um auch ohne Doctorei zu leben; der Brönner aber blieb unerschütterlich und nannte das Vefele ein „dummes Dorfkind, das nicht wisse, daß hinter'm Berge auch noch Leute wohnen“. Da sank das Vefele in sich zusammen, es lag mit dem Gesichte auf dem Boden, und ein furchtbarer Gedanke ging ihm durch die [78] Seele, der Gedanke: daß es mißachtet und auf ewig unglücklich sein werde. Brönner mochte das ahnen, er kam zu ihm, hob es freundlich auf, küßte es und redete gar fein und höflich, so daß Vefele Alles vergaß und in Alles willigte; es wollte mit ihm nach Amerika auswandern, es wäre ihm in die Hölle gefolgt, so hatte er sein Herz und seine Sinne bestrickt.

Brönner hatte schon Alles vorbereitet, das Vermögen Vefeles wurde zu Geld gemacht und, um zur Reise bequemer zu sein, in lauter Gold eingewechselt. Vefele hob es bei seiner Aussteuer auf.

Vefele und Brönner sollten in der Kirche verkündet werden, aber die Papiere Brönner's, der aus dem Hohenlohischen gebürtig war, blieben immer aus. Da kam dieser eines Tages, Vefele stand in der Küche am Waschzuber, und er sagte: „Vefele, weißt Du was? ich muß heim und die Papiere selber holen, unten ist ein guter Freund mit einer Chaise, ich habe gerade Gelegenheit nach Tübingen zu fahren; dann lass' ich auch für uns den Paß von dem Gesandten unterschreiben, und dann gehen wir noch den Herbst fort.“

„Lieber heut als morgen“, sagte das Vefele.

„Apropos“, sagte Brönner wieder, „ich habe jetzt gerade kein Geld, kannst Du mir nicht was geben?“

„Da hast Du den Schlüssel“, sagte Vefele, „hol' Dir droben, Du weißt ja wo's liegt, links bei den neuen Hemden, die mit dem blauen Bändele zusammengebunden sind.“

Brönner ging hinauf und kam nach einer Weile wieder, Vefele trocknete an der Schürze die Hand und reichte ihm dieselbe, Brönner's Hand zitterte. Vefele wollte ihm ein Stück Weges „ausfolgen“; er bat es, da zu bleiben, und er rannte [79] schnell die Treppe hinab. Es war Vefele traurig zu Muthe, daß Brönner sich nicht einmal bis unter die Hausthür begleiten ließ, es glaubte, er schäme sich seiner vor seinem Freunde; es dachte darüber nach, wie das einst werden solle, und bittere Thränen tröpfelten in den Waschzuber. Dennoch ging es hinauf in seine Dachkammer und schaute zum Fenster hinaus, um die Kutsche noch mit den Blicken begleiten zu können. Wie erstaunte es aber, als es sah, daß die Kutsche nicht nach Tübingen, sondern den Weg nach Herrenberg fuhr. Es hatte schon den Mund geöffnet, es war ihm, als müßte oder könnte es ihnen zurufen, sie seien auf falschem Weg; da besann es sich, daß es sich wohl verhört, oder der Brönner sich versprochen haben möge. – –

Acht, vierzehn Tage waren vorüber, weder Brönner noch Nachricht von ihm kam. Vefele war oft betrübt in dem Gedanken, daß es sein ganzes Leben lang einem Manne hingegeben sein solle, der keinen rechten Respect vor ihm hatte; es war nicht stolz, aber es dachte doch daran, wie Jeder, und sogar der Schultheiß im Orte, sich hochgeehrt gefühlt hätte durch seine Hand. Oft aber dachte es wieder mit dem innigsten Entzücken an Brönner, und es bat ihn in Gedanken um Verzeihung für alle die herben Vorwürfe, die es ihm in seiner Seele gemacht hatte. Es stellte sich ihn ganz vor, wie er war, und da erschien er so herrlich und lieb, und es sah gar keinen Fehler mehr an ihm; denn so ist es immer: Wenn wir von Menschen entfernt sind, die wir gern haben, sehen wir gar keinen Fehler und nur Tugenden an ihnen. – Hätte der Brönner nur Eine Tugend gehabt!

Melchior fragte Vefele über das lange Ausbleiben Brönner's, [80] und es that, als wüßte es den Grund und wäre darüber beruhigt.

Eines Tages saß Vefele in trüben Gedanken in seiner Kammer; es hatte lange zum Dachfenster hinausgeschaut, ob Brönner nicht komme, aber es sah nichts. Es wollte sich eine Freude machen und öffnete den Schrank, um die schöne Aussteuer zu betrachten, aber, o Himmel! da war Alles so zerzaust, als ob Hexen darüber gewesen wären; es griff unwillkürlich nach dem Gelde, aber – das war fort. Es schrie laut auf, und plötzlich, wie feurige Pfeile so schnell, flogen ihm die Gedanken durch die Seele: der falsche Weg, den Brönner gefahren, das Zittern seiner Hand, daß es ihm nicht ausfolgen durfte, sein langes Ausbleiben – – Mit raschen Schritten sprang Vefele an das Dachfenster und wollte sich hinausstürzen; da faßte es eine Hand von hinten, es war Melchior, der auf den Schmerzensschrei herbeigeeilt war. Vefele warf sich auf die Kniee und erzählte händeringend seinem Bruder Alles. Melchior raste und wüthete; er wollte fort, alle Gerichte zu Hülfe rufen. Da fiel Vefele auf das Angesicht und erzählte ihm seine Schande; Melchior sank zu ihm nieder auf den Boden und weinte mit. Lange saßen die beiden Geschwister so auf dem Boden hart an einander gelehnt, laut schluchzend, ohne ein Wort zu reden, ja beide scheuten sich fast, einander anzusehen. –

Wer die Menschen kennt und die Eigenthümlichkeiten der Bauern insbesondre, der wird es wohl zu schätzen wissen, daß Melchior seiner Schwester Vefele nie den geringsten Vorwurf über ihren Fall machte; ja, er suchte, so viel er konnte, ihren niedergedrückten Lebensgeist wieder aufzurichten. Die meisten Menschen machen sich für ihre Theilnahme bei einem Mißgeschick [81] oder einem Fehltritt gleich dadurch bezahlt, daß sie ihrem freundschaftlichen Aerger und ihren weisen Ermahnungen Luft machen. Das mag bei Kindern oder überhaupt bei solchen Menschen am Platze sein, die nicht wissen, was ihnen geschehen oder was sie gethan; bei Menschen aber, die den Pfeil wohl fühlen, der in ihre Brust gedrungen, ist es unvernünftig, wenn nicht grausam, den Pfeil noch um und um zu wühlen, statt ihn sogleich behutsam und zart herauszuziehen.

Melchior berathschlagte nun mit Vefele, was zu thun sei, und sie kamen überein, daß man vorerst keinen Lärm machen und Alles im Geheimen zu Ende führen müsse. Mit einer Entschiedenheit, als wäre er ein ganz anderer Mensch geworden, forderte Melchior seiner Frau Geld ab, und wenige Stunden darauf reiste er in seinem Wägelchen dem Brönner nach; Vefele wollte mit, es wollte fast verzweifeln, daß es zu Hause bleiben und nichts thun solle, als harren und weinen, aber Melchior redete ihm die Mitreise auf's liebevollste aus.

Tage und Wochen schmerzlichen Hinbrütens vergingen. Wer das Vefele früher gekannt hatte, wäre jetzt furchtbar erschrocken über die Veränderung seines ganzen Wesens. Es ließ sich aber vor Niemand sehen, es lebte ein Leben ohne Willen, das kein eigentliches Leben war, es aß und trank, schlief und stand auf, aber es wußte und wollte von alle dem nichts, es blickte immer drein wie eine Wahnsinnige. Auch weinen konnte es nicht mehr, all sein Denken, seine tiefste Seele war wie scheintodt, wie lebendig begraben; es hörte die Welt draußen handieren, es verstand sie wohl, aber sich selber konnte es nicht verständigen.

Als Melchior zurückkam, ohne eine Spur von Brönner entdeckt zu haben, hörte Vefele Alles mit einem herzzerreißenden [82] Stumpfsinn an, es schien auf Alles gefaßt. Still, fast ohne ein Wort zu reden, lebte es dahin. Nur als es vernahm, daß Brönner mit Steckbriefen verfolgt wurde, jammerte es laut auf; es war ihm, als ob Millionen Zungen durch die Welt hin seinen Schmerz und seine Schande verkündeten, und doch – so weit geht die Liebe – weinte es fast mehr um Brönner als um sich selber.

Bei alle dem hatte das traurige Schicksal Vefeles noch nicht seine höchste Höhe erreicht. Als seine Schwägerin seinen Stand inne ward, steigerte sich ihre Hartherzigkeit zum empörendsten Grade; sie verfolgte und mißhandelte Vefele auf jede Weise. Das aber duldete still, es sah sich auserkoren, das größte Kreuz über sich zu nehmen, und es gehorchte ohne Murren; das Doppelleben in ihm schien es mit einer geistigen und körperlichen Kraft auszurüsten, die über jedes Ungemach unversehrt hinwegschritt. Als aber Vefele hörte, wie die Schwägerin dem Melchior Vorwürfe machte und wie sie den Tag verwünschte, an dem sie in eine Familie eingetreten war, die einen solchen Schandfleck habe, da blutete das Herz der Unglücklichen tief. Sie, die Engelsmilde, sollte die Schande ihrer Familie sein! Alles ertrug sie, nur das, daß sie an dem Unglück und der Schande ihres Bruders schuld sein solle, das war zu viel!

Es ist jammervoll, daß fast lauter böse, in die Tracht schwarzer Leidenschaften gehüllte Menschen am Lebenswege Vefele's sich wie eine festgeschlossene Reihe aufgestellt hatten. Das verhinderte es auch, die guten in den Lichtglanz des Edelsinns gehüllten Menschen zu erkennen, die sich nicht so leicht hindurchdrängen, weil es ihre stille Tugend so mit sich bringt und weil sie auch erwarten dürfen, daß man sie doch herausfinde. [83]

Vefele saß eines Tages weinend in der Küche auf dem Herde, da trat der Wendel ein und sagte:

„Müsset nicht greinen, ich hab's Euch ja damals gesagt, es gibt noch rechtschaffene Bauersleut' genug, wenn sie auch keinen Katzenbuckel machen können.“

Vefele sah mit thränenden Augen auf, über diese Rede befremdet; es antwortete aber nichts, und Wendel fuhr nach einer Weile fort:

„Ja, gucket mich nur an; was ich sag' ist so wahr, wie wenn's der Pfarrer von der Kanzel sagt.“ Er näherte sich Vefele und faßte dessen Hand, indem er weiter sagte: „Drum kurz und gut, ich weiß, wie's mit Euch steht, aber Ihr seid doch bräver als hundert Andere, und wenn Ihr Ja saget, ist über vierzehn Tag' unsere Hochzeit und Euer Kind ist mein Kind.“

Vefele entzog ihm rasch die Hand und bedeckte sich damit die Augen, dann stand es auf und sagte glühenden Antlitzes: „Weißt Du denn auch, daß ich bettelarm bin? Gelt, das hast Du nicht gewußt?“

Wendel stand eine Weile still, Zorn und Mitleid kämpften in seinem Herzen wie auf seinem Angesichte, er schämte sich für das Vefele und für sich selber über diese Rede; endlich sagte er: „Ja, ich weiß Alles; wenn Du noch reich wärst, hätt' ich mein Lebtag nichts gesagt; meine Mutter hat ein klein's Gütle, und ich hab' mir auch ein Geldle gespart, und wir können ja schaffen und uns in Ehren durchbringen.“

Vefele faltete die Hände, hob die Blicke himmelwärts und sagte dann: „Verzeih mir's Wendel, aber ich hab's nicht so schlecht gemeint, ich bin nicht so schlecht, aber die ganze Welt kommt mir so vor; verzeih mir's Wendel.“ [84]

„Nun sagst Du Ja?“ fragte dieser.

Vefele schüttelte den Kopf verneinend, und Wendel stampfte mit dem Fuße auf den Boden: „Warum denn nicht?“ fragte er.

„Ich kann nicht viel reden“, sagte Vefele schwer athmend, ãaber verzeih' mir's, ich kann nicht; Gott wird Dir Dein Herz gewiß noch belohnen, aber gelt, jetzt reden wir weiter kein Wort mehr davon?“

Der Wendel ging weg und sagte noch in derselben Stunde dem Melchior auf Martini den Dienst auf.

Endlich kam das äußerste Unglück über Vefele. Der Schultheiß des Ortes hatte ihren Stand erfahren, und der hartherzige Mann ließ nun seinen alten verhaltenen Grimm aus; er ließ Vefele durch den Dorfschützen sagen, es müsse das Dorf verlassen und nach seinem Geburtsort zurückkehren, da sonst das Kind, wenn es hier geboren würde, Heimathsrechte ansprechen könnte.

Vefele duldete es nicht, daß man Schritte gegen diese Grausamkeit that, und in einer stürmischen Herbstnacht bestieg es mit Wendel das Wägelchen und fuhr nach Seedorf. Wendel suchte es auf dem Wege zu trösten, so gut er konnte; er sagte, daß er sich jeden Tag darüber gräme, daß er nicht, wie er oft vorgehabt habe, den Brönner einmal die Bildechinger Steige hinabgeworfen habe, damit er Hals und Bein breche. Vefele schien fast froh, als es in Seedorf kein Unterkommen fand. Wendel bat und beschwor es, mit ihm zu seiner Mutter nach Bondorf zu gehen; aber es gab auf alle seine Bitten kein Gehör, schickte ihn des andern Morgens nach Hause und wanderte zu Fuß fort, wie es sagte nach Tübingen. Das Mohrle war auch mit gewesen, es wollte sich von Vefele nicht trennen lassen, und der Wendel mußte den Hund mit einem Seile unter dem Wägelchen anbinden. [85]

Der Wind jagte den Regen, der Boden war so schlüpfrig, daß man bei jedem Schritte ausglitt, als Vefele den Weg nach Rottenburg einschlug. Es war städtisch gekleidet, und hatte ein hellrothes Halstuch um, unter dem Arme trug es ein kleines Bündel. Ein altes Lied, das es fast ganz vergessen hatte, tauchte plötzlich in seiner Erinnerung auf; es war das Lied von der betrogenen Grafentochter. Ohne den Mund zu öffnen, wiederholte es oft innerlich den Vers:

 

Weinst Du um Dein Vatergut

Oder weinst Du um Dein' stolzen Muth?

Oder weinst Du um Dein junges Blut?

Oder weinst um Deine Ehr'?

Ja Ehr'?

Die find'st Du nimmermehr.

 

Kaum einige hundert Schritte war Vefele von Seedorf entfernt, als plötzlich etwas an ihm heraufsprang. Es fuhr erschreckt zusammen, aber sein Antlitz war schnell wieder freundlich, es war Mohrle, der Hund trug einen Seilstumpf den er abgebissen hatte, am Halse, er gebärdete sich ganz wie selig und wollte sich gar nicht beruhigen lassen.

Der Sturm war so heftig, daß es war, wie wenn man ganz hart an dem Ohre zwei Steine auf einander schlüge und als ob um und um unfaßbare rauschende Gewänder Einen umstrickten und zu ersticken suchten. Vefele ging mühsam weiter und plötzlich – ohne daß es wußte warum oder wie – kam ihm der Gedanke, daß Brönner jetzt auf dem Meere sei; es hatte in seinem Leben nur einmal eine bildliche Darstellung des Sturmes im Evangelium gesehen, aber jetzt sah es ihn leibhaftig vor sich, [86] es selbst war mitten drin; es sah die häuserhohen dunkeln Wellen, sah das Schiff, wie es auf und nieder geschnellt wurde, und oben stand der Brönner und streckte jammernd die Arme empor. Da! Wehe! Vefele streckte ebenfalls die Arme empor, sein Mund öffnete sich aber der Schrei erstarb ihm auf der Zunge, es sah den Brönner hinabstürzen in das Meer und eine Welle begrub ihn. Vefele ließ die Arme sinken, sein Haupt neigte sich seine Hände falteten sich und es betete für die arme Seele des Verlorenen. So stand es eine Weile, in seinem Innersten sah es, Brönner war in dieser Minute gestorben; dann richtete es seufzend das Haupt wieder empor, es hob das Bündel auf, das ihm entfallen war, und schritt durch Sturm und Regen wieder fürbaß.

Auf der Anhöhe, wo der Weg umbiegt und das Städtchen Rottenburg vor den Blicken liegt, steht eine Kapelle. Vefele trat hinein und betete lange inbrünstig vor der Mutter Gottes. Als es wieder aus der Kapelle trat, sah es die weite Ebene vor sich fast wie einen See; der Neckar war übergetreten. Vefele ging außen an der Stadt herum, Hirsau zu. Hier traf es plötzlich einen alten Bekannten, den auch uns noch wohl erinnerlichen Marem; er trug einen Quersack auf dem Rücken und führte eine Kuh am Seile, er ging ebenfalls nach Hirsau. Wer sollte es glauben, daß Marem ein Mitgefühl mit dem Schicksale Vefeles hatte, das ihm Thränen auspreßte? Und doch war es so. Nehmt einen Dorfjuden und einen Bauern von gleicher Bildungsstufe, ihr werdet jenen verschmitzter, auf seinen Vortheil bedachter und scheinbar kälter finden; aber bei jedem rein menschlichen Elend werdet ihr meist eine Wärme und Zartheit des Mitgefühls in ihm entdecken, die ihn weit über sein sonstiges Sein hinaushebt; sein Schicksal hat ihn für manche andere Weltbeziehung [87] abgestumpft, aber ihn auch zum theilnehmenden Bruder jedes rein menschlichen Schmerzes gemacht.

Marem bot Alles auf, um Vefele von seinem Wege zurückzubringen, er bot ihm sein eigenes Haus als Unterkommen an, ja er wollte ihm sogar Geld aufdringen. Vefele lehnte Alles ab. In Hirsau kehrten die Beiden ein. Marem ließ dem Vefele eine gute Suppe kochen, aber es stand gleich, nachdem es den ersten Löffel voll genommen, wieder auf, um weiter zu gehen. Marem wollte den Hund bei sich behalten, aber Vefele ließ das treue Thier nicht, es schied mit einem: „Vergelt's Euch Gott!“ –

Eine Stunde später ging Marem, nachdem er seine Kuh verkauft hatte, ebenfalls nach Tübingen. Nicht weit von Hirsau sprang ihm das Mohrle entgegen, es trug ein rothes Halstuch im Munde. Marem wurde blaß vor Schrecken, das Mohrle sprang ihm nun voraus und er nach; sie kamen an eine Stelle, wo das Wasser über die Straße getreten war, der Hund sprang hinein, er schwamm immer weiter, immer weiter, bis er endlich aus den Augen verschwand. – –

 

* * *

 

Das vornehmste Haus des ganzen Dorfes, das gehörte einst dem Vater des Vefele; der Vater ist todt, die Mutter ist todt, die fünf Kinder sind todt, und das Vefele ist spurlos verschwunden.