B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A
           
  Carl von Clausewitz
1780 - 1831
     
   


V o m   K r i e g e
Z w e i t e r   T e i l


S e c h s t e s   B u c h
Verteidigung

Kapitel 21 - 30

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21. Kapitel   Verteidigung von Wäldern
22. Kapitel   Der Kordon
23. Kapitel   Schlüssel des Landes
24. Kapitel   Flankenwirkung
25. Kapitel   Rückzug in das Innere des Landes
26. Kapitel   Volksbewaffnung
27. Kapitel   Verteidigung eines Kriegstheaters
28. Kapitel   Fortsetzung
29. Kapitel   Fortsetzung. Sukzessiver Widerstand
30. Kapitel   Fortsetzung. Verteidigung eines Kriegstheaters,
                        wenn keine Entscheidung gesucht wird


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     Einundzwanzigstes Kapitel:
     Verteidigung von Wäldern


     Man muß vor allem dichte, unwegsame, wild verwachsene Wälder unterscheiden von kultivierten, ausgebreiteten Holzungen, die teils ganz licht sind, teils von einer Unzahl von Wegen durchschnitten werden.
     Die letzteren soll man, sobald von einer Verteidigungslinie die Rede ist, entweder im Rücken nehmen oder sie aufs äußerste vermeiden. Der Verteidiger hat mehr als der Angreifende das Bedürfnis, frei um sich zu sehen, teils weil er in der Regel der Schwächere ist, teils weil ihn die natürlichen Vorteile seiner Lage veranlassen, seinen Plan später zu entwickeln als der Angreifende. Wollte er eine Waldgegend vor sich nehmen, so würde er, ein Blinder, mit einem Sehenden kämpfen. Stellte er sich mitten in den Wald hinein, so wären freilich beide blind, aber diese Gleichheit ist eben gegen sein natürliches Bedürfnis gerichtet.
     Eine solche Waldgegend kann also mit den Gefechten des Verteidigers in gar keine vorteilhafte Beziehung gebracht werden, ausgenommen die, daß er sie in seinen Rücken nimmt und sowohl alles, was hinter ihm vorgeht, dem Feinde dadurch verbirgt, als auch sie zur Deckung und Erleichterung seines Rückzuges benutzt.
     Es ist indessen hier nur die Rede von Wäldern ebener Gegenden, denn wo der entschiedene Gebirgscharakter eintritt, wird auch sein Einfluß auf die taktischen und strategischen Maßregeln vorherrschend, und davon haben wir anderswo gesprochen.
     Unwegsame Wälder aber, d. h. solche, die nur auf bestimmten Straßen durchzogen werden können, bieten allerdings einer mittelbaren Verteidigung ähnliche Vorteile dar, wie die sind, welche sie aus Gebirgen zur günstigen Einleitung einer Schlacht zieht; das Heer kann hinter dem Walde in mehr oder weniger vereinigter Stellung den Feind erwarten, um ihn in dem Augenblick anzufallen, wo er aus den Straßenengen hervortritt. Ein solcher Wald gleicht in seiner Wirkung mehr einem Gebirge als einem Strom; denn er hat einen sehr langen und beschwerlichen Durchgang, ist aber in Beziehung auf den Rückzug eher vorteilhaft als gefährlich.
     Eine unmittelbare Verteidigung der Wälder aber, wenn sie auch noch so unwegsam sind, ist selbst für die leichteste Vorpostenkette ein gewagtes Stück Arbeit; denn Verhaue sind nur eingebildete Schranken, und kein Wald ist so unwegsam, daß man nicht an hundert Stellen mit kleinen Abteilungen durchkönnte, und diese gleichen bei einer Verteidigungskette den ersten Wassertropfen, welche durch einen Deich sintern, und denen bald ein allgemeiner Durchbruch nachfolgt.
     Unendlich wichtiger ist der Einfluß der großen Wälder jeder Art, den sie bei der Volksbewaffnung haben; unstreitig sind sie das rechte Element derselben; kann also der strategische Verteidigungsplan so eingerichtet werden, daß des Feindes Verbindungslinien durch große Wälder laufen, so ist dadurch ein mächtiger Hebel in dem Verteidigungswerk mehr angebracht.

 
     Zweiundzwanzigstes Kapitel:
     Der Kordon


     Der Name des Kordons wird jeder Verteidigungsanstalt gegeben, welche durch eine Reihe aneinanderhängender Posten einen ganzen Landstrich unmittelbar schützen will. Wir sagen unmittelbar, denn mehrere nebeneinander aufgestellte Korps eines großen Heeres könnten einen bedeutenden Landstrich vor dem feindlichen Eindringen schützen, ohne einen Kordon zu bilden; dann würde dieser Schutz aber nicht unmittelbar, sondern durch die Wirkung von Kombinationen und Bewegungen stattfinden.
     Daß eine so lange Verteidigungslinie, wie die sein muß, die einen bedeutenden Landstrich unmittelbar decken soll, nur einen sehr geringen Grad der Widerstandsfähigkeit haben kann, springt in die Augen. Selbst bei den größten Truppenmassen würde dies der Fall sein, wenn ähnliche Truppenmassen dagegen wirkten. Die Absicht eines Kordons kann also nur sein, gegen einen schwachen Stoß zu schützen, sei es daß die Willenskraft schwach ist, oder die Streitkraft, mit der der Stoß erfolgen kann, klein.
     In diesem Sinn ist die chinesische Mauer errichtet, ein Schutz gegen die Streifereien der Tataren. Diese Bedeutung haben alle Linien- und Grenzverteidigungsanstalten der mit Asien und der Türkei in Berührung stehenden europäischen Staaten. Bei dieser Anwendung hat ein Kordon weder etwas Widersinniges, noch erscheint er unzweckmäßig. Freilich wird dadurch nicht jede Streiferei abgehalten werden können; aber sie werden doch erschwert und folglich seltener, und bei Verhältnissen wie die mit asiatischen Völkern, wo der Kriegszustand fast nie aufhört, ist das sehr wichtig.
     Dieser Bedeutung eines Kordons am nächsten kommen die Linien, welche in den neuen Kriegen auch zwischen europäischen Staaten entstanden sind, wie die französischen am Rhein und in den Niederlanden. Sie sind im Grunde nur errichtet, um das Land gegen solche Angriffe zu schützen, die bloß darauf abgesehen sind, Kontributionen einzutreiben und auf Unkosten des Gegners zu leben. Sie sollen also nur Nebenunternehmungen abhalten, und folglich nur mit einer untergeordneten Macht. Aber freilich wird in den Fällen, wo die feindliche Hauptmacht die Richtung gegen diese Linie nimmt, auch der Verteidiger genötigt sein, sie mit seiner Hauptmacht zu besetzen, woraus denn nicht die besten Verteidigungsanstalten entspringen. Um dieses Nachteiles willen, und weil der Schutz gegen Streifereien in einem vorübergehenden Kriege ein Zweck von sehr untergeordneter Wichtigkeit ist, für den durch das Dasein solcher Linien leicht ein zu großer Kraftaufwand abgezwungen werden kann, sind sie in unseren Tagen als eine schädliche Maßregel angesehen worden. Je stärker die Kraft ist, mit welcher der Krieg tobt, um so unnützer und gefährlicher ist dieses Mittel.
     Endlich sind noch alle sehr ausgedehnten Vorpostenlinien, welche die Quartiere eines Heeres decken und dazu einen gewissen Widerstand leisten sollen, als wahre Kordons zu betrachten.
     Dieser Widerstand ist hauptsächlich gegen Streifereien und andere kleine, gegen die Sicherheit einzelner Quartiere gerichtete Unternehmungen bestimmt, und dazu kann er, wenn die Gegend die Hand bietet, hinreichende Stärke gewinnen. Gegen die anrückende Hauptmacht des Feindes kann es nur ein relativer, d. h. auf Zeitgewinn berechneter Widerstand sein; aber auch dieser Zeitgewinn wird in den meisten Fällen nicht sehr beträchtlich sein und also auch weniger als der Zweck des Vorpostenkordons angesehen werden können. Das Versammeln und Anrücken des feindlichen Heeres selbst kann niemals so unbemerkt geschehen, daß der Verteidiger erst durch seine Vorposten davon Nachricht erhielte, und er würde in einem solchen Fall sehr zu bedauern sein.
     Es ist also auch in diesem Fall der Kordon nur gegen den Angriff einer schwachen Kraft bestimmt, und insoweit hat er wie in den anderen beiden Fällen nichts Widersprechendes.
     Daß aber die zur Verteidigung eines Landes bestimmte Hauptmacht gegen die feindliche Hauptmacht sich in eine lange Reihe von Defensivposten, also in einen Kordon auflöst, scheint so widersinnig zu sein, daß man sich nach den näheren Umständen umsehen muß, welche dieses Vorkommen begleiten und motivieren.
     Jede Stellung im Gebirgsboden, wenn sie auch in der Absicht einer Schlacht mit ganz vereinigter Macht genommen ist, kann und muß notwendig ausgedehnter sein wie in der Ebene. Sie kann es, weil der Beistand des Bodens die Widerstandsfähigkeit sehr erhöht, sie muß es, weil man eine breitere Rückzugsbasis braucht, wie wir das in dem Kapitel von der Gebirgsverteidigung schon gezeigt haben. Ist aber die Aussicht zu einer Schlacht nicht nahe, ist es wahrscheinlich, daß der Gegner uns geraume Zeit gegenüber bleiben wird, ohne etwas anderes zu unternehmen, als wozu sich ihm gerade eine vorteilhafte Gelegenheit darbietet, ein Zustand, der in den meisten Kriegen der gewöhnliche war, so ist es auch natürlich, sich in betreff der Gegend nicht auf den notwendigsten Besitz zu beschränken, sondern Herr zu bleiben von so viel Land rechts und links, als es die Sicherheit unseres Heeres uns gestattet, woraus, wie wir das noch näher angeben werden, mancherlei Vorteile für uns entspringen. In einer offenen und zugänglichen Gegend kann dies durch das Prinzip der Bewegung in einem höheren Grade erreicht werden als im Gebirge, daher ist die Ausdehnung und Zersplitterung der Streitkraft dort zu diesem Zweck weniger notwendig; sie würde aber auch viel gefährlicher sein, weil jeder Teil weniger Widerstandsfähigkeit hat.
     Im Gebirge aber, wo aller Besitz der Gegend mehr von ihrer örtlichen Verteidigung abhängt, wo man nicht so schnell nach einem bedrohten Punkt hinkommen kann, und wo man, wenn der Feind ihn früher erreicht hat, diesen nicht so leicht wieder durch einige Überlegenheit vertreiben kann, - im Gebirge wird man unter solchen Umständen immer zu einer solchen Aufstellung kommen, die, wenn sie auch nicht ein eigentlicher Kordon wird, doch als eine Reihe von Verteidigungsposten demselben näher kommt. Von einer solchen, in mehrere Posten aufgelösten Aufstellung bis zum Kordon ist freilich noch ein großer Schritt, aber die Feldherren tun ihn nichtsdestoweniger oft, ohne es selbst zu wissen, weil sie von einer Stufe zur anderen fortgezogen werden. Anfangs ist die Deckung und der Besitz des Landes der Zweck der Teilung, später wird es die Sicherheit der Streitkraft selbst. Jeder Befehlshaber eines Postens berechnet den Vorteil, welcher ihm aus der Besetzung dieses oder jenes Zugangspunktes entspringen würde, der rechts oder links neben seinem Posten liegt, und so kommt das Ganze unmerklich von einer Stufe der Teilung zu anderen.
     Ein Kordonkrieg mit der Hauptmacht ist also, wenn er entsteht, nicht als eine absichtlich gewählte Form zu betrachten, jeden Stoß der feindlichen Kräfte aufzuhalten, sondern als eine Lage, in welche man durch die Verfolgung eines ganz anderen Zieles hineingeraten ist, nämlich durch die Behauptung und Deckung des Landes gegen einen Feind, der keine Hauptunternehmung beabsichtigt. Immer bleibt eine solche Lage ein Fehler, und die Gründe, die dem Feldherrn nach und nach einen kleinen Posten nach dem anderen abgelockt haben, sind in Beziehung auf den Zweck einer Hauptmacht kleinlich zu nennen; allein diese Ansicht zeigt wenigstens die Möglichkeit einer solchen Verirrung. Daß es eine solche Verirrung, nämlich ein Verkennen des Gegners und der eigenen Lage ist, übersieht man und spricht nur von dem fehlerhaften System. Man läßt aber dies System stillschweigend gelten da, wo es mit Vorteil oder wenigstens ohne Schaden befolgt worden ist. Jedermann rühmt die fehlerfreien Feldzüge des Prinzen Heinrich im Siebenjährigen Kriege, weil der König sie so benannt hat, obgleich diese Feldzüge die allerstärksten und unbegreiflichsten Beispiele von so ausgedehnter Postenstellung enthalten, daß sie den Namen eines Kordons so sehr verdienen wie irgend andere. Man kann diese Stellungen vollkommen rechtfertigen, wenn man sagt: der Prinz kannte seine Gegner, er wußte, daß er keine entscheidende Unternehmungen zu fürchten hatte, und da übrigens der Zweck seiner Aufstellung war, immer einen so großen Landstrich als möglich innezuhaben, so ging er so weit, wie die Umstände nur irgend gestatten wollten. Wäre der Prinz in einem solchen Spinngewebe einmal verunglückt und zu einem tüchtigen Verlust gekommen, so hätte man sagen müssen, nicht daß der Prinz ein fehlerhaftes Kriegssystem befolgte, sondern daß er sich in seiner Maßregel vergriffen, sie auf einen ungeeigneten Fall angewendet hatte.
     Wenn wir uns auf diese Weise bemühen, begreiflich zu machen, wie ein sogenanntes Kordonsystem bei der Hauptmacht des Kriegstheaters entstehen, ja wie es vernünftig und nützlich sein kann, also dann nicht mehr als eine Absurdität erscheint, so wollen wir nur zugleich bekennen, daß es wirklich Fälle gegeben zu haben scheint, wo die Feldherren oder ihr Generalstab die eigentliche Bedeutung eines Kordonsystems übersehen, seinen relativen Wert für einen allgemeinen gehalten und es wirklich zur Deckung gegen jeden feindlichen Angriff geeignet geglaubt haben; wo also keine Verwechslung der Maßregel, sondern ein vollkommenes Mißverstehen derselben stattgefunden hat. Wir wollen es gestehen, daß diese wahre Absurdität unter anderen dagewesen zu sein scheint in der Verteidigung der Vogesen durch das preußische und österreichische Heer 1793 und 1794.

 
     Dreiundzwanzigstes Kapitel:
     Schlüssel des Landes


     Es gibt in der Kriegskunst keine theoretische Vorstellung, welche in der Kritik eine solche Rolle gespielt hat als diejenige ist, mit welcher wir uns hier beschäftigen. Sie ist das Paradepferd aller Schlacht- und Feldzugsbeschreibungen, der häufigste Standpunkt alles Räsonnements und eines von jenen Fragmenten wissenschaftlicher Form, womit die Kritik sich viel weiß. Und doch steht der damit verbundene Begriff weder fest, noch ist er je deutlich ausgesprochen.
     Wir wollen versuchen, ihn deutlich zu entwickeln, und sehen, welchen Wert er für das praktische Handeln denn noch behalten wird.
     Wir geben ihm diese Stelle, weil die Gebirgs- und Flußverteidigung sowie die Begriffe von festen und verschanzten Stellungen, an die er sich zunächst anschließt, vorausgegangen sein mußten.
     Der unbestimmte, verworrene Begriff, welcher sich hinter dieser uralten militärischen Metapher versteckt, hat bald die Gegend bedeutet, wo ein Land am offensten, bald die, wo es am stärksten ist.
     Wenn es eine Gegend gibt, ohne deren Besitz man es nicht wagen darf, in das feindliche Land einzudringen, so wird sie mit Recht der Schlüssel des Landes genannt werden. Allein diese einfache, aber freilich auch nicht sehr fruchtbare Vorstellung hat den Theoretikern nicht genügt, sie haben sie potenziert und sich unter Schlüssel des Landes Punkte gedacht, welche über den Besitz des Ganzen entscheiden
     Wenn die Russen in die Halbinsel der Krim vordringen wollten, so mußten sie sich zum Herrn von Perekop und seiner Linien machen, nicht sowohl um dadurch überhaupt den Eingang zu gewinnen, denn Lacy hat sie 1737 und 1738 zweimal umgangen, sondern um in der Krim sich mit leidlicher Sicherheit festsetzen zu können. Das ist sehr einfach, aber freilich gewinnt man dabei durch den Begriff eines Schlüsselpunktes eben nicht viel. Wenn man aber sagen könnte: wer die Gegend von Langres innehat, der besitzt oder beherrscht ganz Frankreich bis Paris hin, d. h. es hängt dann nur von ihm ab, es in Besitz zu nehmen, so wäre das offenbar etwas ganz anderes, etwas von einer viel höheren Wichtigkeit. Nach der ersten Vorstellungsart kann der Besitz des Landes nicht ohne den Besitz des Punktes, den wir Schlüssel nennen, gedacht werden, das begreift sich mit bloßem gemeinem Verstande; nach der zweiten Vorstellungsart aber kann der Besitz des Punktes, den man Schlüssel nennen will, nicht gedacht werden, ohne daß der Besitz des Landes daraus folgt, das ist offenbar etwas Wunderbares; dazu reicht gemeiner Verstand nicht mehr hin, es ist die Magie geheimer Wissenschaft nötig. Und diese Kabbala hat wirklich vor etwa 50 Jahren in Büchern ihre Entstehung genommen, am Ende des vorigen Jahrhunderts ihren Kulminationspunkt erreicht, und hat trotz der überwältigenden Kraft, Sicherheit und Klarheit, womit die Kriegsgeschichte unter Bonapartes Führung die Überzeugungen fortriß, - wir sagen, jene Kabbala hat demungeachtet ihr zähes Judenleben in den Büchern noch an einem dünnen Faden fortzuspinnen gewußt.
     Daß, wenn wir unseren Begriff des Schlüsselpunktes verlassen wollen, es in jedem Lande auch noch Punkte von vorherrschender Wichtigkeit gibt, in welchen sich viele Straßen vereinigen, in welchen man seine Unterhaltsmittel bequem vereinigen, von welchen aus man bequem hier- oder dorthin sich wenden kann, kurz, durch deren Besitz man mancherlei Bedürfnisse befriedigt, mancherlei Vorteile gewinnt, das versteht sich von selbst. Wenn nun die Feldherren die Wichtigkeit eines solchen Punktes mit einem Worte haben bezeichnen wollen und ihn deshalb Schlüssel des Landes genannt haben, so wäre es eine Pedanterie, daran einen Anstoß zu nehmen, vielmehr hat der Ausdruck dann viel Bezeichnendes und Gefälliges. Wenn man aber aus dieser Blume des bloßen Stils einen Kern machen will, aus dem sich ein ganzes System mit mannigfaltigen Verzweigungen wie ein Baum entwickeln soll, so fordert man den gesunden Menschenverstand heraus, den Ausdruck auf seinen wahren Wert zurückzuführen.
     Von der praktischen, aber freilich sehr unbestimmten Bedeutung, welche der Begriff eines Schlüssels des Landes in den Erzählungen der Feldherren hat, wenn sie von ihren Kriegsunternehmungen sprechen, mußte man zu einer bestimmteren, also einseitigeren übergehen, wenn man ein System daraus entwickeln wollte. Man wählte unter allen Beziehungen die der hohen Gegend.
     Wenn eine Straße einen Gebirgsrücken durchschneidet, so dankt man dem Himmel, wenn man auf dem höchsten Punkt angelangt ist, und es nun an das Hinabsteigen geht. Dies ist schon beim einzelnen Reisenden der Fall, noch mehr bei einem Heere. Alle Schwierigkeiten scheinen überwunden und sind es auch meistens wirklich; das Hinuntersteigen ist ein Leichtes, man fühlt sein Übergewicht über jeden, der es uns verwehren wollte, man übersieht das ganze Land vor sich und beherrscht es mit dem Blick im voraus. So ist stets der höchste Punkt, den eine Straße beim Durchzug eines Gebirges gewinnt, als der entscheidende betrachtet worden; er ist es auch in der Mehrheit der Fälle wirklich, aber er ist es keineswegs in allen. Solche Punkte sind also sehr häufig von den Feldherren in ihren Geschichtserzählungen mit dem Namen von Schlüsselpunkten, freilich wieder in einem etwas anderen Sinn und meistens in beschränkter Beziehung genannt worden. An diese Vorstellung hat die falsche Theorie, als deren Gründer vielleicht Lloyd zu betrachten ist, vorzugsweise angeknüpft und deshalb diejenigen hohen Punkte, von welchen mehrere Straßen in das zu betretende Land hinabsteigen, als die Schlüsselpunkte dieses Landes angesehen, als Punkte, welche das Land beherrschen. Es war natürlich, daß diese Vorstellungsart mit einer ihr nahe verwandten, nämlich mit der einer systematischen Gebirgsverteidigung zusammenfloß, und daß die Sache dadurch noch weiter in das Illusorische hineingetrieben wurde; denn nun kamen noch eine Menge taktischer Elemente, auf welche es bei der Gebirgsverteidigung ankommt, ins Spiel, und so wurde denn bald der Begriff des höchsten Straßenpunktes verlassen und überhaupt der höchste Punkt des ganzen Gebirgssystems, also der Wasserteilungspunkt, für den Schlüssel des Landes angesehen.
     Da nun um jene Zeit, nämlich in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, gerade bestimmtere Vorstellungen über die Bildung der Erdoberfläche durch den Spülungsprozeß verbreitet wurden, so bot die Naturwissenschaft in diesem geologischen System der Kriegsgeschichte die Hand, und nun war jeder Damm praktischer Wahrheit durchbrochen, und alles Räsonnement schwamm in dem illusorischen System einer geologischen Analogie. Daher hörte man am Ende des achtzehnten Jahrhunderts oder vielmehr man las von nichts als der Quelle des Rheins und der Donau. Freilich hat dieser Unfug meistens nur in Büchern geherrscht, wie denn immer nur ein kleiner Teil von der Bücherweisheit in die wirkliche Welt übergeht, und zwar um so weniger, je törichter sich die Theorie beträgt; allein die, von welcher wir sprechen, ist zum Schaden Deutschlands nicht ohne Einfluß auf das Handeln geblieben, wir kämpfen also nicht mit Windmühlen, und um dies zu beweisen, wollen wir an zwei Begebenheiten erinnern: erstens an die wichtigen, aber sehr gelehrten Feldzüge des preußischen Heeres 1793 und 1794 in den Vogesen, wozu die Bücher Grawerts und Massenbachs den theoretischen Schlüssel geben; zweitens an den Feldzug von 1814, wo ein Heer von 200000 Mann sich am Narrenseil dieser Theorie durch die Schweiz nach Langres führen ließ.
     Ein hoher Punkt einer Gegend, von dem alle Wasser abfließen, ist aber meistens nichts als ein hoher Punkt, und alles, was man von seinem Einfluß auf die kriegerischen Ereignisse in Übertreibung und falscher Anwendung an sich wahrer Vorstellungen am Ende des achtzehnten und Anfange des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben hat, ist völlig phantastisch. Wenn Rhein und Donau und alle sechs Ströme Deutschlands einen Berg mit ihrem gemeinschaftlichen Ursprung ehren wollten, so würde er darum doch auf keine größere militärische Auszeichnung Anspruch haben, als etwa ein trigonometrisches Signal auf ihm zu errichten. Zu einem Fanal würde er schon weniger tauglich sein, für eine Vedette noch weniger und für ein Heer ganz und gar nicht.
     Die Schlüsselstellung des Landes also in der sogenannten Schlüsselgegend, nämlich da zu suchen, wo die verschiedenen Gebirgsarme von einem gemeinschaftlichen Punkt ausgehen und die höchsten Quellen liegen, ist eine bloße Bücheridee, welcher schon die Natur selbst entgegensteht, die die Rücken und Täler von oben herab nicht so zugänglich macht wie die bisherige sogenannte Terrainlehre, sondern Kuppen und Einschnitte nach Gefallen ausstreut, und die nicht selten den niedrigsten Wasserspiegel mit den höchsten Massen umgibt. Wenn man die Kriegsgeschichte hierüber befragt, so wird man sich überzeugen, wie wenig regelmäßigen Einfluß die geologischen Schlußpunkte einer Gegend auf den kriegerischen Gebrauch derselben haben, und wie sehr andere Örtlichkeiten und andere Bedürfnisse überwiegen, so daß die Stellungslinien oft ganz an jenem Punkte hinlaufen und doch nicht von ihm angezogen werden.
     Wir verlassen diese falsche Vorstellung, bei der wir nur so lange verweilt haben, weil sich ein ganzes vornehmes System daran geknüpft hat, und kehren zu unserer Ansicht zurück.
     Wir sagen also: wenn der Ausdruck Schlüsselstellung in der Strategie einem selbständigen Begriff entsprechen soll, so kann es nur der einer Gegend sein, ohne deren Besitz man nicht wagen darf, in ein Land einzudringen. Will man aber damit auch jeden bequemen Eingang in ein Land oder jeden bequemen Zentralpunkt in demselben bezeichnen, so verliert die Benennung ihren eigentümlichen Begriff, d. h. ihren Wert und bezeichnet etwas, was sich mehr oder weniger überall finden muß; sie wird dann bloß eine gefällige Redefigur.
     Jene Stellungen aber, welche wir uns dabei denken, sind dann freilich selten genug zu finden. Meistens liegt der beste Schlüssel zum Lande im feindlichen Heer, und wo der Begriff der Gegend über den Begriff der Streitkraft vorherrschen soll, müssen schon besonders günstige Bedingungen obwalten, und diese lassen sich nach unserer Meinung in zwei Hauptwirkungen erkennen: erstens, daß die darin aufgestellte Streitkraft durch den Beistand des Bodens eines starken taktischen Widerstandes fähig sei; zweitens, daß die Stellung früher die Verbindungslinie des Feindes wirksam bedrohe, als die eigene von ihm bedroht wird.

 
     Vierundzwanzigstes Kapitel:
     Flankenwirkung


     Wir brauchen wohl kaum zu bemerken, daß wir von der strategischen Flanke, d. h. der Seite des Kriegstheaters sprechen, und daß der Anfall von der Seite in der Schlacht, also die taktische Flankenwirkung, damit gar nicht in Beziehung steht und selbst in den Fällen, wo die strategische Flankenwirkung in ihrer letzten Erledigung mit einer taktischen zusammenfiele, ganz füglich davon getrennt werden kann, weil niemals die eine notwendig aus der anderen folgt.
     Diese Flankenwirkungen und die dahin gehörigen Flankenstellungen gehören auch zu den Paradepferden der Theorie, die man im Kriege nur selten gewahr wird. Nicht daß das Mittel selbst unwirksam oder illusorisch wäre, sondern weil beide Teile sich gewöhnlich gegen die Wirkungen desselben zu verwahren suchen, die Fälle aber, wo dies nicht unmöglich wäre, nur zu den seltenen gehören. In diesen seltenen nun hat denn jenes Mittel auch oft eine große Wirksamkeit gezeigt, und wegen dieser sowie eben wegen jener beständigen Rücksicht, die es im Kriege hervorruft, ist es wichtig, in der Theorie eine deutliche Vorstellung davon zu geben. Obgleich die strategische Flankenwirkung natürlich nicht bloß bei der Verteidigung, sondern auch beim Angriff denkbar ist, so ist sie doch der ersteren viel analoger und findet deshalb ihren Platz unter den Verteidigungsmitteln.
     Ehe wir in die Sache eingehen, müssen wir den einfachen Grundsatz aufstellen und dann bei der Betrachtung nie aus dem Auge verlieren, daß Kräfte, die im Rücken und in der Seite des Feindes wirken sollen, nicht vorn gegen ihn wirken können; daß es also eine ganze falsche Vorstellungsart ist, wenn man, sei es in der Taktik oder in der Strategie, das in den Rücken Kommen schon an sich für etwas hält. An sich ist dies noch nichts, sondern es wird erst etwas in Beziehung zu anderen Dingen, und zwar entweder etwas Vorteilhaftes oder auch etwas Nachteiliges, je nachdem diese anderen Dinge sind, auf deren Untersuchung es uns nun vorzüglich ankommt.
     Zuerst müssen wir bei der Wirkung gegen die strategische Seite zwei Gegenstände derselben unterscheiden, nämlich die Wirkung auf die bloße Verbindungslinie von der Wirkung auf die Rückzugslinie, womit denn auch eine Wirkung auf die Verbindungslinie verbunden sein kann.
     Als Daun 1758 Streifkorps absandte, um die zur Belagerung von Olmütz gehenden Zufuhren aufzuheben, wollte er dem Könige offenbar den Rückzug nach Schlesien nicht verlegen, er wollte ihn vielmehr veranlassen und würde ihm den Weg gern geöffnet haben.
     Im Feldzuge von 1812 hatten alle Streifkorps, welche im Monat September und Oktober von dem russischen Hauptheer abgingen, nur die Absicht, die Verbindung zu unterbrechen, nicht den Rückzug zu verlegen; diese letztere war aber ganz offenbar die Absicht der Moldauarmee, welche unter Tschitschagow gegen die Beresina vorrückte, sowie des Angriffs, welcher dem General Wittgenstein gegen die an der Düna stehenden französischen Korps aufgetragen wurde.
     Diese Beispiele bloß zur Klarheit der Vorstellungen.
     Die Wirkung auf die Verbindungslinien ist gegen die feindlichen Zufuhren, gegen nachrückende kleine Haufen, gegen Kuriere und Reisende, gegen kleine feindliche Depots usw. gerichtet, also gegen lauter Gegenstände, die zum kräftigen und gesunden Bestehen des feindlichen Heeres nötig sind; sie soll also den Zustand dieses Heeres auf diese Weise schwächen und dasselbe dadurch zum Rückzug veranlassen.
     Die Wirkung auf die feindliche Rückzugslinie soll dem feindlichen Heer diesen Rückzug abschneiden, sie kann diesen Zweck nur erreichen, wenn der Gegner den Rückzug wirklich beschließt; aber freilich kann sie ihn dadurch, daß sie ihn bedroht, auch veranlassen und also, indem sie als Demonstration wirkt, denselben Erfolg haben wie die Wirkung auf die Verbindungslinie. Alle diese Wirkungen aber können, wie schon gesagt, nicht von dem bloßen Umgehen, nicht von der bloßen geometrischen Form in der Aufstellung der Streitkräfte, sondern nur von den dazu passenden Bedingungen erwartet werden.
     Um diese Bedingungen deutlicher einzusehen, wollen wir beide Flankenwirkungen ganz trennen und zuerst die auf die Verbindungslinien gerichtete betrachten.
     Hier müssen wir zuerst zwei Hauptbedingungen aufstellen, wovon entweder die eine oder die andere vorhanden sein muß.
     Die erste ist: daß zu dieser Wirkung auf die feindliche Verbindungslinie Streitkräfte genügen, die so unbedeutend sind, daß sie in der Fronte kaum vermißt werden; die zweite: daß das feindliche Heer sich am Ende seiner Bahn befinde und also von einem neuen Sieg über das unserige keinen Gebrauch mehr machen oder demselben, wenn es ausweicht, nicht mehr folgen könne.
     Diesen letzteren Fall, welcher keineswegs so selten ist, wie es scheinen möchte, lassen wir vorderhand liegen und beschäftigen uns mit den weiteren Bedingungen des ersten.
     Die nächste dieser Bedingungen ist, daß die feindliche Verbindungslinie eine gewisse Länge habe und nicht mehr durch ein paar gute Posten gedeckt werden könne; die zweite, daß sie durch ihre Lage unserer Einwirkung bloßgestellt sei.
     Diese Bloßstellung kann von einer doppelten Art sein: entweder durch die Richtung, wenn diese nicht senkrecht auf die Aufstellungsfronte des feindlichen Heeres trifft, oder dadurch, daß die Verbindungslinien durch unser Land gehen; vereinigen sich beide Verhältnisse, so wird die Bloßstellung um so größer. Beide Verhältnisse bedürfen einer näheren Auseinandersetzung.
     Man sollte glauben, daß, wenn von Deckungen einer 40 oder 50 Meilen langen Verbindungslinie die Rede ist, wenig darauf ankomme, ob das am Ende dieser Linie stehende Heer schief oder senkrecht auf diese Linie stehe, da seine Ausdehnung gegen die Linie fast nur als ein Punkt erscheint, und doch ist dies anders. Selbst bei bedeutender Überlegenheit ist es schwer, in einem solchen Fall die feindliche Verbindungslinie durch Streifereien, die vom Heer ausgehen, zu unterbrechen. Wenn man nur an die Schwierigkeit denkt, einen gewissen Raum absolut zu decken, so sollte man dies nicht glauben, sondern meinen, es müsse im Gegenteil einem Heer schwer werden, seinen Rücken, d. h. die Gegend hinter sich, gegen alle Haufen zu decken, die ein überlegener Feind absenden kann. Allerdings, wenn man im Kriege alles übersähe wie auf dem Papier! Alsdann würde der Deckende in seiner Unwissenheit, auf welchen Punkten die Streifer erscheinen werden, gewissermaßen blind sein und die Parteigänger allein sehend. Aber wenn man an die Unsicherheit und Unvollständigkeit aller Nachrichten denkt, die man im Kriege hat, und weiß, daß beide Teile unaufhörlich im Finstern tappen, so sieht man wohl, daß die Streifpartei, welche um die Flügel eines feindlichen Heeres herum in seinen Rücken gesendet worden ist, sich in dem Falle eines Menschen befindet, der in einem dunkeln Zimmer es mit vielen zu tun hat. Auf die Dauer muß er zugrunde gehen; so also auch die Haufen, die das feindliche Heer in einer senkrechten Stellung umgehen, sich also in seiner Nähe und von dem eigenen ganz getrennt befinden. Nicht genug, daß man in Gefahr ist, auf diese Weise viel Kräfte zu verlieren, sondern das Instrument selbst wird sich augenblicklich abstumpfen, das erste unglückliche Schicksal eines einzigen solchen Haufens wird alle anderen verzagt machen, und anstatt eines kühnen Anfalls und dreisten Neckens wird man nur das Schauspiel des beständigen Ausreißens haben.
     Durch diese Schwierigkeit deckt also die gerade Aufstellung eines Heeres die nächsten Punkte seiner Verbindungslinien, und zwar nach der Stärke des Heeres auf zwei bis drei Märsche; diese nächsten Punkte aber sind die am meisten bedrohten, weil sie auch dem feindlichen Heer am nächsten liegen.
     Dagegen ist bei einer merklich schiefen Aufstellung kein solcher Teil der Verbindungslinie gesichert, der kleinste Druck, der gefahrloseste Versuch von seiten des Gegners führt sogleich auf einen empfindlichen Punkt.
     Was bestimmt nun aber die Fronte einer Aufstellung, wenn es nicht eben die senkrechte Richtung auf die Verbindungslinie ist? Die Fronte des Gegners; aber diese kann ebensogut gedacht werden als abhängig von unserer Fronte. Hier tritt eine Wechselwirkung ein, deren Anfangspunkt wir suchen müssen.

     Denken wir uns die Verbindungslinie des Angreifenden a b gegen die des Verteidigers c d so gelegen, daß sie einen beträchtlichen Winkel mit ihr macht, so ist klar, daß, wenn der Verteidiger seine Aufstellung in a nehmen wollte, wo beide Linien zusammentreffen, der Angreifende von b aus ihn durch das bloße geometrische Verhältnis zwingen könnte, Fronte gegen ihn zu machen und folglich seine Verbindungslinie bloßzugeben. Umgekehrt würde es sein, wenn der Verteidiger seine Aufstellung diesseits des Vereinigungspunktes, etwa in d, nehme; dann würde der Angreifende Fronte gegen ihn machen müssen, vorausgesetzt, daß er die Lage seiner Unternehmungslinie, die durch geographische Gegenstände näher bestimmt ist, nicht willkürlich verändern und sie zum Beispiel wie a d ziehen könne. Hieraus würde hervorgehen, daß der Verteidiger in diesem System der Wechselwirkung einen Vorteil voraus hätte, weil er seine Stellung nur diesseits des Zusammentreffens beider Linien zu nehmen braucht. Allein weit entfernt, auf dieses geometrische Element eine große Wichtigkeit zu legen, führen wir die Betrachtung bloß darauf zurück, um vollkommen klar zu sein, und sind vielmehr überzeugt, daß örtliche und überhaupt individuelle Verhältnisse die Aufstellung des Verteidigers viel stärker bedingen werden, und daß sich also durchaus nicht allgemein angeben läßt, wer von beiden Teilen in dem Fall sein wird, seine Verbindungslinie mehr bloßzugeben.
     Liegen die gegenseitigen Verbindungslinien in einer und derselben Richtung, so wird allerdings derjenige von beiden Teilen, welcher eine schiefe Aufstellung dagegen nimmt, den anderen zwingen, ein Gleiches zu tun, dann aber ist geometrisch nichts dabei gewonnen, und beide Teile kommen in dieselben Vorteile und Nachteile.
     Wir halten uns also für unsere weitere Betrachtung nur an das Faktum einer einseitig bloßgestellten Verbindungslinie.
     Was nun das zweite nachteilige Verhältnis einer Verbindungslinie betrifft, wenn sie nämlich durch feindliches Land läuft, so ist es an sich klar, in welchem Grade sie dadurch bloßgestellt ist, wenn die Einwohner dieses Landes zu den Waffen gegriffen haben, und folglich die Sache so angesehen werden muß, als wenn längs der ganzen Linie hin eine feindliche Macht aufmarschiert wäre; diese Macht ist zwar an sich sehr schwach, ohne Dichtigkeit und intensive Stärke, aber man bedenke, was nichtsdestoweniger eine solche feindliche Berührung und Einwirkung durch die Menge der Punkte sagen will, die sich auf einer beträchtlichen Verbindungslinie einer neben dem anderen befinden. Das bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung. Aber auch dann, wenn die feindlichen Untertanen nicht zu den Waffen gegriffen haben, und selbst wenn in dem Lande keine Landwehren und andere Vorzüge kriegerischer Einrichtungen stattfinden, ja wenn auch das Volk von sehr unkriegerischem Geiste ist, bleibt immer das bloße Untertanenverhältnis zur feindlichen Regierung ein für die Verbindungslinie des anderen Teiles sehr fühlbarer Nachteil. Der Beistand, welchen ein streifender Haufe durch bloße leichtere Verständigung mit den Einwohnern, durch Bekanntschaft mit der Gegend und den Menschen, durch Nachrichten, durch Unterstützung der Behörden genießt, ist für sein kleines Verhältnis von entscheidendem Wert, und dieser Beistand wird ohne besondere Kraftanstrengung einem jeden solcher Haufen zuteil. Dazu kommt, daß es in einer gewissen Entfernung doch niemals an Festungen, Strömen, Gebirgen oder anderen Zufluchtsorten fehlen wird, die dem Gegner immer angehören, sooft wir sie nicht förmlich in Besitz genommen und mit Besatzungen versehen haben.
     In einem solchen Fall nun, besonders wenn ihn andere günstige Umstände begleiten, ist die Wirkung auf die feindliche Verbindungslinie auch dann möglich, wenn ihre Richtung senkrecht auf die feindliche Aufstellung ist, denn unsere Streifer brauchen dann nicht immer zum Heer zurückzukehren, sondern sie können in dem bloßen Ausweichen ins eigene Land hinein hinreichenden Schutz linden.
     Wir haben also jetzt:
     1. eine beträchtliche Länge,
     2. eine schiefe Lage und
     3. feindliches Gebiet
     als die Hauptumstände kennengelernt, unter welchen die Verbindungslinien eines Heeres durch verhältnismäßig geringe Streitkräfte des Feindes unterbrochen werden können; daß diese Unterbrechung wirksam sei, erfordert noch eine vierte Bedingung, nämlich eine gewisse Dauer. Wegen dieses Punktes berufen wir uns auf das, was wir im fünfzehnten Kapitel des fünften Buches darüber gesagt haben.
     Aber diese vier Bedingungen sind nur die Hauptverhältnisse, welche den Gegenstand umfassen; es knüpfen sich daran eine Menge örtlicher und individueller Umstände, die oft sehr viel wichtiger und durchgreifender werden als die Hauptverhältnisse selbst. Um nur an die vornehmsten zu erinnern, so nennen wir: die Beschaffenheit der Straßen, die Natur der Gegend, durch welche sie führen, die Deckungsmittel von Strömen, Gebirgen, Morästen, die sie haben können, die Jahreszeit und Witterung, die Wichtigkeit einzelner Zufuhren wie eines Belagerungstrains, die Zahl leichter Truppen usw. usw.
     Von allen diesen Umständen also wird der Erfolg abhängen, mit welchem ein Feldherr auf die Verbindungslinie seines Gegners wirken kann, und indem man das Resultat aller dieser Umstände bei dem einen mit dem Resultat derselben Umstände bei dem anderen vergleicht, kommt man auf das Verhältnis beider Verbindungssysteme, und von diesem Verhältnis wird es abhängen, welcher von beiden Feldherren den anderen in diesem Punkt überbieten kann.
     Was sich hier in der Entwicklung so weitläuftig ausnimmt, entscheidet sich im konkreten Fall oft auf den ersten Blick: aber es ist doch der Takt eines geübten Urteils dazu nötig, und man muß an alle die hier entwickelten Fälle einmal gedacht haben, um sich bewußt zu sein, wie die gewöhnliche Torheit der kritischen Schriftsteller beantwortet werden kann, wenn sie glauben, mit dem bloßen Wort der Umgehung und Flankenwirkung ohne nähere Motive etwas ausgemacht zu haben.
     Wir kommen jetzt zur zweiten Hauptbedingung, unter welcher die strategische Flankenwirkung stattfinden kann.
     Ist das feindliche Heer am weiteren Vordringen gehindert durch irgendeinen anderen Grund als den Widerstand unseres Heeres, sei dieser Grund welcher er wolle, so darf unser Heer auch nicht mehr scheuen, sich durch beträchtliche Entsendungen zu schwächen; denn wollte das feindliche uns auch wirklich dafür durch einen Angriff bestrafen, so dürften wir nur ausweichen. Dies war der Fall des russischen Hauptheeres im Jahr 1812 bei Moskau. Es sind aber gar nicht so große Dimensionen und Verhältnisse nötig, wie in diesem Feldzug stattfanden, um einen solchen Fall hervorzubringen. Friedrich der Große war an der Grenze Böhmens oder Mährens in den ersten Schlesischen Kriegen jedesmal in diesem Fall, und es lassen sich in dem zusammengesetzten Verhältnis der Feldherren und ihrer Heere eine Menge der verschiedenartigsten namentlich politischer Ursachen denken, die das Weitergehen unmöglich machen.
     Da in diesem Falle die auf die Flankenwirkung verwendeten Streitkräfte beträchtlicher sein können, so brauchen die übrigen Bedingungen weniger günstig zu sein; selbst das Verhältnis unseres Verbindungssystems zu dem feindlichen braucht nicht zu unserem Vorteil zu sein, da der Feind, der von unserem weiteren Rückzug keinen sonderlichen Gebrauch machen kann, nicht leicht das Vergeltungsrecht üben, sondern mehr auf die unmittelbare Deckung des eigenen bedacht sein wird.
     Eine solche Lage ist also sehr geeignet, um diejenige Wirkung, die man in einer Schlacht nicht suchen will, weil man diese für zu gewagt hält, durch ein Mittel zu erreichen, welches weniger glänzend und erfolgreich als ein Sieg, aber auch weniger gefährlich ist.
     Da in solchem Fall eine Seitenstellung, wodurch die eigenen Verbindungen bloßgestellt werden, weniger Bedenken hat, und dadurch eine schiefe Aufstellung des Gegners gegen seine Verbindungslinien jedesmal erhalten werden kann, so wird diese eine der oben aufgestellten Bedingungen nicht leicht fehlen. Je mehr die übrigen und andere günstige Umstände mitwirken, um so eher wird man sich von dem Mittel einen glücklichen Erfolg versprechen können; je weniger aber solche begünstigende Umstände vorhanden sind, um so mehr wird alles auf überlegene Geschicklichkeit in den Kombinationen und auf Schnelligkeit und Sicherheit in der Ausführung ankommen.
     Hier ist das eigentliche Feld des strategischen Manövrierens, wie es im Siebenjährigen Kriege in Schlesien und Sachsen, in den Feldzügen von 1760 und 1762 so vielfältig vorkommt. Wenn ein solches strategisches Manövrieren in den Kriegen von einer schwachen Elementarkraft so häufig vorkommt, so ist es freilich nicht, weil der Fall, daß ein Feldherr sich am Ende seiner Bahn befände, ebenso häufig wäre, sondern weil Mangel an Entschlossenheit, Mut und Unternehmungsgeist, Furcht vor Verantwortlichkeit oft die Stelle wahrer Gegengewichte vertreten, wobei wir nur an Feldmarschall Daun zu erinnern brauchen.
     Wollen wir von unseren Betrachtungen noch ein Hauptresultat zusammenfassen, so wäre es, daß die Flankenwirkung am wirksamsten sein wird:
     1. bei der Verteidigung;
     2. gegen das Ende des Feldzuges;
     3. vorzugsweise beim Rückzug in das Innere des Landes und
     4. in Verbindung mit einer Volksbewaffnung.
     Über die Ausführung dieser Wirkung auf die Verbindungslinien haben wir nur ein paar Worte zu sagen.
     Die Unternehmungen müssen durch gewandte Parteigänger ausgeführt werden, die mit schwachen Haufen und kühnen Märschen und Angriffen auf die feindlichen kleinen Besatzungen, Zufuhren, hin- und herziehenden kleinen Haufen fallen, den Landsturm ermuntern und sich mit ihm zu einzelnen Unternehmungen vereinigen. Sie müssen mehr zahlreich als stark und so organisiert sein, daß die Vereinigung mehrerer zu einem größeren Unternehmen möglich wird und nicht in der Eitelkeit und Willkür der einzelnen Führer ein zu großes Hindernis finde.
     Jetzt haben wir noch von der Wirkung auf die Rückzugslinie zu reden.
     Hier ist es, wo wir den gleich anfangs aufgestellten Grundsatz vorzüglich im Auge haben müssen, daß, was hinten wirken soll, nicht vorn gebraucht werden kann, daß also die Wirkung von hinten oder von der Seite an sich nicht als eine Multiplikation der Kräfte, sondern nur als eine potenzierte Verwendung derselben betrachtet werden muß; potenziert von seiten des Erfolges, aber auch potenziert von seiten der Gefahr. Jeder Widerstand durch das Schwert, der nicht ein gerader und einfacher ist, hat die Tendenz, die Wirkung auf Kosten der Sicherheit zu erhöhen. Eine Wirkung von der Seite, sei es mit vereinigter Macht oder von mehreren Seiten mit getrennter und umfassender Macht, gehört in diese Kategorie.
     Nun ist aber bei dem Abschneiden des Rückzuges, wenn es nicht eine bloße Demonstration, sondern ernstlich gemeint sein soll, eine entscheidende Schlacht oder wenigstens alle Bedingungen zu derselben die eigentliche Lösung, und eben in dieser Lösung werden sich jene beiden Elemente von größerer Entscheidung und größerer Gefahr wiederfinden. Soll sich also ein Feldherr zu dieser Wirkungsart berechtigt halten, so müssen günstige Bedingungen dasselbe motivieren.
     Wir müssen bei dieser Widerstandsart die beiden schon genannten Formen unterscheiden. Die erste ist, wenn der Feldherr mit seinem ganzen Heer den Gegner von hinten angreifen will, entweder von einer Seitenstellung aus, die er zu dem Behuf genommen, oder indem er ihn förmlich umgeht; die zweite, wenn er seine Streitkräfte teilt und durch eine umfassende Stellung mit dem einen Teil den feindlichen Rücken, mit dem anderen die Fronte bedroht.
     Die Steigerung des Erfolges ist in beiden Fällen dieselbe, nämlich: entweder ein wirkliches Abschneiden des Rückzuges und daraus entstehendes Gefangennehmen, oder Zerstreuen eines großes Teiles der feindlichen Streitkraft, oder ein beträchtliches Zurückschnellen der feindlichen Macht, um solcher Gefahr vorzubeugen.
     Die gesteigerte Gefahr aber ist in beiden Fällen eine andere.
     Wenn wir den Feind mit der ganzen Streitkraft umgehen, so liegt die Gefahr in der Bloßstellung des eigenen Rückens, und es kommt also hierbei wieder auf das Verhältnis der gegenseitigen Rückzugslinien an, wie es bei der Wirkung auf die Verbindungslinien in einem ähnlichen Fall auf ihr Verhältnis ankam.
     Nun ist allerdings der Verteidiger, wenn er in seinem eigenen Lande ist, sowohl in seinen Rückzugs- als Verbindungslinien weniger beschränkt als der Angreifende und insofern zu einer strategischen Umgehung mehr befähigt, allein dieses allgemeine Verhältnis greift doch zu wenig durch, um darauf eine wirksame Methode zu bauen; es können also nur die Gesamtverhältnisse der individuellen Fälle entscheiden.
     Nur soviel kann man noch sagen, daß die günstigen sich in weiten Räumen natürlich häufiger finden werden als in kleinen; und bei selbständigen Staaten häufiger als bei schwachen, auf fremde Unterstützung harrenden, deren Heere also vor allen Dingen den Vereinigungspunkt mit dem Hilfsheer im Auge haben müssen; endlich, daß sie am Ende eines Feldzuges, wenn sich die Stoßkraft des Angreifenden erschöpft hat, für den Verteidiger am günstigsten werden: ungefähr wieder auf dieselbe Art, wie es bei dem Verhältnis der Verbindungslinien war.
     Eine solche Flankenstellung, wie die Russen 1812 mit so vielem Vorteil auf der Straße von Moskau nach Kaluga nahmen, als Bonapartes Stoßkraft erschöpft war, würde ihnen beim Anfang des Feldzuges im Lager von Drissa sehr schlecht bekommen sein, wenn sie nicht klug genug gewesen wären, ihren Plan kurz vor dem Torschluß zu ändern.
     Die andere Form der Umgehung und des Abschneidens vermittelst einer Teilung der Macht hat die Gefahr der eigenen Trennung, während der Gegner durch den Vorteil der inneren Linien beisammenbleibt und also imstande ist, den einzelnen Teil mit großer Überlegenheit anzufallen. Sich diesem Nachteil auszusetzen, welcher durch nichts aufgehoben werden kann, dazu kann es nur drei Hauptveranlassungen geben:
     1. die ursprüngliche Verteilung der Kräfte, die eine solche Wirkungsart notwendig macht, wenn man sich nicht großem Zeitverlust unterwerfen will;
     2. eine große physische und moralische Überlegenheit, die zu den entscheidenden Formen berechtigt;
     3. der Mangel an Stoßkraft des Gegners, sobald er sich am Ende seiner Bahn befindet.
     Friedrichs des Großen konzentrisches Eindringen in Böhmen im Jahr 1757 hatte zwar nicht die Absicht, mit dem Angriff in der Fronte einen auf den strategischen Rücken zu verbinden, wenigstens war dies keineswegs eine Hauptsache dabei, wie wir das anderswo etwas mehr entwickeln werden, aber in jedem Fall ist es klar, daß von keiner Vereinigung der Macht in Schlesien oder Sachsen vor dem Einfall die Rede sein konnte, da er dadurch alle Vorteile der Überraschung aufgeopfert haben würde.
     Als die Verbündeten den zweiten Teil des Feldzuges von 1813 anordneten, durften sie bei ihrer großen physischen Überlegenheit schon daran denken, Bonaparte mit der Hauptmacht in der rechten Flanke, nämlich an der Elbe, anzufallen und dadurch das Kriegstheater von der Oder nach der Elbe zu verlegen. Daß es ihnen bei Dresden so schlecht erging, ist nicht diesen allgemeinen, sondern den näheren strategischen und taktischen Anordnungen zuzuschreiben, denn das Machtverhältnis, mit dem sie bei Dresden mit Bonaparte zusammentreffen konnten, war 220000 gegen 130000, welches doch wohl nichts zu wünschen übrig ließ, wenigstens war es bei Leipzig (285:157) wenig günstiger. Freilich hatte Bonaparte für das eigentümliche System einer Verteidigung auf einer Linie seine Macht zu gleichmäßig verteilt (in Schlesien 70000 gegen 90000, in der Mark 70000 gegen 110000), allein in jedem Falle würde es ihm, ohne Schlesien ganz aufzugeben, schwer geworden sein, an der Elbe eine Macht zu versammeln, die gegen die Hauptarmee den entscheidenden Schlag führen konnte. Ebenso konnten die Verbündeten das Heer unter Wrede füglich an den Main vorrücken lassen und damit den Versuch machen, ob Bonaparte der Weg nach Mainz abgeschnitten werden könnte.
     Endlich durften 1812 die Russen ihrem Moldauheer die Bestimmung nach Wolhynien und Litauen geben, um später in dem Rücken des französischen Hauptheeres vorzugehen, weil nichts gewisser war, als daß Moskau der Kulminationspunkt der französischen Unternehmungslinie werden mußte. Für das jenseits Moskau liegende Rußland war in diesem Feldzuge nichts zu fürchten, und das russische Hauptheer hatte also keine Ursache, sich für zu schwach zu halten.
     Dieselbe Form in der Aufstellung der Streitkräfte lag in dem ersten, von dem General Phull herrührenden Verteidigungsplan, wonach das Heer unter Barclay das Lager von Drissa beziehen und das unter Bagration im Rücken des feindlichen Hauptheeres vordringen sollte. Aber welch ein Unterschied in diesen beiden Momenten! Im ersten waren die Franzosen dreimal so stark als die Russen; im zweiten waren die Russen merklich stärker als die Franzosen. Im ersten ist in Bonapartes Hauptheer eine Stoßkraft, die bis Moskau reicht, 80 Meilen über Drissa hinaus; im zweiten kann sie sich nicht einen Marsch mehr von Moskau entfernen; im ersten würde die Rückzugslinie bis an den Njemen nicht über 30 Meilen betragen haben, im zweiten war sie 112. Dasselbe Wirken gegen den feindlichen Rückzug also, das sich in dem zweiten Moment so erfolgreich gezeigt hat, würde in dem ersten die unbesonnenste Torheit gewesen sein.
     Da die Wirkung auf die Rückzugslinie, wenn sie mehr als Demonstration ist, in einem förmlichen Angriff von hinten besteht, so würde darüber noch manches zu sagen sein, was aber in dem Buche vom Angriff eine passendere Stelle findet; wir brechen also hier ab und begnügen uns, die Bedingungen angegeben zu haben, unter welchen diese Reaktionsart stattfinden kann.
     Gewöhnlich aber hat man, indem man von derselben spricht, mehr die Demonstration als die Wirklichkeit im Auge, in der Absicht, dadurch den Rückzug des Feindes zu veranlassen. Müßte jeder wirksamen Demonstration notwendig die vollkommene Ausführbarkeit der wirklichen Handlung zum Grunde liegen, wie sich auf den ersten Anblick von selbst zu verstehen scheint, so würde sie in allen Bedingungen mit derselben zusammenfallen. Allein so ist es nicht, sondern wir werden in dem Kapitel von den Demonstrationen sehen, daß diese allerdings an etwas andere Bedingungen geknüpft sind, und müssen hier auf dieses Kapitel verweisen.

 
     Fünfundzwanzigstes Kapitel:
     Rückzug in das Innere des Landes


     Wir haben den freiwilligen Rückzug in das Innere des Landes als eine eigene mittelbare Widerstandsart angesehen, bei welcher der Feind nicht sowohl durch das Schwert als durch seine eigenen Anstrengungen zugrunde gehen soll. Es wird also hierbei entweder gar keine Hauptschlacht vorausgesetzt oder der Zeitpunkt derselben so spät angenommen, daß die feindlichen Kräfte schon beträchtlich geschwächt sind.
     Jeder im Angriff Vorschreitende wird in seiner Streitkraft durch dieses Vorschreiten geschwächt; dies werden wir im siebenten Buche ausführlicher betrachten; hier müssen wir das Resultat antizipieren, welches wir um so eher können, als in der Kriegsgeschichte jeder Feldzug, mit welchem ein merkliches Vorschreiten verbunden gewesen ist, dies deutlich zeigt.
     Diese Schwächung im Vorgehen wird gesteigert, wenn der Gegner unbesiegt ist, sich mit einer ungebrochenen frischen Streitkraft freiwillig vor ihm zurückzieht, ihn aber durch einen beständigen abgemessenen Widerstand jeden Schritt Landes blutig erkaufen läßt, so daß sein Vorschreiten ein beständiges Vordringen und nicht ein bloßes Verfolgen ist.
     Von der anderen Seite werden die Verluste, welche ein zurückgehender Verteidiger erleidet, viel größer sein, wenn er nach einer verlorenen Schlacht zurückgeht, als wenn er es freiwillig tut. Denn wäre er auch imstande, dem Verfolgenden den täglichen Widerstand zu leisten, den wir bei einem freiwilligen Rückzug erwarten, so würde er wenigstens dabei eben die Verluste machen und also der Verlust in der Schlacht noch hinzukommen. Aber welche Voraussetzung gegen die Natur der Sache würde das sein! Das beste Heer von der Welt wird, wenn es nach einer verlorenen Schlacht genötigt ist, sich tief ins Innere des Landes zurückzuziehen, dabei unverhältnismäßige Verluste machen, und ist der Feind beträchtlich überlegen, wie wir es in den Fällen, wovon wir sprechen, voraussetzen, dringt er mit großer Energie nach, wie es in den neuesten Kriegen fast immer geschehen ist, so wird die höchste Wahrscheinlichkeit einer wirklichen Flucht entstehen, wodurch gewöhnlich die Streitkraft ganz zugrunde gerichtet wird.
     Ein abgemessener täglicher Widerstand, d. h. einer, der jedesmal nur so lange dauert, wie das Gleichgewicht des Kampfes noch schwebend erhalten werden kann, und in welchem wir uns vor der Niederlage sichern, indem wir den Boden zur rechten Zeit aufgeben, um den man sich schlug, ein solcher Kampf wird dem Angreifenden wenigstens ebensoviel Menschen kosten als dem Verteidiger, denn was dieser beim Abzuge hin und wieder unvermeidlicherweise an Gefangenen verliert, wird der andere im Feuer mehr einbüßen, da er beständig gegen die Vorteile des Bodens ankämpfen muß. Nun gehen zwar dem Zurückgehenden die Schwerverwundeten ganz verloren, allein diese gehen dem Angreifenden vorderhand gleichfalls ab, da sie gewöhnlich mehrere Monate in den Hospitälern bleiben.
     Das Resultat wird also sein, daß beide Heere sich ungefähr in gleichem Grade in dieser beständigen Reibung aneinander verzehren.
     Ganz anders ist es beim Verfolgen eines geschlagenen Heeres. Hier machen die in der Schlacht verlorene Streitkraft, die zerstörte Ordnung, der gebrochene Mut, die Sorge um den Rückzug bei dem Zurückgehenden einen solchen Widerstand sehr schwer, in manchen Fällen unmöglich; und der Verfolger, der im ersten Fall höchst behutsam, ja zaghaft wie ein Blinder immer um sich her tastend vorwärtsschreitet, geht im zweiten Fall mit dem festen Schritt eines Siegers, mit dem Übermut eines Glücklichen, mit der Sicherheit eines Halbgottes immer drauf, und je toller er draufgeht, desto mehr beschleunigt er die Dinge in der Richtung, welche sie einmal genommen haben, weil hier das rechte Feld der moralischen Kräfte ist, die sich steigern und vervielfältigen, ohne an die engen Zahlen und Maße der physischen Welt gebunden zu sein.
     Es ist also wohl klar, wie verschieden das Verhältnis beider Heere sein wird, je nachdem sie auf die eine oder die andere Weise den Punkt miteinander erreichen, der als das Ende der Bahn des Angreifenden betrachtet werden kann.
     Dies ist bloß das Resultat der gegenseitigen Zerstörung; an dieses Resultat knüpft sich nun die Schwächung an, welche der Vorschreitende noch sonst erleidet, und worüber wir, wie schon gesagt, an das siebente Buch verweisen, auf der anderen Seite aber die Verstärkung, welche der Zurückgehende in der großen Mehrheit der Fälle durch diejenigen Streitkräfte erhält, die später herbeikommen, sei es durch äußere Hilfe oder durch nachhaltige Anstrengungen.
     Endlich besteht zwischen dem Zurückgehenden und dem Vorschreitenden ein solches Mißverhältnis in den Verpflegungsmitteln, daß der erstere nicht selten im Überfluß lebt, wenn der andere im Mangel verkommt.
     Der Zurückgehende hat die Mittel, überall Vorräte aufzuhäufen, denen er entgegengeht, während der Verfolgende alles nachfahren lassen muß, welches, solange er in Bewegung bleibt, auch bei der kürzesten Verbindungslinie schwierig ist und deshalb gleich von vornherein Mangel erzeugt.
     Alles, was die Gegend selbst darbietet, wird von dem Zurückgehenden zuerst benutzt und meistens erschöpft. Es bleiben nur ausgezehrte Dörfer und Städte, abgemähte und zertretene Felder, ausgeschöpfte Brunnen, getrübte Bäche zurück.
     Das vorgehende Heer kämpft also nicht selten vom ersten Tag an mit den dringendsten Bedürfnissen. Auf feindliche Vorräte kann es dabei gar nicht rechnen, es wäre bloßer Zufall oder unverzeihlicher Fehler des Gegners, wenn ihm hin und wieder eines in die Hände fiele.
     So ist es denn nicht zweifelhaft, daß bei beträchtlichen Dimensionen und nicht zu ungleicher Macht der Kriegführenden auf diese Weise ein Verhältnis der Streitkräfte entstehen wird, welches dem Verteidiger unendlich mehr Wahrscheinlichkeit des Erfolges verspricht, als er bei einer Entscheidung an der Grenze gehabt hätte. Aber nicht bloß die Wahrscheinlichkeit, zu siegen, wird wegen des veränderten Machtverhältnisses größer, sondern auch der Erfolg des Sieges wegen der veränderten Lage. Welch ein Unterschied besteht zwischen einer verlorenen Schlacht an der eigenen Grenze und einer mitten im feindlichen Lande! Ja, der Zustand des Angreifenden ist am Ende seiner Bahn oft von der Art, daß selbst eine gewonnene Schlacht ihn zum Rückzug bewegen kann, weil er weder Stoßkraft genug hat, seinen Sieg zu vervollständigen und zu benutzen, noch imstande ist, die verlorenen Kräfte zu ersetzen.
     Es ist also ein gewaltiger Unterschied, ob die Entscheidung am Anfang oder am Ende des Angriffs gegeben wird.
     Den großen Vorteilen dieser Verteidigungsart stehen zwei Gegengewichte zur Seite; das erste ist der Verlust, welchen das Land durch das Vordringen des Feindes macht, das andere der moralische Eindruck.
     Das Land vor Verlust zu bewahren, kann zwar niemals als ein Zweck der gesamten Verteidigung angesehen werden, sondern dieser Zweck ist ein vorteilhafter Friede. Diesen so sicher als möglich zu erhalten, ist das Bestreben, und dazu muß kein augenblickliches Opfer zu groß geachtet werden. Allein jener Verlust, wenn er auch nicht entscheiden soll, muß doch in die Waagschale gelegt werden, denn er ist immer ein Gegenstand unseres Interesses.
     Dieser Verlust trifft nicht unmittelbar unsere Streitkraft, sondern wirkt nur mit einem mehr oder weniger großen Umwege auf dieselbe, während der Rückzug selbst die Streitkraft unmittelbar verstärkt. Es ist also schwer, diesen Vorteil und jenen Nachteil aneinander abzumessen; es sind Dinge verschiedener Art, die keinen nahen gemeinschaftlichen Wirkungspunkt haben. Wir müssen also dabei stehenbleiben, zu sagen, daß dieser Verlust größer ist, wenn eine fruchtbare und bevölkerte Provinz und große Handelsstädte aufgeopfert werden sollen, daß er aber als am größten zu betrachten ist, wenn ganze oder halbfertige Streitmittel mit verloren gehen.
     Das zweite Gegengewicht ist der moralische Eindruck. Es gibt Fälle, wo sich der Feldherr über ihn hinwegsetzen, seinen Plan ruhig verfolgen und sich den Nachteilen aussetzen muß, welche ein kurzsichtiger Kleinmut hervorbringt; aber darum ist dieser Eindruck doch kein Phantom, welches Geringschätzung verdient. Er ist nicht einer Kraft zu vergleichen, die auf einen Punkt wirkt, sondern einer, die mit Blitzesschnelle alle Fibern durchläuft und alle Tätigkeiten lähmt, die im Volk und Heer wirksam sein sollen. Es gibt wohl Fälle, wo der Rückzug in das Innere des Landes vom Volk und Heer schnell verstanden wird, und wo er das Vertrauen und die Erwartungen sogar steigern könnte, aber die sind sehr selten. Gewöhnlich wird Volk und Heer nicht einmal unterscheiden, ob es eine freie Bewegung oder ein Zurückstolpern ist, und noch weniger, ob der Plan aus Klugheit in Aussicht sicherer Vorteile oder aus Furcht vor dem feindlichen Schwert befolgt wird. Das Volk wird Mitleiden und Unwillen fühlen, wenn es das Schicksal der aufgeopferten Provinzen sieht, das Heer wird leicht sein Vertrauen zu seinem Führer oder gar zu sich selbst verlieren, und die beständigen Gefechte der Nachhut während des Rückzuges werden ihm eine immer erneuerte Bekräftigung seiner Befürchtungen werden. Über diese Folgen des Rückzuges darf man sich nicht täuschen. Und allerdings ist es an und für sich betrachtet natürlicher, einfacher, edler, dem moralischen Dasein des Volkes entsprechender, offen in die Schranken zu treten, damit der Angreifende die Grenzen eines Volkes nicht überschreiten könne, ohne seinem Genius zu begegnen, der ihm die blutige Rechenschaft abfordert.
     Dies sind die Vorteile und Nachteile einer solchen Verteidigungsart, jetzt ein paar Worte über die Bedingungen und begünstigenden Umstände derselben.
     Eine weite Oberfläche oder wenigstens eine lange Rückzugslinie ist die Haupt- und Grundbedingung; denn ein paar Märsche vorwärts werden den Feind natürlich nicht merklich schwächen. Bonapartes Zentrum im Jahre 1812 war bei Witebsk 250000 Mann, bei Smolensk 182000 Mann, und erst bei Borodino war es auf 120000 Mann heruntergekommen, d. h. mit dem russischen Zentrum ins Gleichgewicht der Zahl getreten. Borodino ist 90 Meilen von der Grenze; aber erst bei Moskau war ein entschiedenes Übergewicht für die Russen eingetreten, welches den Umschlag von selbst so sicher herbeiführte, daß der französische Sieg bei Malojaroslawetz keinen wesentlichen Unterschied darin machte.
     Solche Dimensionen wie Rußland hat kein anderes europäisches Reich, und bei den wenigsten ist eine Rückzugslinie von 100 Meilen denkbar. Allein eine Macht wie die französische 1812 wird auch nicht leicht in anderen Verhältnissen vorkommen, und noch weniger ein solches Übergewicht, wie es im Anfang des Feldzuges zwischen beiden Teilen bestand, wo die Franzosen mehr als das Doppelte in der Zahl und außerdem ein entschiedenes moralisches Übergewicht hatten. Was also hier nur nach 100 Meilen erreicht wurde, kann in anderen Fällen vielleicht mit 50 oder 30 erreicht werden.
     Zu den begünstigenden Umständen gehören:
     1. eine wenig bebaute Gegend,
     2. ein treues kriegerisches Volk,
     3. die schlechte Jahreszeit.
     Alle diese Dinge machen die Erhaltung des feindlichen Heeres schwieriger, nötigen zu großen Zufuhren, vielen Entsendungen, beschwerlichem Dienst, verursachen Krankheiten und erleichtern die Flankenwirkung des Verteidigers.
     Endlich müssen wir noch von der absoluten Masse der Streitkräfte sprechen, welche darauf Einfluß hat.
     An und für sich ist es in der Natur der Dinge, daß, abgesehen von dem Verhältnis der gegenseitigen Streitkräfte, eine kleine Streitkraft überhaupt sich früher erschöpft als eine größere, und daß ihre Bahn also nicht so lang, der Umfang ihres Kriegstheaters nicht so groß sein kann. Es findet also gewissermaßen ein konstantes Verhältnis zwischen der absoluten Größe der Macht und denjenigen Räumen statt, welche diese Macht einnehmen kann. Es kann nicht die Rede davon sein, dies Verhältnis auf eine Zahl zu bringen, auch wird es immer durch andere Umstände modifiziert werden, es ist uns aber genug, zu sagen, daß die Dinge im tiefsten Grunde ihres Wesens diesen Zusammenhang haben. Man kann mit 500000 Mann auf Moskau ziehen, aber nicht mit 50000, wenn das Verhältnis zur feindlichen Macht im letzten Fall auch viel günstiger wäre wie im ersten.
     Nehmen wir nun dieses Verhältnis der absoluten Macht zum Raum in zwei verschiedenen Fällen als dasselbe an, so ist nicht zu bezweifeln, daß die Wirksamkeit unseres Rückzuges in Beziehung auf die Schwächung des Feindes mit den Massen steigen wird.
     1. Unterhalt und Unterkommen des Feindes werden schwieriger; denn wenn auch die Räume, welche die Heere einnehmen, gerade soviel wachsen sollten als die Heere selbst, so wird doch der Unterhalt niemals ganz aus diesem Raum bestritten, und alles, was nachgeführt werden muß, erliegt größeren Verlusten; zum Unterkommen aber wird niemals der ganze Raum benutzt, sondern nur ein sehr kleiner Teil desselben, der nicht verhältnismäßig mit den Massen wächst.
     2. Das Vordringen wird in dem Maße langsamer, als die Massen größer werden, folglich dauert die Zeit, bis die Angriffsbahn durchlaufen ist, länger, und die Summe der täglich darin vorkommenden Verluste wird größer.
     Dreitausend Mann, welche zweitausend vor sich hertreiben, werden ihnen in gewöhnlicher Gegend nicht erlauben, sich in kleinen Märschen von 1, 2, höchstens 3 Meilen zurückzubewegen und von Zeit zu Zeit ein paar Tage Halt zu machen. An sie kommen, sie angreifen und vertreiben ist das Werk von einigen Stunden. Multiplizieren wir aber diese Massen mit der Zahl von 100, so sieht es anders aus. Wirkungen, zu denen im ersten Fall wenige Stunden hinreichten, erfordern nun vielleicht einen ganzen Tag oder auch zwei. Beide Teile können nun nicht mehr auf einem Punkt zusammenbleiben, damit wächst also die Mannigfaltigkeit aller Bewegungen und Kombinationen und folglich die Zeit, welche sie brauchen. Der Angreifende aber ist hierbei in dem Nachteil, daß er wegen der schwierigen Verpflegung sich noch mehr ausbreiten muß als der Zurückgehende, folglich immer in einiger Gefahr ist, daß dieser mit überlegener Macht auf einen Punkt falle, wie die Russen bei Witebsk es wollten.
     3. Je größer die Massen werden, um so größer wird für jeden einzelnen der Kraftaufwand, den der tägliche strategische und taktische Dienst erfordert. Hunderttausend Mann, die täglich einmal ab- und aufmarschieren, jetzt Halt machen, dann wieder in Marsch gesetzt werden, jetzt zu den Waffen greifen, dann wieder kochen oder Lebensmittel empfangen, hunderttausend Mann, die nicht eher ins Lager rücken sollen, als bis von allen Seiten die nötigen Meldungen eingegangen sind - diese brauchen zu allen diesen Nebenanstrengungen des eigentlichen Zuges in der Regel doppelt soviel Zeit als 50000 brauchen würden, der Tag aber hat für beide nur 24 Stunden. Wie sehr verschieden aber die Zeit und Anstrengung eines Marsches ist nach der Masse der Truppen, haben wir im neunten Kapitel des vorigen Buches gesagt. Diese Anstrengungen teilt nun freilich der Zurückgehende mit dem Vorrückenden, aber sie sind bei dem letzteren merklich größer:
     1. Weil seine Massen größer sind, wegen der Überlegenheit, die wir voraussetzen.
     2. Weil der Verteidiger, da er immer den Boden räumt, mit diesem Opfer sich das Recht erkauft, immer der Bestimmende zu bleiben, stets dem anderen das Gesetz zu geben. Er macht seinen Plan vorher, und in den meisten Fällen wird dieser durch nichts gestört, der Vorschreitende aber kann seinen Plan nur nach der feindlichen Aufstellung machen, die er immer erst zu erforschen suchen muß. Wir müssen aber daran erinnern, daß hier von dem Verfolgen eines Gegners die Rede ist, der keine Niederlage erlitten, nicht einmal eine Schlacht verloren hat, damit man nicht glaube, wir widersprächen unserem zwölften Kapitel des vierten Buches.
     Jenes Vorrecht aber, dem Feinde das Gesetz zu geben, macht für Zeit- und Kraftgewinn und für mancherlei Nebenvorteile einen Unterschied, der auf die Dauer sehr wesentlich wird.
     3. Weil der Zurückgehende von der einen Seite alles tut, seinen Rückweg zu erleichtern, Wege und Brücken ausbessern läßt, die bequemsten Lagerplätze aussucht usw. und von der anderen Seite wieder ebensoviel tut, dem Nachfolgenden das Vorgehen zu erschweren, indem er die Brücken zerstört, schon durch seinen bloßen Marsch schlechte Wege noch mehr verdirbt, dem Feinde die besten Lager- und Wasserplätze entzieht, indem er sie selbst einnimmt.
     Endlich müssen wir noch als einen besonders begünstigenden Umstand den Volkskrieg anführen. Dies bedarf hier um so weniger einer weiteren Auseinandersetzung, als wir von demselben noch in einem eigenen Kapitel sprechen werden.
     Wir haben bisher von den Vorteilen gesprochen, die ein solcher Rückzug gewährt, von den Opfern, die er fordert, von den Bedingungen, die vorhanden sein müssen; jetzt wollen wir noch etwas über die Ausführung sagen.
     Die erste Frage, welche wir zu tun haben, ist über die Richtung des Rückzuges.
     Er soll in das Innere des Landes geschehen, also womöglich auf einen Punkt führen, wo der Feind auf beiden Seiten von unseren Provinzen umgeben ist; dann wird er ihrer Einwirkung ausgesetzt sein und wir nicht in Gefahr, von der Hauptmasse unseres Landes abgedrängt zu werden, welches geschehen könnte, wenn wir eine Rückzugslinie wählen, die zu nahe an der Grenze hinliefe, wie die Russen im Jahr 1812, wenn sie südlich statt östlich hätten zurückgehen wollen. Dies ist die Bedingung, welche in dem Zweck der Maßregel selbst liegt. Welcher Punkt des Landes der beste ist, wieweit sich damit die Absicht verbinden läßt, die Hauptstadt oder einen anderen wichtigen Punkt unmittelbar zu decken oder den Feind von der Richtung dahin abzuziehen, hängt von den Verhältnissen ab.
     Hätten die Russen 1812 den Rückzug vorher überlegt gehabt und also vollkommen planmäßig gemacht, so konnten sie füglich von Smolensk die Richtung auf Kaluga nehmen, die sie erst von Moskau aus einschlugen; es ist sehr möglich, daß unter diesen Umständen Moskau ganz verschont geblieben wäre.
     Die Franzosen waren nämlich bei Borodino etwa 130000 Mann stark; es ist kein Grund vorhanden, daß sie, wenn diese Schlacht von den Russen auf dem halben Weg von Kaluga angenommen worden wäre, dort hätten stärker sein sollen; wieviel hätten sie aber von dieser Macht entbehren können, um es auf Moskau zu schicken? Offenbar sehr wenig; mit wenig Truppen aber kann man nicht auf 50 Meilen (dies ist die Entfernung von Smolensk nach Moskau) eine Entsendung gegen einen Ort wie Moskau machen.
     Gesetzt, Bonaparte hätte bei Smolensk, wo er nach den Gefechten etwa 160000 Mann stark war, geglaubt, eine Entsendung auf Moskau wagen zu dürfen, ehe noch eine Hauptschlacht erfolgt war, und dazu 40000 Mann genommen, während 120000 Mann der russischen Hauptarmee gegenüber geblieben wären, so würden diese 120000 Mann in der Schlacht etwa nur 90000 gewesen sein, nämlich 40000 schwächer als bei Borodino; die Russen würden also ein Übergewicht von 30000 Mann gehabt haben. Wenn man den Verlauf der Schlacht von Borodino als Maßstab nimmt, so ist wohl zu glauben, daß sie damit Sieger geblieben wären. In jedem Fall wäre das Resultat dieses Kalküls ein viel besseres gewesen als das Verhältnis bei Borodino. Aber der Rückzug der Russen war kein Werk überdachten Planes; man ging so weit zurück, weil man in jedem Augenblick, wo man die Schlacht annehmen wollte, sich noch nicht stark genug dazu fand; alle Erhaltungs- und Verstärkungsmittel waren auf die Straße von Moskau auf Smolensk gerichtet, und es konnte in Smolensk niemand einfallen, diese Straße zu verlassen. Außerdem aber würde ein Sieg zwischen Smolensk und Kaluga in den Augen der Russen das Unrecht niemals gutgemacht haben, Moskau nicht zu decken und einer möglichen Besitznahme preiszugeben.
     Noch gewisser hätte Bonaparte 1813 Paris vor einem Anfall schützen können, wenn er seine Aufstellung merklich seitwärts, etwa hinter dem Kanal von Bourgogne, genommen und in Paris nur einige tausend Mann mit seinen zahlreichen Nationalgarden gelassen hätte. Niemals hätten die Verbündeten den Mut gehabt, ein Korps von 50 bis 60000 Mann auf Paris gehen zu lassen, während sie Bonaparte mit 100000 Mann bei Auxerre wußten. Umgekehrt würde wohl niemand einem verbündeten Heer in Bonapartes Lage geraten haben, den Weg zur eigenen Hauptstadt zu verlassen, wenn er der Gegner war. Mit solcher Überlegenheit würde er nicht einen Augenblick angestanden haben, auf die Hauptstadt loszugehen. So verschieden wird sogar unter denselben Umständen, aber bei anderen moralischen Verhältnissen das Resultat sein.
     Wir wollen nur noch bemerken, daß bei einer solchen Seitenrichtung in jedem Fall die Hauptstadt oder der Ort, welchen man dadurch außer Spiel bringen will, einige Widerstandsfähigkeit haben muß, um nicht von jedem Streifer besetzt und gebrandschatzt zu werden, und dann diesen Gegenstand hier fallen lassen, weil wir in der Folge bei dem Kriegsplan doch noch einmal darauf zurückkommen werden,
     Aber noch eine andere Eigentümlichkeit in der Richtung einer solchen Rückzugslinie müssen wir betrachten, nämlich die einer plötzlichen Wendung. Nachdem die Russen bei Moskau dieselbe Richtung behalten hatten, verließen sie diese, die sie nach Wladimir geführt haben würde, gingen zuerst in der auf Rjazanj weiter und dann in die von Kaluga über. Hätten sie ihren Rückzug fortsetzen müssen, so konnte solcher füglich in dieser neuen Richtung geschehen, welche sie nach Kiew geführt haben würde, also der feindlichen Grenze wieder viel näher. Daß die Franzosen, wenn sie den Russen in dieser Zeit auch noch merklich überlegen gewesen wären, das ungeheure Knie ihrer Verbindungslinie über Moskau nicht hätten behaupten können, ist wohl an sich klar; sie hätten nicht allein Moskau, sondern höchstwahrscheinlich auch Smolensk aufgeben, also die mühsam gemachten Eroberungen wieder verlassen und sich mit dem Kriegstheater diesseits der Beresina begnügen müssen.
     Nun wäre freilich das russische Heer in denselben Nachteil getreten, dem es sich ausgesetzt hätte, wenn es gleich anfangs die Richtung auf Kiew hätte einschlagen wollen, nämlich von der Hauptmasse seiner Staaten getrennt zu sein; aber dieser Nachteil wurde nun fast illusorisch, denn in welcher ganz anderen Verfassung würde das feindliche Heer bei Kiew angekommen sein, wenn es nicht die Reise über Moskau gemacht hätte!
     Es ist klar, daß eine solche plötzliche Wendung der Rückzugslinie, die bei großen Dimensionen sehr tunlich ist, eminente Vorteile gewährt:
     1. Die Wendung macht es dem Gegner unmöglich, seine alten Verbindungslinien beizubehalten; die Einrichtung von neuen ist aber immer eine schwierige Sache, wozu noch kommt, daß er seine Richtung nur nach und nach verändert, also wahrscheinlich mehr als einmal eine neue Verbindungslinie suchen muß.
     2. Beide Teile nähern sich auf diese Weise der Grenze wieder; der Angreifende deckt seine gemachten Eroberungen nicht mehr durch seine Stellung und muß sie höchstwahrscheinlich aufgeben. Rußland mit seinen ungeheuren Dimensionen ist ein Reich, worin sich zwei Heere auf diese Weise förmlich Zeck jagen können.
     Aber auch bei kleineren Oberflächen bleibt eine solche Wendung möglich, wenn die übrigen Umstände sie begünstigen, welches nur aus allen Verhältnissen des einzelnen Falles entnommen werden kann. Ist die Richtung einmal bestimmt, in welcher der Feind ins Land hineingezogen werden soll, so folgt von selbst, daß unsere Hauptmacht diese Richtung hatte, denn sonst würde der Feind die seinige nicht dahin vorgehen lassen, und täte er es auch, so würden wir nicht imstande sein, ihm dabei alle die Bedingungen aufzulegen, die wir oben vorausgesetzt haben. Es kann also nur die Frage sein, ob man mit der ungeteilten Macht diese Richtung halten oder mit bedeutenden Teilen derselben nach der Seite hin ausweichen und also seinen Rückzug exzentrisch machen soll.
     Auf diese Frage müssen wir antworten, daß diese Form an sich verwerflich ist:
     1. weil die Kräfte dadurch mehr verteilt werden, das Zusammenhäufen derselben auf einen Punkt aber gerade eine Hauptschwierigkeit für den Angreifenden ist;
     2. weil der Gegner in den Vorteil der inneren Linie kommt, mehr als wir vereinigt ist und folglich auf einzelnen Punkten um so überlegener sein kann. Nun ist freilich diese Überlegenheit bei einem System weniger zu fürchten, was vorderhand immer im Ausweichen besteht, allein immer ist die Bedingung dieses Ausweichens, dem Gegner furchtbar zu bleiben, nicht von ihm zu Paaren getrieben zu werden; das könnte aber eintreten. Ferner ist die Bedingung dieses Rückzuges, nach und nach bei der Hauptmacht zu einer Überlegenheit zu kommen, um die Entscheidung geben zu können, welches aber bei der Teilung der Kräfte ungewiß bleiben würde.
     3. Weil überhaupt das konzentrische Wirken auf den Feind dem Schwächeren nicht ziemt;
     4. weil durch eine solche Stellung der Kräfte ein Teil der feindlichen Schwäche ganz eliminiert wird.
     Die Hauptschwächen eines weit vorgehenden Angriffs sind nämlich: die langen Verbindungslinien, die offenen strategischen Flanken. Durch die exzentrische Form des Rückzuges wird der Angreifende genötigt, einen Teil seiner Macht nach der Seite Fronte machen zu lassen, und dieser Teil, welcher eigentlich nur bestimmt sein sollte, unsere ihm entgegenstehende Streitkraft zu neutralisieren, tut gewissermaßen nebenher noch etwas anderes, nämlich einen Teil der Verbindungslinie zu schützen.
     Für die bloße strategische Wirkung des Rückzuges also ist die exzentrische Form nicht vorteilhaft; soll sie aber eine spätere Wirkung auf die feindliche Rückzugslinie vorbereiten, so müssen wir an das im vorigen Kapitel Gesagte erinnern.
     Nur ein Zweck kann zu einem exzentrischen Rückzug veranlassen: wenn wir nämlich dadurch Provinzen sichern können, die der Feind sonst besetzt haben würde.
     Welche Landstriche rechts und links der Vorgehende besetzen wird, läßt sich meistens mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit aus der Sammlung und Richtung seiner Kräfte, aus der Lage seiner Provinzen, Festungen usw. gegen die unserigen vorhersehen; diejenigen Landstriche, welche er wahrscheinlich intakt lassen wird, mit Streitkräften zu versehen, wäre eine gefährliche Kraftverschwendung. Ob man aber in denjenigen Landstrichen, welche der Angreifende, wahrscheinlich besetzen wird, imstande sein wird, ihn durch eine aufgestellte Streitkraft daran zu verhindern, ist schon schwieriger zu übersehen, und es hängt also dabei viel von dem Takt des Urteils ab.
     Als die Russen 1812 zurückgingen, ließen sie unter Tormassow 30000 Mann in Wolhynien gegen die österreichische Macht, die in diese Provinz einbrechen sollte. Die Größe der Provinz, die mancherlei Schwierigkeiten des Bodens, welche sie darbietet, die nicht überlegene Macht, mit welcher sie angegriffen werden sollte, berechtigen zu der Hoffnung, daß die Russen auf dieser Seite ihrer Grenze die Oberhand behalten oder sich wenigstens in der Nähe der Grenze behaupten würden. Aus dieser Behauptung konnten in der Folge sehr wichtige Vorteile hervorgehen, bei denen wir uns hier nicht aufhalten wollen; außerdem war es fast unmöglich, diese Truppen noch zur rechten Zeit an das Hauptheer heranzuziehen, wenn man es auch gewollt hätte. Alle diese Dinge mußten auf die genügendste Weise dazu bestimmen, das Heer in Wolhynien zu lassen, um dort seinen eigenen Krieg zu führen. Wenn dagegen in dem Plan, welchen der General Phull zum Feldzug entworfen hatte, bloß das Heer von Barclay (80000 Mann) nach Drissa zurückgehen und das Heer von Bagration (40000 Mann) den Franzosen in der rechten Flanke bleiben sollte, um ihnen dann in den Rücken zu fallen, so sieht man auf den ersten Blick, daß dieses Heer nicht daran denken konnte, sich im südlichen Litauen zu behaupten, also einen Landstrich mehr, und der näher gelegen war, im Rücken der Franzosen zu erhalten. Dies Heer würde durch die überwältigenden Massen zugrunde gerichtet worden sein.
     Daß der Verteidiger an sich das Interesse habe, dem Angreifenden so wenig Provinzen als möglich zu überlassen, versteht sich von selbst, aber dies bleibt immer ein sehr untergeordneter Zweck; daß der Angriff auch um so schwieriger wird, je kleiner oder vielmehr schmaler das Kriegstheater ist, auf dem wir den Feind einschränken können, ist gleichfalls an sich klar; aber dies alles unterliegt doch der Bedingung, daß man bei diesem Beginnen die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges für sich habe, und daß man dadurch nicht bei der Hauptmacht zu sehr geschwächt werde; denn hier muß vorzugsweise die endliche Entscheidung gesucht werden, weil die Verlegenheiten, die bei der feindlichen Hauptmacht entstehen, den Entschluß zum Rückzuge am ersten hervorrufen und den damit verbundenen Verlust physischer und moralischer Kräfte am meisten steigern.
     Der Rückzug in das Innere des Landes soll also in der Regel mit unbesiegter und ungeteilter Macht geschehen, und soll gerade vor der feindlichen Hauptmacht hergehen, so langsam als möglich, und durch einen beständigen Widerstand den Gegner zu einer beständigen Schlachtfertigkeit, zu einem gewissen verderblichen Luxus taktischer und strategischer Vorsichtsmaßregeln zwingen.
     Sind beide Teile so am Ende der Angriffsbahn angelangt, so wird der Verteidiger seine Aufstellung, wenn es irgend sein kann, schief gegen die Richtung dieser Bahn nehmen und nun durch alle Mittel, die ihm zu Gebote stehen, auf den Rücken des Feindes wirken.
     Der Feldzug 1812 in Rußland zeigt alle diese Erscheinungen, und zwar in einem hohen Grade, und die Wirkungen derselben wie im Vergrößerungsspiegel, und ob er gleich nicht ein freiwilliger Rückzug war, so kann er doch füglich unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden, und es ist wohl keine Frage, daß, wenn die Russen ihn mit der Kenntnis des Erfolges, die sie jetzt davon haben, noch einmal genau unter denselben Verhältnissen zu führen hätten, sie freiwillig und mit Plan tun würden, was 1812 größtenteils absichtslos geschehen ist. Allein man würde sehr unrecht haben, zu glauben, daß es sonst kein Beispiel von solcher Wirkungsart gebe, und daß es keines geben könne, wo die russischen Dimensionen fehlen.
     Überall, wo ein strategischer Angriff ohne Schlachtentscheidung an den bloßen Schwierigkeiten des Daseins gescheitert und der Vorgedrungene zu einem bald mehr, bald weniger zerstörenden Rückzug gezwungen gewesen ist, hat die Hauptbedingung und Hauptwirkung dieser Widerstandsart stattgefunden, von welchen modifizierenden Umständen sie auch sonst begleitet gewesen sein mag. Friedrichs des Großen Feldzug von 1742 in Mähren, von 1744 in Böhmen, der französische Feldzug von 1743 in Österreich und Böhmen, des Herzogs von Braunschweig Feldzug von 1792 in Frankreich, Massénas Winterfeldzug von 1810 auf 1811 in Portugal sind Beispiele, die ähnliche Fälle, aber in viel geringeren Dimensionen und Verhältnissen zeigen; außerdem aber gibt es noch eine Unzahl fragmentarischer Wirkungen der Art, wo nicht der ganze Erfolg, aber wohl ein Teil desselben dem Prinzip, welches wir hier geltend machen, zugeschrieben werden muß, die wir aber nicht anführen, weil eine Entwicklung der Verhältnisse dabei nötig wäre, die uns hier zu weit führen würde.
     In Rußland und den anderen angeführten Fällen ist der Umschwung erfolgt, ohne daß eine glückliche Schlacht am Kulminationspunkt die Entscheidung gegeben; aber wo eine solche Wirkung auch nicht zu erwarten ist, bleibt es schon ein Gegenstand von hinreichender Wichtigkeit, durch diese Widerstandsart ein Machtverhältnis herbeizuführen, welches den Sieg möglich macht, und durch diesen Sieg wie durch einen ersten Stoß eine Bewegung zu veranlassen, die sich dann in ihren verderblichen Wirkungen nach den Gesetzen des Falles zu vergrößern pflegt.

 
     Sechsundzwanzigstes Kapitel:
     Volksbewaffnung


     Der Volkskrieg ist im kultivierten Europa eine Erscheinung des neunzehnten Jahrhunderts. Er hat seine Anhänger und seine Widersacher, die letzteren entweder aus politischen Gründen, weil sie ihn für ein revolutionäres Mittel, einen für gesetzlich erklärten Zustand der Anarchie halten, der der gesellschaftlichen Ordnung nach innen ebenso gefährlich sei wie dem Feinde nach außen, oder aus militärischen Gründen, weil sie glauben, der Erfolg entspräche nicht der aufgewendeten Kraft. Der erste Punkt berührt uns hier gar nicht, denn wir betrachten den Volkskrieg bloß als Kampfmittel, also in seiner Beziehung auf den Feind; der letzte Punkt aber führt uns zu der Bemerkung, daß der Volkskrieg im allgemeinen als eine Folge des Durchbruches anzusehen ist, den das kriegerische Element in unserer Zeit durch seine alte künstliche Umwallung gemacht hat; als eine Erweiterung und Verstärkung des ganzen Gärungsprozesses, den wir Krieg nennen. Das Requisitionssystem, die Anschwellung der Heere zu ungeheuren Massen vermittelst desselben und der allgemeinen Dienstpflicht, der Gebrauch der Landwehren sind alles Dinge, die, wenn man vom ehemaligen engbegrenzten Militärsystem ausgeht, in derselben Richtung liegen, und in dieser Richtung liegt nun auch der Aufruf des Landsturmes oder die Volksbewaffnung. Sind die ersten dieser neuen Hilfsmittel eine natürliche und notwendige Folge weggeworfener Schranken, und haben sie die Kraft dessen, der sich ihrer zuerst bedient hat, so gewaltig gesteigert, daß der andere mit fortgerissen worden ist und sie auch hat ergreifen müssen, so wird beides auch der Fall mit dem Volkskriege sein. In der Allgemeinheit der Fälle würde dasjenige Volk, welches sich desselben mit Verstand bediente, ein verhältnismäßiges Übergewicht über diejenigen bekommen, die ihn verschmähen. Ist dem also, so kann nur die Frage sein, ob diese neue Verstärkung des kriegerischen Elementes der Menschheit überhaupt heilsam ist oder nicht; eine Frage, die sich wohl ganz so beantworten dürfte wie die Frage über den Krieg selbst - wir überlassen beide den Philosophen. Aber man könnte auch meinen, die Kräfte, welche der Volkskrieg kostet, könnten auf andere Streitmittel verwendet mit mehr Erfolg benutzt werden; es gehört indessen keine große Untersuchung dazu, um sich zu überzeugen, daß diese Kräfte größtenteils nicht disponibel sind und sich nicht nach Willkür verwenden lassen. Ein wesentlicher Teil derselben, nämlich die moralischen Elemente, erhalten sogar erst durch diese Art des Gebrauches ihr Dasein.
     Wir fragen also nicht mehr: was kostet der Widerstand, den ein ganzes Volk mit den Waffen in der Hand leistet, diesem Volke? Sondern wir fragen: welchen Einfluß kann dieser Widerstand haben, welches sind seine Bedingungen und wie ist der Gebrauch desselben?
     Daß ein so verteilter Widerstand nicht zu der in Zeit und Raum konzentrierten Wirkung großer Schläge geeignet ist, geht aus der Natur der Sache hervor. Seine Wirkung richtet sich, wie in der physischen Natur der Verdampfungsprozeß, nach der Oberfläche. Je größer diese ist und der Kontakt, in welchem sie mit dem feindlichen Heere sich befindet, also je mehr dieses sich ausbreitet, um so größer ist die Wirkung der Volksbewaffnung. Sie zerstört wie eine still fortschwelende Glut die Grundfesten des feindlichen Heeres. Da sie zu ihren Erfolgen Zeit braucht, so entsteht, während beide Elemente so aufeinander wirken, ein Zustand der Spannung, die sich entweder nach und nach löst, wenn der Volkskrieg an einzelnen Stellen erstickt wird und an anderen langsam erlischt, oder die zu einer Krise führt, wenn die Flammen dieses allgemeinen Brandes über das feindliche Heer zusammenschlagen und es nötigen, das Land vor eigenem gänzlichen Untergange zu räumen. Daß diese Krisis durch den bloßen Volkskrieg herbeigeführt werden sollte, setzt entweder eine solche Oberfläche des eingenommenen Reiches voraus, wie außer Rußland kein europäischer Staat sie hat, oder ein Mißverhältnis zwischen der einfallenden Armee und der Oberfläche des Landes, wie es in der Wirklichkeit nicht vorkommt. Will man also kein Phantom verfolgen, so muß man sich den Volkskrieg in Verbindung mit dem Kriege eines stehenden Heeres denken und beide durch einen das Ganze umfassenden Plan geeinigt.
     Die Bedingungen, unter welchen allein der Volkskrieg wirksam werden kann, sind folgende:
     1. daß der Krieg im Innern des Landes geführt,
     2. daß er nicht durch eine einzige Katastrophe entschieden werde;
     3. daß das Kriegstheater eine beträchtliche Länderstrecke einnehme;
     4. daß der Volkscharakter die Maßregel unterstütze;
     5. daß das Land sehr durchschnitten und unzugänglich sei, entweder durch Gebirge oder durch Wälder und Sümpfe oder durch die Natur der Bodenkultur.
     Ob die Bevölkerung groß oder klein ist, tut nichts Entscheidendes, denn an Menschen fehlt es dabei am wenigsten. Ob die Einwohner arm oder reich sind, ist auch nicht geradezu entscheidend oder sollte es wenigstens nicht sein, es ist aber nicht zu verkennen, daß eine arme, an anstrengende Arbeit und Entbehrungen gewöhnte Menschenklasse sich auch kriegerischer und kräftiger zu zeigen pflegt,
     Eine Landeseigentümlichkeit, welche die Wirkung des Volkskrieges ungemein begünstigt, ist der zerstreute Anbau der Wohnungen, wie er sich in vielen Provinzen Deutschlands findet. Das Land wird dadurch zerschnittener und verdeckter, die Wege werden schlechter, obgleich zahlreicher, die Unterbringung der Truppen hat unendliche Schwierigkeiten, und vor allem es wiederholt sich im kleinen die Eigentümlichkeit, welche der Volkskrieg im großen hat, nämlich daß das widerstehende Prinzip überall und nirgends vorhanden ist. Wohnen die Einwohner in Dörfern beisammen, so werden die unruhigsten mit Truppen belegt oder auch wohl zur Strafe ausgeplündert, abgebrannt usw., welches sich aber bei einer westfälischen Bauerschaft nicht wohl ausführen läßt.
     Der Gebrauch des Landsturmes und bewaffneter Volkshaufen kann und soll nicht gegen die feindliche Hauptmacht, auch nicht einmal gegen beträchtliche Korps gerichtet sein, er soll nicht den Kern zermalmen, sondern nur an der Oberfläche, an den Umgrenzungen nagen. Er soll sich in den Provinzen erheben, welche dem Kriegstheater seitwärts liegen und wohin der Angreifende nicht mit Macht kommt, um diese Provinzen seinem Einfluß ganz zu entziehen. Diese sich seitwärts auftürmenden Wetterwolken sollen sich hinter ihm fortziehen in dem Maße, als er vorschreitet. Da, wo noch gar kein Feind ist, fehlt es nicht an Mut, sich gegen ihn zu rüsten, und an diesem Beispiel entzündet sich nach und nach die Masse der angrenzenden Einwohner. So verbreitet sich das Feuer wie ein Brand in der Heide und trifft am Ende die Bodenfläche, auf welche der Angreifende basiert ist; es ergreift seine Verbindungslinie und zehrt an den Lebensfaden seines Daseins. Denn wenn man auch keine übertriebenen Vorstellungen von der Allmacht eines Volkskrieges hat, ihn nicht für ein unerschöpfliches, unbezwingliches Element hält, dem die bloße Heeresmacht so wenig Stillstand gebieten könne wie der Mensch dem Winde oder Regen, kurz, wenn man sein Urteil auch nicht auf rednerische Flugschriften gründet, so muß man doch zugeben, daß man bewaffnete Bauern nicht vor sich hertreiben kann wie eine Abteilung Soldaten, die aneinander halten wie eine Herde und gewöhnlich der Nase nachlaufen, während jene auseinandergesprengt sich nach allen Seiten zerstreuen, ohne dazu eines künstlichen Planes zu bedürfen. Dadurch bekommt der Marsch jeder kleinen Abteilung in einem Gebirge, einer Wald- oder sonst sehr durchschnittenen Gegend einen sehr gefährlichen Charakter; denn es kann in jedem Augenblick aus dem Marsch ein Gefecht werden, und wenn schon lange von keinem feindlichen Kriegsvolk mehr die Rede sein würde, können noch zu jeder Stunde dieselben Bauern am Ende einer Kolonne erscheinen, die die Spitze derselben längst vertrieben hatte. Ist von Verderbung der Wege und Sperrung enger Straßen die Rede, so verhalten sich die Mittel, welche Vorposten oder Streifkorps des Heeres anwenden, zu denjenigen, welche eine aufgebrachte Bauernmasse herbeischafft, ungefähr wie die Bewegungen eines Automaten zu den Bewegungen eines Menschen. Der Feind hat kein anderes Mittel gegen die Wirkungen des Landsturmes als das Absenden vieler Haufen zur Geleitung seiner Zufuhren, zur Besetzung der militärischen Stationen, der Pässe, Brücken usw. So wie die ersten Versuche des Landsturmes gering sein werden, so werden auch diese entsendeten Haufen schwach sein, weil man die große Zersplitterung der Kräfte fürchtet; an diesen schwachen Haufen pflegt sich dann das Feuer des Volkskrieges erst recht zu entzünden, man wird ihrer an einigen Orten durch die Menge Meister, es wächst der Mut und die Lust, und die Intensität dieses Kampfes nimmt zu, bis sich der Kulminationspunkt nähert, der über den Ausgang entscheiden soll.
     Nach unserer Vorstellung vom Volkskriege muß er wie ein nebel- und wolkenartiges Wesen sich nirgends zu einen widerstehenden Körper konkreszieren, sonst richtet der Feind eine angemessene Kraft auf diesen Kern, zerstört ihn und macht eine große Menge Gefangene; dann sinkt der Mut, alles glaubt, die Hauptfrage sei entschieden, ein weiteres Bemühen vergeblich, und die Waffen fallen dem Volke aus den Händen. Von der anderen Seite aber ist es dennoch nötig, daß sich dieser Nebel an gewissen Punkten zu dichteren Massen zusammenziehe und drohende Wolken bilde, aus denen einmal ein kräftiger Blitzstrahl herausfahren kann. Diese Punkte sind hauptsächlich auf den Flügeln des feindlichen Kriegstheaters, wie wir schon gesagt haben. Da muß sich die Volksbewaffnung in größere und mehr geordnete Ganze vereinigen, mit einem geringen Zusatz stehender Truppen, so daß sie schon das Ansehen eines geordneten Heeres gewinnt und imstande ist, sich an größere Unternehmungen zu wagen. Von diesen Punkten aus muß die Intensität des Landsturmes abnehmen nach dem Rücken des Feindes hin, wo er seinen stärksten Schlägen ausgesetzt ist. Jene dichteren Massen sind bestimmt, über die beträchtlicheren Garnisonen herzufallen, welche der Feind zurückschickt, außerdem flößen sie Furcht und Besorgnis ein, vermehren den moralischen Eindruck des Ganzen; ohne sie würde die Totalwirkung nicht kräftig und der ganze Zustand für den Feind nicht beunruhigend genug werden.
     Diese willkürliche Gestaltung der ganzen Volksbewaffnung bringt der Feldherr am leichtesten durch die kleinen Haufen des stehenden Heeres hervor, womit er den Landsturm unterstützt. Ohne eine solche zur Ermunterung dienende Unterstützung durch etwas Truppen des stehenden Heeres wird es beim Einwohner meistens an Vertrauen und an Trieb fehlen, zu den Waffen zu greifen. Je stärker nun die Haufen sind, die dazu bestimmt werden, um so stärker wird die Anziehungskraft, um so größer die Lawine, die sich herabstürzen soll. Aber dies hat seine Grenze; denn teils wäre es verderblich, für diesen untergeordneten Zweck das ganze Heer zu verteilen, im Landsturm gewissermaßen aufzulösen und damit eine ausgedehnte, überall schwache Verteidigungslinie zu bilden, wobei man gewiß sein könnte, daß Heer und Landsturm gleich gründlich zerstört werden würden, teils scheint auch die Erfahrung zu lehren, daß, wenn allzuviel regelmäßige Truppen in der Provinz anwesend sind, der Volkskrieg an Energie und Wirksamkeit abzunehmen pflegt; die Ursache ist, weil erstens dadurch zu viel feindliche Truppen in die Provinz gezogen werden, zweitens die Einwohner sich nun auf die eigenen stehenden Truppen verlassen wollen, drittens das Dasein beträchtlicher Truppenmassen die Kräfte der Einwohner auf eine andere Art zu sehr in Anspruch nimmt: nämlich durch Bequartierung, Fuhren, Lieferungen usw.
     Ein anderes Mittel zur Verhütung einer zu wirksamen Reaktion des Feindes gegen den Volkskrieg bildet zugleich einen Hauptgrundsatz in dem Gebrauch desselben; es ist der Grundsatz: bei diesem großen strategischen Verteidigungsmittel es selten oder niemals zur taktischen Verteidigung kommen zu lassen. Der Charakter eines Landsturmgefechts ist der aller Gefechte mit schlechteren Truppenmassen: eine große Gewalt und Hitze im Anlauf, aber wenig kaltes Blut und wenig Nachhalt in der Dauer. Ferner ist wenig daran gelegen. ob eine Landsturmmasse besiegt und vertrieben wird, denn darauf ist sie gestellt, aber sie darf nicht zugrunde gerichtet werden durch eine Unzahl von Toten, Verwundeten und Gefangenen; dergleichen Niederlagen würden die Glut bald erdrücken. Diese beiden Eigentümlichkeiten sind aber der Natur der taktischen Verteidigung durchaus entgegen. Das Verteidigungsgefecht erfordert ein nachhaltiges, langsames, planvolles Wirken und entschiedenes Wagen; ein bloßer Versuch, von dem man ablassen kann, so schnell man will, kann in der Verteidigung niemals zum Erfolg führen. Soll also der Landsturm die Verteidigung irgendeines Bodenabschnittes übernehmen, so muß es niemals zu einem entscheidenden Hauptverteidigungsgefecht kommen; er wird dann zugrunde gehen, wenn ihm die Umstände auch noch so günstig sind. Er kann und soll also die Eingänge eines Gebirges, die Dämme eines Sumpfes, die Übergänge eines Flusses verteidigen, solange es ihm möglich ist, aber er soll, wenn sie einmal durchbrochen sind, sich lieber zerstreuen und mit unvermuteten Anfällen seine Verteidigung fortsetzten, als sich in ein enges, letztes Refugium, in eine förmliche Defensivstellung zusammenziehen und einsperren lassen. - Wie tapfer auch ein Volk sei, wie kriegerisch seine Sitten, wie groß sein Haß gegen den Feind, wie günstig sein Boden: es ist unleugbar, daß der Volkskrieg sich in einer zu dichten Atmosphäre der Gefahr nicht erhalten kann. Soll sich also sein Brennstoff irgendwo zu einer bedeutenden Glut anhäufen, so muß es auf entfernteren Punkten geschehen, wo er Luft hat und nicht mit einem großen Schlage erdrückt werden kann.
     Nach diesen Betrachtungen, die mehr ein Herausfühlen der Wahrheit sind als eine objektive Zergliederung, weil der Gegenstand überhaupt noch zu wenig dagewesen und von denen, die ihn lange mit eigenen Augen beobachtet haben, zu wenig dargestellt worden ist, haben wir nur noch zu sagen, daß der strategische Verteidigungsplan die Mitwirkung der Volksbewaffnung auf zwei verschiedenen Wegen in sich aufnehmen kann, nämlich: entweder als ein letztes Hilfsmittel nach verlorener Schlacht oder als ein natürlicher Beistand, ehe eine entscheidende Schlacht geliefert wird. Das letztere setzt den Rückzug ins Innere des Landes und diejenige mittelbare Reaktionsart voraus, wovon wir im achten und vierundzwanzigsten Kapitel dieses Buches gesprochen haben. Wir haben also hier nur noch ein paar Worte über das Aufgebot des Landsturmes nach verlorener Schlacht zu sagen.
     Kein Staat sollte sein Schicksal, nämlich sein ganzes Dasein, von einer Schlacht, sei sie auch die entscheidendste, abhängig glauben. Ist er geschlagen, so kann das Aufbieten neuer eigener Kräfte und die natürliche Schwächung, welche jeder Angriff in der Dauer erleidet, einen Umschwung der Dinge herbeiführen, oder er kann von außen her Hilfe bekommen. Zum Sterben ist es immer noch Zeit, und wie es ein Naturtrieb ist, daß der Untergehende nach dem Strohhalm greift, so ist es in der natürlichen Ordnung der moralischen Welt, daß ein Volk die letzten Mittel seiner Rettung versucht, wenn es sich an den Rand des Abgrundes geschleudert sieht.
     Wie klein und schwach ein Staat in Beziehung auf seinen Feind auch sei, er soll sich diese letzten Kraftanstrengungen nicht ersparen, oder man müßte sagen, es ist keine Seele mehr in ihm. Dies schließt nicht die Möglichkeit aus, sich durch einen opfervollen Frieden von dem gänzlichen Untergange zu retten, eine solche Absicht schließt aber auch ihrerseits nicht die Nützlichkeit neuer Verteidigungsmaßregeln aus; sie machen den Frieden weder schwieriger noch schlechter, sondern leichter und besser. Noch notwendiger sind sie, wenn Hilfe von denen erwartet wird, die bei unserer Erhaltung interessiert sind. Eine Regierung also, die nach verlorener Hauptschlacht nur daran denkt, das Volk schnell in das Bette des Friedens steigen zu lassen und übermannt von dem Gefühl einer großen fehlgeschlagenen Hoffnung, nicht mehr den Mut und die Lust in sich fühlt, alle Kräfte anzuspornen, begeht in jedem Fall aus Schwäche eine große Inkonsequenz und zeigt, daß sie des Sieges nicht würdig und eben deswegen vielleicht auch gar nicht fähig war.
     Wie entschieden also auch die Niederlage sei, die ein Staat erfahren, so muß doch mit dem Rückzug des Heeres in das Innere des Landes die Wirksamkeit der Festungen und der Volksbewaffnungen hervorgerufen werden. Es ist in dieser Beziehung vorteilhaft, wenn die Flügel des Hauptkriegstheaters durch Gebirge oder sonst sehr schwierige Gegenden begrenzt werden, die nun wie Bastione hervortreten, deren strategisches Flankenfeuer der Vordringende auszuhalten hat.
     Ist der Sieger mitten in seinen Belagerungsarbeiten, hat er überall starke Garnisonen zurückgelassen, um seine Verbindungslinie zu bilden, oder gar Korps entsendet, um sich die Ellenbogen frei zu machen und die benachbarten Provinzen in Ordnung zu halten, ist er schon durch mannigfaltige Verluste lebender und toter Streitmittel geschwächt, dann ist der Zeitpunkt, wo die Verteidigungsarmee von neuem in die Schranken treten und den Angreifenden in seiner zwangvollen Lage durch einen wohlangebrachten Stoß zum Wanken bringen muß.

 
     Siebenundzwanzigstes Kapitel:
     Verteidigung eines Kriegstheaters


     Wir könnten uns vielleicht begnügen, von den wichtigsten Verteidigungsmitteln gesprochen zu haben, und die Art, wie sich dieselben an den ganzen Verteidigungsplan anknüpfen, erst im letzten Buch berühren, wenn wir von dem Kriegsplan sprechen; denn nicht nur wird von diesem jeder untergeordnete Plan von Angriff und Verteidigung ausgehen und in seinen Hauptlineamenten bestimmt werden, sondern in vielen Fällen wird der Kriegsplan selbst nichts anderes sein als der Angriff oder die Verteidigung auf dem hauptsächlichsten Kriegstheater. Allein wir haben überhaupt nicht mit dem Ganzen des Krieges anfangen können, obgleich im Kriege mehr als irgendwo die Teile durch das Ganze bestimmt und von dem Charakter desselben durchdrungen und wesentlich verändert werden, sondern wir haben uns erst der einzelnen Gegenstände wie abgerissener Teile deutlicher bewußt werden müssen. Ohne dieses Fortschreiten von dem Einfacheren zum Zusammengesetzteren würde uns eine Masse unbestimmter Vorstellungen überwältigt, und besonders würden die im Kriege so vielfältigen Wechselwirkungen unsere Vorstellungen beständig verwirrt haben. Wir wollen uns also dem Ganzen erst noch um einen Schritt nähern, d. h. wir wollen die Verteidigung eines Kriegstheaters an und für sich betrachten und den Faden suchen, an dem sich die abgehandelten Gegenstände anreihen lassen.
     Die Verteidigung ist nach unserer Vorstellungsweise nichts als die stärkere Form des Kampfes. Die Erhaltung der eigenen Streitkräfte, die Vernichtung der feindlichen, mit einem Wort der Sieg ist der Gegenstand dieses Kampfes; aber er ist freilich nicht der letzte Zweck. Die Erhaltung des eigenen Staates und die Niederwerfung des feindlichen ist dieser Zweck, und wieder mit einem Wort: der beabsichtigte Friede, weil in ihm sich dieser Konflikt ausgleicht und in ein gemeinschaftliches Resultat endigt.
     Was heißt nun der feindliche Staat in Beziehung auf den Krieg? Vor allen Dingen seine Streitkraft, dann seine Oberfläche; aber freilich auch noch vieles andere, was durch individuelle Umstände eine vorherrschende Wichtigkeit bekommen kann; vorzüglich gehören dahin äußere und innere politische Verhältnisse, die zuweilen mehr entscheiden als alles übrige. Aber wenn auch die Streitkraft und die Oberfläche des feindlichen Staates nicht der Staat selbst sind, und auch nicht alle Beziehungen damit erschöpft sind, die der Staat zum Kriege haben kann, so bleiben jene beiden Gegenstände doch die stets vorherrschenden, an Wichtigkeit allen anderen Beziehungen meistens unendlich überlegen. Die Streitkraft soll die eigene Landesfläche des Staates beschützen, die feindliche erobern, die Landesfläche aber ernährt und regeneriert unaufhörlich die Streitkraft. Beide hängen also voneinander ab, tragen sich gegenseitig, sind einander gleich wichtig. Aber es besteht doch in ihrem Wechselverhältnis ein Unterschied. Wenn die Streitkraft vernichtet, d. h. niedergeworfen, zu fernerem Widerstande unfähig gemacht ist, so folgt der Verlust des Landes eo ipso; aber nicht umgekehrt folgt aus der Eroberung des Landes die Vernichtung der Streitkraft, denn diese kann das Land freiwillig räumen, um es nachher um so leichter zu erobern. Ja, nicht bloß die gänzliche Niederwerfung der Streitkraft entscheidet über das Schicksal des Landes, sondern schon jede beträchtliche Schwächung derselben führt regelmäßig einen Verlust an Land herbei; dagegen führt nicht jeder beträchtliche Verlust an Land regelmäßig eine beträchtliche Schwächung der Streitkraft herbei; für die Dauer freilich, aber nicht immer innerhalb des Zeitraumes, in welchen die Kriegsentscheidung fällt.
     Hieraus folgt, daß die Erhaltung und Vernichtung der Streitkraft dem Besitz des Landes immer vorgehen, d. h. daß sie vom Feldherrn zunächst erstrebt werden soll, und daß der Besitz des Landes sich nur überall als Zweck hervordrängt, wo jenes Mittel ihn nicht vollkommen deckt
     Wäre die ganze feindliche Streitkraft in einem Heer vereinigt, und bestände der ganze Krieg in einem Gefecht, so würde der Besitz des Landes von dem Ausgang dieses Gefechts abhängen; Vernichtung der feindlichen Streitkräfte, Eroberung des feindlichen Landes und Sicherung des eigenen würden daraus folgen und gewissermaßen identisch damit sein. Es frägt sich nun; was kann den Verteidiger zuerst bewegen, von dieser einfachsten Form des kriegerischen Aktes abzuweichen und seine Macht im Raum zu verteilen? Die Antwort ist die Unzulänglichkeit des Sieges, den er mit vereinter Macht erringen könnte. Jeder Sieg hat seinen Wirkungskreis. Reicht dieser über den ganzen feindlichen Staat, also über seine ganze Streitkraft und Länderfläche hin, d. h. werden alle Teile in dieselbe Bewegung mit fortgerissen, welche wir dem Kern seiner Macht gegeben haben, so ist ein solcher Sieg alles, was wir brauchen, und eine Teilung unserer Macht würde ohne zureichenden Grund sein. Gibt es aber Teile der feindlichen Kriegsmacht und der gegenseitigen Länder, über die unser Sieg keine Gewalt mehr haben würde, so müssen wir auf diese Teile besonders Rücksicht nehmen, und da wir die Länderfläche nicht wie die Kriegsmacht in einem Punkt sammeln können, so müssen wir diese zur Verteidigung jener teilen.
     Nur bei kleinen und abgerundeten Staaten ist eine solche Einheit der Kriegsmacht möglich und wahrscheinlich, daß von dem Sieg über diese alles abhängt. Bei großen Ländermassen, die uns in großer Ausdehnung berühren, oder gar bei einem Bündnis solcher Staaten gegen uns, die uns von mehreren Seiten umgeben, ist eine solche Einheit praktisch ganz unmöglich. Hier also werden notwendig Teilungen der Macht entstehen und damit verschiedene Kriegstheater.
     Der Wirkungskreis eines Sieges wird natürlich abhängen von der Größe des Sieges und diese von der Masse der besiegten Truppen. Also gegen den Teil, wo die meisten feindlichen Streitkräfte beisammen sind, wird derjenige Stoß geschehen können, dessen glückliche Wirkungen am weitesten reichen; und wir werden dieses Erfolges am meisten gewiß sein, je größer die Masse der eigenen Streitkräfte ist, die wir zu diesem Stoß verwenden. Diese natürliche Vorstellungsreihe führt uns auf ein Bild, in welchem wir sie klarer feststellen können, es ist die Natur und Wirkung des Schwerpunktes in der Mechanik.
     So wie sich der Schwerpunkt immer da findet, wo die meiste Masse beisammen ist, und wie jeder Stoß gegen den Schwerpunkt der Last am wirksamsten ist, wie ferner der stärkste Stoß mit dem Schwerpunkt der Kraft erhalten wird, so ist es auch im Kriege. Die Streitkräfte jedes Kriegführenden, sei es ein einzelner Staat oder ein Bündnis von Staaten, haben eine gewisse Einheit und durch diese Zusammenhang; wo aber Zusammenhang ist, da treten die Analogien des Schwerpunktes ein. Es gibt also in diesen Streitkräften gewisse Schwerpunkte, deren Bewegung und Richtung über die anderen Punkte entscheidet, und diese Schwerpunkte finden sich da, wo die meisten Streitkräfte beisammen sind. So wie aber in der toten Körperwelt die Wirkung gegen den Schwerpunkt in dem Zusammenhang der Teile ihr Maß und ihre Grenze hat, so ist es auch im Kriege, und es kann hier wie dort ein Stoß leicht größer werden, als der Widerstand verträgt, und damit ein Luftstoß, eine Kraftverschwendung entstehen.
     Wie verschieden ist der Zusammenhang des Heeres einer Fahne, welches durch den persönlichen Befehl eines Feldherrn in die Schlacht geführt wird, und der einer verbündeten Kriegsmacht, die auf 50 oder 100 Meilen ausgedehnt oder gar nach ganz verschiedenen Seiten hin basiert ist! Dort ist der Zusammenhang als der stärkste, die Einheit als die nächste zu betrachten; hier ist die Einheit sehr entfernt, oft nur noch in der gemeinschaftlichen politischen Absicht, und da auch nur dürftig und unvollkommen vorhanden und der Zusammenhang der Teile meistens sehr schwach, oft ganz illusorisch.
     Gebietet also von der einen Seite die Gewalt, welche wir dem Stoß zu geben wünschen, die größte Vereinigung der Macht, so müssen wir von der anderen jede Übertreibung als einen wirklichen Nachteil fürchten, weil sie eine Kraftverschwendung mit sich führt, und diese wieder den Mangel an Kraft auf anderen Punkten.
     Diese Centra gravitatis in der feindlichen Kriegsmacht zu unterscheiden, ihre Wirkungskreise zu erkennen, ist also ein Hauptakt des strategischen Urteils. Man wird sich nämlich jedesmal fragen müssen, welche Wirkungen das Vorgehen und Zurückgehen des einen Teiles der gegenseitigen Streitkräfte auf die übrigen hervorbringen wird.
     Wir glauben hiermit keineswegs ein neues Verfahren erfunden zu haben, sondern wir haben nur dem Verfahren aller Zeiten und Feldherren Vorstellungen zum Grunde gelegt, die den Zusammenhang desselben mit der Natur der Dinge klarer machen sollen.
     Wie dieser Gedanke von dem Schwerpunkt der feindlichen Macht bei dem ganzen Kriegsplan wirksam wird, werden wir im letzten Buche betrachten, denn dahin gehört der Gegenstand überhaupt, und wir haben ihn von daher nur entlehnt, um keine Lücke in der Vorstellungsreihe zu lassen. Wir haben in dieser Betrachtung gesehen, was die Verteilung der Streitkräfte überhaupt bedingt. Es sind im Grunde zwei einander entgegentretende Interessen; das eine, der Besitz des Landes, strebt die Streitkräfte zu verteilen; das andere, der Stoß gegen den Schwerpunkt der feindlichen Macht, vereinigt sie wieder bis auf gewisse Grade.
     So entstehen die Kriegstheater oder einzelnen Heergebiete. Sie sind nämlich solche Abgrenzungen der Oberfläche des Landes und der auf ihr verteilten Streitkraft, daß jede von der Hauptmacht dieses Gebietes gegebene Entscheidung sich unmittelbar über das Ganze ausdehnt und dieses in ihre Richtung mit fortreißt. Wir sagen unmittelbar, denn einen mehr oder weniger entfernten Einfluß muß natürlich die Entscheidung eines Kriegstheaters auch auf seine benachbarten haben.
     Daß wir auch hier wie überall in unseren Definitionen nur die Mittelpunkte gewisser Vorstellungsgebiete treffen, nicht durch scharfe Linien die Grenzen umziehen wollen und können, müssen wir ausdrücklich wieder erinnern, obgleich es schon in der Natur der Sache liegt.
     Wir glauben also, daß ein Kriegstheater, wie groß oder klein es nur sein mag, mit seiner Streitkraft, welchen Umfang diese auch habe, eine solche Einheit darstellt, die sich auf einen Schwerpunkt zurückführen läßt. In diesem Schwerpunkt soll die Entscheidung gegeben werden, und hier Sieger zu sein, heißt im weitesten Sinne das Kriegstheater verteidigen.

 
     Achtundzwanzigstes Kapitel:
     Fortsetzung


     Aber die Verteidigung besteht aus zwei verschiedenen Elementen, nämlich der Entscheidung und dem Abwarten. Die Verbindung dieser beiden Elemente soll der Gegenstand dieses Kapitels sein.
     Zuerst müssen wir sagen, daß der Zustand des Abwartens zwar nicht die vollendete Verteidigung ist, aber doch das Gebiet derselben, in welchem sie gegen ihr Ziel vorschreitet. Solange eine Streitkraft den ihr anvertrauten Landstrich nicht verlassen hat, dauert die Spannung der Kräfte, in welche der Angriff beide Teile versetzt, fort; die Entscheidung erst bringt die Ruhe, und diese Entscheidung, welche sie auch sei, ist erst als gegeben zu betrachten, wenn entweder der Angreifende oder der Verteidiger das Kriegstheater verlassen hat.
     Solange sich also eine Streitkraft in ihrem Gebiete behauptet, dauert ihre Verteidigung desselben, und in diesem Sinn ist die Verteidigung des Kriegstheaters mit der Verteidigung in demselben identisch. Ob der Feind einstweilen von dem Landstrich viel oder wenig eingenommen hat, ist dabei unwesentlich, denn es ist ihm nur geliehen.
     Aber diese Vorstellungsart, wodurch wir den Zustand des Abwartens in seinem richtigen Verhältnis zum Ganzen feststellen wollen, ist nur wahr, wenn wirklich eine Entscheidung gegeben werden soll und von beiden Teilen als unvermeidlich betrachtet wird. Denn nur durch diese Entscheidung werden die Schwerpunkte der gegenseitigen Macht und die von ihnen ausgehenden Kriegstheater wirksame Dinge. Sowie der Gedanke einer Entscheidung wegfällt, so werden die Schwerpunkte neutralisiert, ja in einem gewissen Sinn werden es die ganzen Streitkräfte, und nun drängt sich also der Besitz der Landesfläche, die das zweite Hauptglied des ganzen Kriegstheaters ausmacht, unmittelbar als Zweck hervor. Mit anderen Worten, je weniger in einem Kriege von beiden Seiten die entscheidenden Schläge gesucht werden, je mehr es eine gegenseitige bloße Beobachtung ist, um so wichtiger wird der Landbesitz, um so mehr strebt der Verteidiger, alles unmittelbar zu decken, um so mehr der Angreifende, sich im Vorrücken auszubreiten.
     Nun kann man sich nicht verhehlen, daß die große Mehrheit der Kriege und Feldzüge einem reinen Beobachtungszustande viel näher liegt als einem Kampf auf Leben und Tod, d. h. einem Kampf, wo wenigstens einer der beiden Teile die Entscheidung schlechterdings sucht. Nur die Kriege des neunzehnten Jahrhunderts haben diesen letzteren Charakter in einem so hohen Grade gehabt, daß man dabei von einer Theorie Gebrauch machen konnte, die davon ausgeht. Weil aber schwerlich alle künftige Kriege diesen Charakter haben werden, vielmehr vorauszusehen ist, daß die Mehrzahl sich wieder zu dem Beobachtungscharakter hinneigen wird, so muß eine Theorie, welche für das wirkliche Leben taugen soll, darauf Rücksicht nehmen. Wir werden uns also zuerst mit dem Fall beschäftigen, wenn der Gedanke einer Entscheidung das Ganze durchdringt und leitet, welches der Fall des eigentlichen, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, des absoluten Krieges ist, und dann in einem anderen Kapitel diejenigen Modifikationen in Betrachtung ziehen, welche durch die mehr oder weniger große Annäherung an den Beobachtungszustand entstehen.
     In dem ersten Fall also, wo wir entweder von dem Angreifenden eine Entscheidung erwarten müssen, oder wo wir sie selbst suchen, denn beides ist uns hier dasselbe, wird die Verteidigung eines Kriegstheaters darin bestehen, daß wir uns in demselben auf eine solche Art behaupten, daß wir die Entscheidung in jedem Augenblick mit Vorteil geben können. Diese Entscheidung kann in einer Schlacht, sie kann in einer Reihe anderer großer Gefechte, sie kann aber auch in dem Resultat bloßer Verhältnisse bestehen, die aus der Disposition der gegenseitigen Streitkräfte, d. i. möglicher Gefechte entspringen.
     Wäre die Schlacht auch nicht das vornehmste, das gewöhnlichste und wirksamste Mittel der Entscheidung, wie wir das früher schon bei mehreren Gelegenheiten gezeigt zu haben glauben, so würde es doch hinreichen, daß sie überhaupt zu den Mitteln der Entscheidung gehört, um die stärkste Vereinigung der Kräfte zu fordern, welche die Umstände nur gestatten. Eine Hauptschlacht auf dem Kriegstheater ist der Stoß des Schwerpunktes gegen den Schwerpunkt; je mehr Kräfte wir in dem unserigen versammeln können, um so sicherer und größer wird die Wirkung sein. Also jede Teilverwendung der Kräfte, welche nicht durch einen Zweck hervorgerufen wird, der entweder selbst durch die glückliche Schlacht nicht erreicht werden kann, oder der den glücklichen Ausgang der Schlacht selbst bedingt, ist verwerflich.
     Aber nicht bloß die größte Vereinigung der Streitkräfte ist die Grundbedingung, sondern auch eine solche Stellung und Lage derselben, daß sie die Schlacht unter den gehörigen vorteilhaften Umständen geben können.
     Die verschiedenen Stufen der Verteidigung, welche wir im Kapitel von den Widerstandsarten kennengelernt haben, sind mit diesen Grundbedingungen vollkommen homogen, es kann also nicht schwerfallen, sie nach dem Bedürfnis des individuellen Falles daran anzuknüpfen. Aber ein Punkt scheint auf den ersten Anblick einen Widerspruch in sich zu schließen und bedarf um so mehr einer Entwicklung, als er einer der wichtigsten in der Verteidigung ist, es ist das Treffen des feindlichen Schwerpunktes.
     Erfährt der Verteidiger zeitig genug, auf welchen Straßen der Feind vordringen wird, und auf welcher namentlich der Kern seiner Macht unfehlbar anzutreffen ist, so kann er ihm auf dieser Straße entgegentreten. Dieser Fall wird der gewöhnliche sein, denn wenn auch in den allgemeinen Maßregeln, in der Anlage von festen Plätzen, großen Waffenniederlagen und dem Friedensstand der Streitkräfte die Verteidigung dem Angriff vorhergeht und diesem also zur Richtschnur wird, so ist doch bei der wirklichen Eröffnung des Aktes in Beziehung auf die ins Feld rückende Macht die Verteidigung schon in dem ihr überhaupt eigentümlichen Vorteil der Hinterhand.
     Das Vorrücken mit einer beträchtlichen Streitkraft in Feindesland erfordert beträchtliche Voranstalten an Anhäufung von Lebensmitteln, Vorräten von Ausrüstungsgegenständen usw., die lange genug dauern, um dem Verteidiger Zeit zu lassen, sich danach zu richten, wobei nicht zu übersehen ist, daß der Verteidiger überhaupt weniger Zeit braucht, weil in jedem Staat die Dinge mehr auf die Verteidigung als auf den Angriff vorbereitet sind.
     Allein wenn dies auch für die Mehrheit der Fälle vollkommen wahr ist, so bleibt doch immer die Möglichkeit, daß im einzelnen Fall der Verteidiger über die Hauptlinie des feindlichen Vordringens in Ungewißheit sei, und dieser Fall kann um so eher eintreten, wenn die Verteidigung auf Maßregeln beruht, die selbst viel Zeit kosten, z. B. die Anlegung einer festen Stellung usw. Ferner kann der Angreifende, wenn der Verteidiger sich auch wirklich auf seiner Vorrückungslinie befindet, in allen Fällen, wo dieser ihm nicht eine Offensivschlacht liefert, der von ihm genommenen Stellung aus dem Wege gehen, indem er seine ursprüngliche Richtung nur etwas verändert, denn in dem kultivierten Europa ist man niemals so gestellt, daß es nicht rechts und links Wege gäbe, die an uns vorbeiführten. Offenbar könnte in diesem Fall der Verteidiger seinen Gegner nicht in einer Stellung erwarten, wenigstens nicht mit der Absicht, dort eine Schlacht zu liefern.
     Ehe wir aber davon reden, welche Mittel in diesem Fall dem Verteidiger verbleiben, müssen wir doch erst die Natur eines solchen Falles und die Wahrscheinlichkeit seines Vorkommens näher in Betrachtung ziehen.
     Natürlich gibt es bei jedem Staat und auch so bei jedem Kriegstheater, wovon wir vorderhand allein zu reden haben, Gegenstände und Punkte, auf welche ein Angriff vorzugsweise wirksam sein wird. Wir finden es am angemessensten, darüber beim Angriff bestimmter und ausführlicher zu reden. Hier wollen wir nur dabei stehenbleiben, daß, wenn der vorteilhafteste Gegenstand und Punkt des Angriffs für den Angreifenden ein Bestimmungsgrund für die Richtung seines Stoßes wird, dieser Bestimmungsgrund auch auf den Verteidiger zurückwirken und ihn in den Fällen, wo er nichts von den Absichten des Feindes weiß, leiten muß. Nähme der Angreifende diese beste Richtung nicht, so würde er sich eines Teiles seiner natürlichen Vorteile begeben. Wir sehen, daß, wenn der Verteidiger auf dieser Richtung ist, das Mittel, ihm auszuweichen und vorbeizugehen, nicht umsonst zu haben ist, sondern ein Opfer kostet. Hieraus folgt also, daß von der einen Seite die Gefahr des Verteidigers, seines Gegners Richtung zu verfehlen, und von der anderen die Fähigkeit des Angreifenden, seinem Gegner vorbeizugehen, beide nicht so groß sind, wie es auf den ersten Blick scheint, weil ein bestimmter, meistens überwiegender Grund für die eine oder andere Richtung schon vorhanden ist, und daß folglich der Verteidiger mit seinen an den Ort gebundenen Einrichtungen in der Mehrheit der Fälle den Kern der feindlichen Macht nicht verfehlen wird. Mit anderen Worten: hat der Verteidiger sich richtig gestellt, so darf er meistens sicher sein, daß der Gegner ihn aufsuchen wird
     Aber hiermit soll und kann die Möglichkeit nicht geleugnet werden, daß der Verteidiger mit seinen Anstalten den Angreifenden irgendeinmal nicht treffe, und es entsteht also die Frage, was er tun soll und wieviel ihm von den eigentlichen Vorteilen seiner Lage noch übrigbleiben werde.
     Fragen wir uns, welche Wege überhaupt einem Verteidiger übrigbleiben, dem der Angreifende vorbeigeht, so sind es folgende:
     1. Seine Macht von Hause aus teilen, um den Gegner mit einem Teil gewiß zu treffen und dann mit dem übrigen zu Hilfe zu eilen.
     2. Eine Stellung mit der vereinigten Macht zu nehmen und sich, im Fall der Gegner vorbeigeht, schnell zur Seite vorzuschieben. In den meisten Fällen wird ein solches Vorschieben nicht mehr genau seitwärts geschehen können, sondern die neue Stellung muß etwas weiter rückwärts genommen werden.
     3. Den Gegner mit vereinigter Macht von der Seite anzufallen;
     4. auf seine Verbindungslinien zu wirken;
     5. durch einen Gegenangriff seines Kriegstheaters genau das zu tun, was der Gegner tut, indem er uns vorbeigeht.
     Wir führen dies letztere Mittel hier an, weil man sich den Fall denken kann, wo es wirksam wäre; allein da es im Grunde der Absicht der Verteidigung, d. h. den Gründen, warum diese gewählt worden ist, widerspricht, so kann es nur als eine Abnormität betrachtet werden, die nur große Fehler des Gegners oder andere Eigentümlichkeiten des individuellen Falles herbeiführen können.
     Das Wirken auf die feindliche Verbindungslinie setzt eine Überlegenheit der unserigen voraus, und diese ist allerdings eine der Grundbedingungen einer guten Verteidigungsstellung. Aber wenn darum diese Wirkung dem Verteidiger auch stets einen gewissen Vorteil versprechen sollte, so ist sie doch bei der Verteidigung eines bloßen Kriegstheaters selten geeignet, die Entscheidung zu geben, welche wir als Zweck des Feldzuges vorausgesetzt haben.
     Die Dimensionen in einem einzelnen Kriegstheater sind gewöhnlich nicht so groß, daß die Verbindungslinien eine große Empfindlichkeit kämen, und selbst wenn sie diese haben, so ist die Zeit, welche der Gegner zur Ausführung seines Schlages braucht, gewöhnlich zu kurz, als daß dieser bei der langsamen Wirksamkeit jenes Mittels noch dadurch gehemmt werden könnte.
     Es wird also dieses Mittel gegen einen zur Entscheidung entschlossenen Gegner sowie auch dann, wenn wir selbst diese Entscheidung lebhaft wünschen, in den meisten Fällen ganz unwirksam sein.
     Die drei anderen Mittel, welche dem Verteidiger übrigbleiben, sind auf eine unmittelbare Entscheidung, auf ein Treffen des Schwerpunktes mit dem Schwerpunkt gerichtet, sie sind also der Aufgabe entsprechender. Aber wir wollen es nur gleich von vornherein sagen, daß wir dem dritten einen großen Vorzug vor den anderen beiden einräumen,. und ohne diese letzteren ganz zu verwerfen, jenes in der Mehrheit der Fälle für das wahre Mittel des Widerstandes halten.
     Bei einer geteilten Aufstellung ist man in Gefahr, in einen Postenkrieg verwickelt zu werden, bei dem gegen einen entschiedenen Gegner im günstigsten Fall nichts als ein bedeutender relativer Widerstand herauskommen kann, nicht aber eine Entscheidung, wie wir sie beabsichtigen; hat man aber auch durch einen richtigen Takt diesen Abweg zu vermeiden gewußt, so wird doch durch den vorläufigen geteilten Widerstand unser Stoß immer merklich geschwächt werden, und man kann niemals sicher sein, ob die zuerst vorgeschobenen Korps nicht unverhältnismäßige Verluste erleiden. Dazu kommt, daß der Widerstand dieser Korps, welcher doch gewöhnlich mit einem Rückzug auf die herbeieilende Hauptmacht endigt, den Truppen meistens in dem Licht verlorener Gefecht und verfehlter Maßregeln erscheint und die moralischen Kräfte auf diese Weise merklich schwächt.
     Das zweite Mittel, sich mit der in einer Stellung vereinigten Macht dem Gegner dahin vorzulegen, wohin dieser ausweichen will, setzt in die Gefahr, zu spät zu kommen und also zwischen zwei Maßregeln stecken zu bleiben. Außerdem erfordert eine Verteidigungsschlacht Ruhe, Überlegung, Bekanntschaft, ja Vertrautheit mit der Gegend, und das alles ist bei einem eiligen Vorschieben nicht zu erwarten. Endlich sind die Stellungen, welche ein gutes Verteidigungsschlachtfeld bilden, doch zu selten, um sie auf jeder Straße und jedem Punkt derselben voraussetzen zu können.
     Dagegen ist das dritte Mittel, nämlich den Angreifenden von der Seite anzufallen, ihm also eine Schlacht mit verwandter Fronte zu liefern, von großen Vorteilen begleitet.
     Zuerst entsteht hierbei immer, wie wir wissen, eine Entblößung der Verbindungs-, hier der Rückzugslinien, und es liegt schon in den allgemeinen Verhältnissen des Verteidigers, demnächst aber vorzüglich in den strategischen Eigenschaften, welche wir von seiner Aufstellung gefordert haben, daß der Verteidiger dabei im Vorteil sein wird.
     Ferner, und dies ist die Hauptsache, ist jeder Angreifende, der an seinem Gegner vorbeigehen will, in zwei ganz entgegengesetzte Bestrebungen verwickelt. Ursprünglich will er vorwärts, um den Gegenstand des Angriffs zu erreichen; die Möglichkeit aber, jeden Augenblick von der Seite angefallen zu werden, erzeugt das Bedürfnis, nach dieser Seite hin in jedem Augenblick einen Stoß, und zwar einen Stoß mit vereinter Macht zu richten. Diese beiden Bestrebungen widersprechen sich und erzeugen eine solche Verwicklung der inneren Verhältnisse, eine solche Schwierigkeit der Maßregeln, wenn sie für alle Fälle passen sollen, daß es strategisch kaum eine verwünschtere Lage geben kann. Wüßte der Angreifende mit Gewißheit den Punkt und den Augenblick, wo er angefallen werden wird, so könnte er mit Kunst und Geschick alles dazu vorrichten, aber in der Ungewißheit darüber und bei der Notwendigkeit des Vorschreitens kann es kaum fehlen, daß, wenn die Schlacht kommt, sie ihn in höchst dürftig zusammengerafften und also gewiß nicht vorteilhaften Verhältnissen findet.
     Gibt es also für einen Verteidiger günstige Augenblicke zu einer Angriffsschlacht, so sind sie gewiß in solchen Verhältnissen am ersten zu erwarten. Bedenkt man noch, daß dem Verteidiger hierbei die Kenntnis der Wahl der Gegend zu Gebote stehen, und daß er seine Bewegungen vorbereiten und einleiten kann, so wird man nicht bezweifeln können, daß er auch unter diesen Umständen noch eine entschiedene strategische Überlegenheit über seinen Gegner behauptet.
     Wir glauben also, daß ein Verteidiger, der sich mit vereinigter Macht in einer gut gelegenen Stellung befindet, das Vorbeigehen des Gegners ganz ruhig abwarten kann, und daß, wenn dieser ihn nicht in seiner Stellung aufsucht, und wenn die Wirkung auf dessen Verbindungslinie den Umständen nicht entspräche, ihm in dem Seitenanfall ein vortreffliches Mittel der Entscheidung bleibt.
     Wenn Fälle der Art in der Geschichte fast ganz fehlen, so liegt es teils darin, daß die Verteidiger selten den Mut gehabt haben, in einer solchen Stellung auszuharren, sondern sich entweder geteilt oder dem Angreifenden durch Quer- und Diagonalmärsche noch eiligst vorgeschoben haben, oder eben darin, daß kein Angreifender einem Verteidiger unter solchen Umständen vorbeizugehen wagt, und daß gewöhnlich die Bewegung desselben dadurch in Stillstand gerät.
     Der Verteidiger ist also in diesem Fall zu einer Angriffsschlacht gezwungen; die weiteren Vorteile des Abwartens, einer starken Stellung, guter Verschanzungen usw. muß er entbehren; die Lage, in welcher er den vorrückenden Feind findet, kann ihm in der Allgemeinheit der Fälle diese Vorteile nicht ganz ersetzen; denn eben um ihnen auszuweichen, hat der Angreifende sich dieser Lage ausgesetzt; aber sie bietet ihm immer einen gewissen Ersatz, und die Theorie ist also hier nicht etwa in dem Fall, eine Größe mit einem Male aus der Rechnung verschwinden, das pro et contra sich gegenseitig verschlingen zu sehen, wie es sooft geschieht, wenn kritische Geschichtschreiber ein fragmentarisches Stück Theorie einlegen.
     Aber man glaube ja nicht, daß wir es hier mit logischen Spitzfindigkeiten zu tun haben, vielmehr erscheint dieser Gegenstand, je mehr man ihn praktisch betrachtet, als ein das ganze Verteidigungswesen umfassender, überall durchgreifender und dasselbe regelnder Gedanke.
     Nur wenn der Verteidiger entschlossen ist, seinen Gegner, sobald er ihm vorbeigeht, mit aller Macht anzufallen, kann er den beiden Abgründen sicher ausweichen, an welchen die Verteidigung so nahe hinführt, nämlich einer geteilten Aufstellung und einem eiligen Vorschieben. In beiden nimmt er das Gesetz des Angreifenden an; in beiden behilft er sich mit Maßregeln der höchsten Notdurft und gefährlichsten Eile, und überall, wo ein entschlossener, nach Sieg und Entscheidung dürstender Gegner auf ein solches Verteidigungssystem gestoßen ist, hat er es zertrümmert. Hat aber der Verteidiger seine Macht zum gemeinschaftlichen Schlagen auf dem rechten Punkt versammelt, ist er entschlossen, mit dieser Macht im schlimmsten Fall seinen Gegner von der Seite anzufallen, so ist und bleibt er im Recht und gestützt auf alle Vorteile, die ihm die Verteidigung in seiner Lage darbieten kann. Gute Vorbereitung, Ruhe, Sicherheit, Einheit und Einfachheit werden der Charakter seines Handelns sein.
     Wir können nicht umhin, hier eines großen geschichtlichen Ereignisses zu gedenken, welches von den hier entwickelten Begriffen nahe berührt wird, hauptsächlich um eine falsche Bezugnahme darauf zu verhüten.
     Als im Oktober 1806 das preußische Heer in Thüringen das französische unter Bonaparte erwartete, befand sich das erstere zwischen den beiden Hauptstraßen, auf welchen das letztere vordringen konnte, nämlich der über Erfurt und der über Hof auf Leipzig und Berlin. Die frühere Absicht, gerade über den Thüringerwald nach Franken einzubrechen, und später, als diese Absicht aufgegeben war, die Ungewißheit, auf welcher der beiden Straßen die Franzosen kommen würden, hatte diese Zwischenstellung veranlaßt. Als eine solche hätte sie also zu der Maßregel des eiligen Vorschiebens führen müssen.
     Dies war auch die Idee, im Fall der Feind über Erfurt gekommen wäre, denn dahin waren die Wege vollkommen zugänglich; dagegen war an ein Vorschieben auf die Straße von Hof nicht zu denken, teils weil man von dieser Straße zwei bis drei Märsche entfernt war, teils weil der tiefe Einschnitt der Saale dazwischenlag; auch war das nie die Absicht des Herzogs von Braunschweig gewesen, und es war keine Art Vorbereitung dazu getroffen. Dagegen war es immer die Absicht des Fürsten Hohenlohe, d. h. des Obersten Massenbach, der den Herzog in diese Idee mit Gewalt hineinziehen wollte. Noch weniger konnte davon die Rede sein, aus der auf dem linken Saaleufer genommenen Aufstellung zu einer Angriffsschlacht auf den vorrückenden Bonaparte überzugehen, d. h. zu einem solchen Seitenanfall, wie wir ihn oben angegeben haben; denn war die Saale ein Bedenken, um sich dem Feinde im letzten Augenblick noch vorzulegen, so mußte sie ein noch viel größeres sein, um in dem Augenblick zu einem Angriff überzugehen, wo er schon im Besitz des jenseitigen Ufers, wenigstens teilweis, sein mußte. Der Herzog beschloß also, hinter der Saale das Weitere abzuwarten, wenn man dem, was in diesem vielköpfigen Hauptquartier und in dieser Zeit der wahren Verwirrung und höchsten Unentschlossenheit geschah, noch den Namen eines individuellen Entschlusses beilegen kann.
     Sei es mit diesem Abwarten wie ihm wolle, so folgte daraus, daß man dabei:
     a) den Feind angreifen konnte, wenn er über die Saale kam., um die preußische Armee aufzusuchen, oder
     b) wenn er sie stehen ließ, auf seine Verbindungslinie wirken, oder
     c) wenn man es tunlich und ratsam fand, sich ihm durch einen schnellen Flankenmarsch noch bei Leipzig vorschieben konnte.
     Im ersten Fall befand sich die preußische Armee wegen des gewaltigen Saaletales in einer großen strategischen und taktischen Überlegenheit, im zweiten in einer ebenso großen rein strategischen, weil der Feind zwischen uns und dem neutralen Böhmen nur eine sehr schmale Basis hatte, während die unserige außerordentlich breit war; selbst im dritten war sie, durch die Saale gedeckt, immer noch in keiner nachteiligen Lage. Alle diese Fälle sind auch im Hauptquartier, trotz Verwirrung und Unklarheit desselben, wirklich zur Sprache gekommen, aber freilich ist es nicht wunderbar, daß, während eine Idee sich im Wirrwarr und der Unentschlossenheit noch aufrechterhält, die Ausführung in diesem Strudel zugrunde gehen mußte.
     In den beiden ersten Fällen wurde also die Stellung auf dem linken Ufer der Saale als eine wahre Flankenstellung betrachtet, und sie hatte unstreitig als solche sehr große Eigenschaften; aber freilich ist eine Flankenstellung mit einem Heere, das seiner Sache wenig gewiß war, gegen einen sehr überlegenen Feind, gegen einen Bonaparte eine sehr kühne Maßregel
     Nach langer Unentschlossenheit wählte der Herzog am 13. die letzte der drei angegebenen Maßregeln, aber es war zu spät. Bonaparte war schon im Überschreiten der Saale begriffen, und die Schlachten von Jena und Auerstedt mußten geschlagen werden. Der Herzog in seiner Unentschlossenheit hatte sich zwischen zwei Stühle gesetzt; für das Vorschieben verließ er die Gegend zu spät und für eine zweckmäßige Schlacht zu früh. Nichtsdestoweniger hat die starke Natur dieser Stellung sich dermaßen bewährt, daß der Herzog den rechten Flügel seines Gegners bei Auerstedt vernichten, während der Fürst Hohenlohe mit einem blutigen Rückzugsgefecht sich aus der Schlinge ziehen konnte; aber bei Auerstedt wagte man nicht, auf dem Siege zu bestehen, der unfehlbar, und bei Jena glaubte man auf einen rechnen zu können, der ganz unmöglich war.
     In jedem Fall hatte Bonaparte ein solches Gefühl von der strategischen Bedeutung der Stellung an der Saale, daß er es nicht gewagt hat, ihr vorbeizugehen, sondern sich zu einem Übergang über die Saale im Angesicht des Feindes entschlossen hat. -
     Durch das, was wir gesagt haben, glauben wir die Verhältnisse der Verteidigung zum Angriff im Fall des entscheidenden Handelns hinreichend angegeben und die Fäden, woran sich die einzelnen Gegenstände der Verteidigungspläne anknüpfen lassen, ihrer Lage und ihrem Zusammenhang nach gezeigt zu haben. Die einzelnen Anordnungen noch bestimmter durchzugehen, kann nicht unsere Absicht sein, denn es führt in ein unerschöpfliches Feld individueller Fälle. Hat der Feldherr sich einen bestimmten Richtungspunkt vorgesetzt, so wird er sehen, wie die geographischen, statistischen, politischen Umstände, die materiellen und personellen Verhältnisse seines Heeres und des feindlichen dahineinpassen, und wie sie das eine oder andere in der Verfahrungsweise bedingen.
     Um aber die Steigerung der Verteidigung, welche wir in dem Kapitel von den Widerstandsarten kennengelernt haben, hier bestimmter anzuknüpfen und dem Auge wieder näher zu bringen, wollen wir das, was sich in Beziehung auf dieselben uns Allgemeines aufdringt, hier angeben.
     1. Veranlassungen, dem Feinde mit einer Offensivschlacht entgegenzugehen, können folgende sein:
     a) Wenn wir wissen, daß der Angreifende mit sehr geteilter Macht vorgehen wird, und wir also, selbst bei großer Schwäche, noch die Aussicht auf einen Sieg haben.
     Ein solches Vorgehen des Angreifenden ist aber an sich sehr unwahrscheinlich und folglich jener Plan nur gut in dem Fall, daß wir bereits davon unterrichtet sind; denn darauf rechnen und alle seine Hoffnungen darauf stützen, in einer bloßen Voraussetzung ohne genügendes Motiv, führt gewöhnlich in eine nachteilige Lage. Die Umstände wollen sich dann nicht finden, wie man sie erwartet hat, man muß die offensive Schlacht aufgeben, ist zu einer defensiven nicht vorbereitet, muß mit einem unfreiwilligen Rückzug anfangen und fast alles dem Ungefähr überlassen.
     Ungefähr so war es mit der Verteidigung beschaffen, welche im Feldzug von 1759 die Armee unter Dohna gegen die Russen führte, und die unter dem General Wedel mit der unglücklichen Schlacht von Züllichau endigte.
     Nur zu sehr sind die Planmacher mit diesem Mittel bei der Hand, weil es die Sache so kurz abmacht, ohne viel zu fragen, inwieweit die Voraussetzungen, auf die es sich stützt, gegründet sind.
     b) Wenn wir überhaupt zur Schlacht stark genug sind, und
     c) wenn ein sehr unbeholfener und unentschlossener Gegner dazu besonders einladet.
     In diesem Fall kann die Wirkung des Unerwarteten mehr wert sein als aller Beistand der Gegend in einer guten Stellung. Das ist das eigentlichste Wesen einer guten Kriegführung, die Macht moralischer Kräfte auf diese Weise ins Spiel zu bringen; - aber die Theorie kann es nicht laut genug, nicht oft genug sagen: es müssen objektive Gründe zu diesen Voraussetzungen vorhanden sein; ohne diese individuellen Gründe immer nur von Überraschung, von dem Übergewicht eines ungewöhnlichen Angriffs zu reden, darauf Pläne, Betrachtungen, Kritiken zu bauen, ist ein ganz unzulässiges, grundloses Verfahren. d) Wenn die Beschaffenheit unseres Heeres sich zum Angriff vorzugsweise eignet.
     Es war sicher keine leere oder falsche Vorstellung, wenn Friedrich der Große glaubte, mit seinem beweglichen, mutigen, vertrauensvollen, an Gehorsam gewöhnten, in Präzision geübten, von Stolz beseelten und gehobenen Heere mit seiner eingeübten schrägen Angriffsart ein Instrument zu besitzen, was in seiner festen und dreisten Hand zum Angriff vielmehr geeignet sei als zur Verteidigung; alle jene Eigenschaften gingen seinen Gegnern ab, und er hatte gerade in dieser Beziehung die entschiedenste Überlegenheit; davon Gebrauch zu machen, konnte ihm in den meisten Fällen mehr wert sein, als Schanzen und Hindernisse des Bodens zu Hilfe zu rufen. - Aber eine solche Überlegenheit wird immer selten sein; ein gut exerziertes, in großen Bewegungen wohlgeübtes Heer ist nur ein Teil davon. Wenn Friedrich der Große behauptet, die preußischen Truppen seien vorzüglich zum Angriff geschickt, und ihm das seit dem unaufhörlich nachgesprochen worden ist, so muß man doch nicht zu viel auf eine solche Äußerung geben: in den meisten Fällen fühlt man sich im Kriege beim Angriff leichter und mutiger als bei der Verteidigung; dies ist aber ein Gefühl, was alle Truppen haben, auch gibt es kaum ein Heer, von dem seine Feldherren und Führer nicht dieselbe Behauptung aufgestellt hätten. Man soll also hier nicht leichtsinnig dem Schein einer Überlegenheit nachgeben und darüber reelle Vorteile versäumen.
     Eine sehr natürliche und sehr gewichtige Veranlassung zur Angriffsschlacht kann die Zusammensetzung der Waffen sein, nämlich viel Reiterei und wenig Geschütz.
     Wir fahren in Aufzählung der Gründe fort:
     e) wenn man durchaus keine gute Stellung finden kann;
     f) wenn wir mit der Entscheidung eilen müssen;
     g) endlich das gesamte Einwirken mehrerer oder aller dieser Gründe.
     2. Das Abwarten des Gegners in einer Gegend, in der man ihn dann selbst anfallen will (Minden 1759) hat seine natürlichste Veranlassung darin:
     a) daß kein so großes Mißverhältnis der Macht zu unserem Nachteil vorhanden sei, um eine starke und verstärkte Stellung zu suchen;
     b) daß sich eine Gegend finde, die dazu vorzüglich geschickt ist. Die Eigenschaften, welche dies bestimmen, gehören in die Taktik, wir wollen nur erwähnen, daß sie vorzüglich in einem leichten Zugang von unserer Seite und in allerhand Hindernissen von der feindlichen Seite her bestehen werden.
     3. Eine Stellung, um darin wirklich den feindlichen Angriff abzuwarten, wird man nehmen:
     a) wenn das Mißverhältnis der Macht uns nötigt, in Hindernissen des Bodens und hinter Schanzen Schutz zu suchen;
     b) wenn die Gegend eine vorzügliche Stellung der Art darbietet.
     Die beiden Widerstandsarten 2. und 3. werden mehr Rücksicht verdienen in dem Grade, als wir die Entscheidung selbst nicht suchen, uns mit einem negativen Erfolg begnügen und von unserem Gegner erwarten können, daß er zögere, unentschlossen sei und zuletzt in seinen Plänen steckenbleiben werde.
     4. Ein verschanztes, unangreifbares Lager erfüllt den Zweck nur:
     a) wenn es auf einem ganz vorzüglichen strategischen Punkte liegt.
     Der Charakter einer solchen Stellung ist, daß man darin gar nicht überwältigt werden könne; der Feind ist also gezwungen, jedes andere Mittel zu versuchen, d. h. seinem Zweck ohne Rücksicht auf die Stellung nachzugehen oder sie einzuschließen und auszuhungern; soll er dazu nicht imstande sein, so müssen die strategischen Eigenschaften dieser Stellung sehr groß sein.
     b) Wenn man in dem Fall ist, Hilfe von außen zu erwarten.
     Dies war der Fall des sächsischen Heeres in seiner Stellung bei Pirna. Was man auch bei dem üblen Ausgang der Sache gegen diese Maßregel gesagt hat, so bleibt doch gewiß, daß 17000 Sachsen niemals auf eine andere Art 40000 Preußen hätten neutralisieren können. Wenn die österreichische Armee bei Lobositz keinen besseren Gebrauch von der dadurch erhaltenen Überlegenheit machte, so beweist das nur, wie schlecht die ganze Kriegführung und Kriegseinrichtung war, und es ist nicht zu bezweifeln, daß Friedrich der Große, wenn die Sachsen, anstatt in das Lager von Pirna zu gehen, nach Böhmen gegangen wären, Österreicher und Sachsen in demselben Feldzuge bis über Prag hinausgetrieben und diesen Ort genommen haben würde. Wer diesen Vorteil nicht gelten lassen will und immer nur an die Gefangennehmung der ganzen Armee denkt, der weiß überhaupt keine Rechnung der Art anzulegen, und ohne Rechnung gibt es kein sicheres Resultat.
     Weil aber die Fälle von a) und b) sehr selten sind, so ist die Maßregel der verschanzten Lager allerdings eine, die reiflich überlegt werden muß, und die nur selten eine gute Anwendung findet. Die Hoffnung, dem Feind durch ein solches Lager zu imponieren und dadurch seine ganze Tätigkeit zu lähmen, ist mit zu großer Gefahr verknüpft; nämlich mit der Gefahr, sich ohne Rückzug schlagen zu müssen. Wenn Friedrich der Große seinen Zweck bei Bunzelwitz damit erreichte, so muß man dabei die richtige Beurteilung seiner Gegner bewundern, aber freilich zugleich mehr, als in anderen Fällen gestattet ist, auf die Mittel geben, die er im letzten Augenblick gefunden haben würde, sich mit den Trümmern seines Heeres einen Weg zu bahnen, und auf die Nichtverantwortlichkeit eines Königs.
     5. Befindet sich eine oder befinden sich mehrere Festungen in der Nähe der Grenze, so entsteht die Hauptfrage: ob der Verteidiger seine Entscheidung vor oder hinter ihnen geben soll. Das letztere wird motiviert:
     a) durch die Überlegenheit des Feindes, die uns zwingt, seine Macht zu brechen, ehe wir sie bekämpfen;
     b) durch die Nähe dieser Festungen, damit das Opfer an Land nicht größer sei, als wir gezwungen sind, es zu bringen;
     c) durch die Verteidigungsfähigkeit der Festungen.
     Eine der Hauptbestimmungen der Festungen ist es unstreitig oder sollte es sein, die feindliche Macht in ihrem Vorgehen zu brechen und denjenigen Teil, welchem wir die Entscheidung abfordern, beträchtlich zu schwächen. Wenn wir von den Festungen diesen Gebrauch so selten machen sehen, so rührt es daher, daß der Fall, wo eine Entscheidung von einem der beiden Teile gesucht wird, so selten vorkommt. Von diesem Fall aber handeln wir hier allein. Wir sehen es also als einen ebenso einfachen als wichtigen Grundsatz an, in allen Fällen, wo der Verteidiger eine oder mehrere Festungen in der Nähe hat, diese vor sich zu nehmen und die entscheidende Schlacht hinter denselben zu liefern. Wir wollen zugeben, daß eine Schlacht, die wir diesseits unserer Festungen verlieren, uns etwas weiter in unser Land zurückwirft, als wenn wir sie mit eben den taktischen Resultaten jenseits verloren hätten, wiewohl die Ursachen dieses Unterschiedes mehr in der Einbildungskraft als in materiellen Dingen ihren Grund haben; wir wollen uns auch selbst daran erinnern, daß eine Schlacht jenseits der Festungen in einer gutgewählten Stellung geliefert werden kann, während eine Schlacht diesseits in vielen Fällen eine Angriffsschlacht werden muß, nämlich wenn der Feind die Festung belagert und diese also in Gefahr ist, verloren zu werden; aber was sind diese feinen Nuancen gegen den Vorteil, daß wir den Feind in der Entscheidungsschlacht um ein Vierteil oder ein Dritteil seiner Macht schwächer finden werden oder, wenn es mehrere Festungen sind, vielleicht gar um die Hälfte?
     Wir glauben also, daß in allen Fällen einer unvermeidlichen Entscheidung, sei es, daß der Gegner oder unser eigener Feldherr sie sucht, und wo wir unseres Sieges über die feindliche Macht nicht ohnehin schon ziemlich sicher sind, oder wo die Gegend nicht eine dringende Veranlassung gibt, die Schlacht weiter vorwärts zu liefern, - in allen diesen Fällen, sagen wir, muß eine nahegelegene und widerstandsfähige Festung die dringendste Veranlassung geben, uns von Hause aus hinter sie zurückzuziehen und die Entscheidung diesseits, also unter ihrer Mitwirkung zu geben. Nehmen wir dabei unsere Stellung so nahe an dieser Festung, daß der Angreifende sie weder belagern noch einschließen kann, ohne uns vertrieben zu haben, so setzen wir ihn auch noch in die Notwendigkeit, uns in unserer Stellung aufzusuchen. Uns erscheint daher von allen Verteidigungsmaßregeln in gefahrvollen Lagen keine so einfach und wirksam als die Wahl einer guten Stellung nahe hinter einer bedeutenden Festung.
     Aber freilich würde die Frage sich anders stellen, wenn die Festung bedeutend weit zurückläge, weil man dann einen bedeutenden Teil seines Kriegstheaters einräumte; ein Opfer, welches, wie wir wissen, nur gebracht wird, wenn die Umstände es fordern. In diesem Fall nähert sich diese Maßregel mehr dem Rückzug ins Innere des Landes.
     Eine andere Bedingung ist die Widerstandsfähigkeit des Platzes. Bekanntlich gibt es befestigte Plätze, besonders große, die mit dem feindlichen Heer in keine Berührung gebracht werden dürfen, weil sie einem gewaltsamen Angriff mit einer bedeutenden Truppenmasse nicht gewachsen sind. In diesem Fall müßte wenigstens unsere Stellung so nahe dahinter sein, daß die Besatzung unterstützt werden könnte.
     6. Endlich ist der Rückzug in das Innere des Landes nur unter folgenden Umständen eine natürliche Maßregel:
     a) wenn unser physisches und moralisches Verhältnis zum Gegner an einen glücklichen Widerstand an der Grenze oder in ihrer Nähe nicht denken läßt;
     b) wenn Zeitgewinn eine Hauptsache ist;
     c) wenn die Verhältnisse des Landes dazu die Hand bieten, wovon wir im fünfundzwanzigsten Kapitel bereits gesprochen haben.
     Wir schließen hiermit das Kapitel von der Verteidigung eines Kriegstheaters, wenn auf der einen oder anderen Seite eine Entscheidung gesucht wird, diese als unvermeidlich ist. Aber wir müssen freilich daran erinnern, daß im Kriege die Fälle sich nicht so rein darstellen, und daß man also, wenn man unsere Sätze und Entwicklungen in Gedanken auf den wirklichen Krieg überträgt, auch schon das dreißigste Kapitel im Auge haben und sich in der Mehrheit der Fälle den Feldherrn zwischen beiden Richtungen, nach Maßgabe der Umstände der einen oder anderen näher, denken muß.

 
     Neunundzwanzigstes Kapitel:
     Fortsetzung. Sukzessiver Widerstand


     Wir haben im zwölften und dreizehnten Kapitel des dritten Buches gezeigt, daß in der Strategie ein sukzessiver Widerstand nicht in der Natur der Sache ist, und daß alle Kräfte, welche vorhanden sind, gleichzeitig gebraucht werden sollen.
     Für alle beweglichen Streitkräfte bedarf dies keiner näheren Bestimmung; wenn wir aber das Kriegsgebiet selbst mit seinen Festungen, Bodenabschnitten und selbst mit seiner bloßen Flächenausdehnung auch als eine Streitkraft betrachten, so ist diese unbeweglich, und wir können sie also nur nach und nach in Tätigkeit bringen, oder wir müssen gleich so weit zurückgehen, daß alle die Teile, welche in Wirksamkeit treten sollen, vor uns liegen. Alle Beziehungen, welche ein Heergebiet zu der Schwächung des feindlichen Heeres hat, treten dann in Wirksamkeit. Der Feind muß unsere Festungen einschließen, er muß sich der Landesoberfläche durch Besatzungen und andere Posten sichern, er muß lange Wege zurücklegen, alles auf langen Wegen herbeiziehen usw. Alle diese Wirkungen treten für den Angreifenden ein, er mag vorschreiten vor der Entscheidung oder nach der Entscheidung, nur daß sie im ersten Fall noch etwas stärker sein werden als im letzten. Hieraus folgt also, daß, wenn der Verteidiger seine Entscheidung sogleich zurückverlegen will, er allerdings darin ein Mittel hat, jene unbeweglichen Streitkräfte alle zugleich ins Spiel zu bringen.
     Von der anderen Seite ist es klar, daß dieses Zurückverlegen der Entscheidung, strenge genommen, auch keinen Einfluß haben kann auf die Wirkungssphäre, welche dem Angreifenden seinen Sieg gibt. Wir werden diese Wirkungssphäre beim Angriff näher betrachten, hier aber schon bemerken, daß sie so weit reicht, bis die Überlegenheit (nämlich das Produkt des moralischen und physischen Verhältnisses) erschöpft ist. Diese Überlegenheit erschöpft sich aber einmal durch den Verbrauch der Streitkräfte, den das Kriegstheater kostet, und dann durch den Verlust in den Gefechten; beide Teile können nicht wesentlich verändert werden, ob die Gefechte am Anfang oder am Ende, vorn oder hinten liegen. Wir glauben z. B., daß ein Sieg Bonapartes über die Russen 1812 bei Wilna ihn ebensoweit geführt haben würde wie der von Borodino, vorausgesetzt, daß er von eben der Stärke war, und daß einer bei Moskau ihn auch nicht weiter geführt hätte; Moskau war in jedem Fall die Grenze dieser Siegessphäre. Ja, es ist wohl keinen Augenblick zweifelhaft, daß eine entscheidende Schlacht an der Grenze (aus anderen Gründen) viel größere Siegesresultate gegeben haben würde und dann vielleicht auch eine weitere Siegessphäre. Es wird also auch das Zurückverlegen der Entscheidung für den Verteidiger von dieser Seite nicht bedingt
     Wir haben in dem Kapitel von den Widerstandsarten dasjenige Zurückverlegen der Entscheidung, welches als das äußerste betrachtet werden kann, unter dem Namen Rückzug ins Innere des Landes und als eine eigene Widerstandsart kennengelernt, bei der es mehr darauf abgesehen ist, daß der Angreifende sich selbst aufreiben soll, als daß er durch das Schwert der Schlacht zugrunde gerichtet werde. Aber nur wenn eine solche Absicht vorherrschend wird, kann das Zurückverlegen der Entscheidung als eine eigene Widerstandsart angesehen werden, denn sonst ist es klar, daß dabei unendlich viel Abstufungen gedacht werden können, und daß sich diese mit allen Mitteln der Verteidigung verbinden lassen. Wir sehen also die mehr oder weniger starke Mitwirkung des Kriegstheaters nicht als eine eigene Art des Widerstandes an, sondern nur als eine beliebige Beimischung der unbeweglichen Widerstandsmittel nach dem Bedürfnis der Verhältnisse und Umstände.
     Glaubt nun aber ein Verteidiger von diesen unbeweglichen Streitkräften nichts zu seiner Entscheidung nötig zu haben, oder sind ihm die damit verknüpften anderweitigen Opfer zu groß, dann bleiben sie ihm für die Folge und bilden dann gewissermaßen neuankommende Verstärkungen, die er nicht hat abwarten können; und so können sie die Mittel werden, mit derselben beweglichen Streitkraft auf die erste Entscheidung noch eine zweite und auf diese vielleicht noch eine dritte folgen zu lassen, d. h. es wird auf diese Weise eine sukzessive Kraftanwendung möglich.
     Wenn der Verteidiger an der Grenze eine Schlacht verloren hat, die nicht gerade eine Niederlage geworden ist, so kann man sich sehr wohl denken, daß er hinter seiner nächsten Festung schon imstande ist, eine zweite anzunehmen; ja, wenn er es mit einem nicht sehr entschiedenen Gegner zu tun hat, so reicht vielleicht ein beträchtlicher Bodeneinschnitt schon dazu hin, diesen zum Stehen zu bringen.
     Es ist also die Strategie beim Verbrauch des Kriegstheaters wie in allem übrigen eine Ökonomie der Kräfte; mit je wenigerem man auslangt, um so besser; aber auslangen muß man, und es kommt natürlich hier, wie im Handel, auf etwas anderes an als auf bloßes Knausern.
     Um aber einem großen Mißverständnis vorzubeugen, müssen wir darauf aufmerksam machen, daß dasjenige, was man nach einer verlorenen Schlacht noch an Widerstand leisten und versuchen kann, hier gar nicht der Gegenstand unserer Betrachtung ist, sondern nur wieviel Erfolg wir uns von diesem zweiten Widerstand im voraus versprechen, wie hoch wir ihn also in unserem Plan anschlagen dürfen. Hier gibt es fast nur einen Punkt, auf den der Verteidiger zu sehen hat, es ist sein Gegner, und zwar seinem Charakter und seinen Verhältnissen nach. Ein Gegner von schwachem Charakter, von keiner Sicherheit, von keinem großartigen Ehrgeiz oder in sehr gebundenen Verhältnissen wird sich, im Fall er glücklich ist, mit einem mäßigen Vorteil begnügen und bei jeder neuen Entscheidung, die ihm der Verteidiger anzubieten wagt, zaghaft innehalten. In diesem Fall darf der Verteidiger darauf rechnen, die Widerstandsmittel seines Kriegstheaters nach und nach in immer neuen, obgleich an sich schwachen Entscheidungsakten geltend zu machen, in welchen sich für ihn stets die Aussicht erneuert, diese Entscheidung für sich zu wenden.
     Aber wer fühlt nicht, daß wir uns hier schon auf dem Wege zu den Feldzügen ohne Entscheidung befinden, und daß diese weit mehr das Feld sukzessiver Kraftverwendungen sind, wovon wir im folgenden Kapitel mehr sagen wollen.

 
     Dreißigstes Kapitel:
     Fortsetzung. Verteidigung eines Kriegstheaters,
     wenn keine Entscheidung gesucht wird


     Ob und auf welche Art es Kriege geben könne, in welchen keiner von beiden Teilen der angreifende ist, also keiner etwas Positives will, werden wir im letzten Buche näher in Betrachtung ziehen, hier haben wir nicht nötig, uns mit diesem Widerspruch zu beschäftigen, da wir für ein einzelnes Kriegstheater die Gründe zu einer solchen doppelseitigen Verteidigung füglich in den Verhältnissen, welche diese Teile zum Ganzen haben, voraussetzen können.
     Aber nicht bloß solche Feldzüge werden ohne den Brennpunkt einer notwendigen Entscheidung sein, sondern es gibt auch, wenn wir uns an die Geschichte halten, eine Menge von Feldzügen, wo es nicht an einem Angreifenden, also nicht an einem positiven Wollen von der einen Seite fehlt, wo aber dieses Wollen so schwach ist, daß es nicht mehr um jeden Preis sein Ziel verfolgt und notwendig eine Entscheidung herbeiführt, sondern wo der Angreifende keine anderen Vorteile sucht, als die sich ihm aus den Umständen ergeben wollen. Er verfolgt hier entweder gar kein bestimmtes selbstgestecktes Ziel und erntet nur die Früchte, die sich ihm in dem Verlauf der Zeit darbieten, oder er hat zwar ein Ziel, macht es aber von günstigen Umständen abhängig.
     Obgleich ein solcher Angriff, der von der strengen logischen Notwendigkeit eines Vorschreitens gegen das Ziel losläßt und fast wie ein Müßling den Feldzug durchschlendert, um sich rechts und links nach einer wohlfeilen Gelegenheitsfrucht umzusehen, sehr wenig von der Verteidigung selbst verschieden ist, die ja ihrem Feldherrn auch verstattet, solche Früchte zu brechen, so wollen wir doch die nähere philosophische Betrachtung dieser Kriegführung bis auf das Buch vom Angriff verschieben und uns hier nur an die Folgerung halten, daß in einem solchen Feldzug weder vom Angreifenden noch vom Verteidiger alles auf die Entscheidung bezogen werden kann, daß diese also nicht mehr den Schlußstein des Gewölbes abgibt, nach dem alle Linien der strategischen Überbogung hingerichtet werden können.
     Feldzüge dieser Art sind nun, wenn man die Kriegsgeschichte aller Zeiten und Länder im Auge hat, nicht nur die Mehrzahl überhaupt, sondern eine solche Mehrzahl, daß die anderen wie Ausnahmen von der Regel erscheinen. Wenn nun auch in der Folge dies Verhältnis sich ändern sollte, so ist doch gewiß, daß es immer eine große Zahl solcher Feldzüge geben wird, und daß wir also bei der Lehre von der Verteidigung eines Kriegstheaters auf diese Seite derselben Rücksicht nehmen müssen. Wir werden versuchen, die Eigentümlichkeiten anzugeben, welche sich an den äußersten Grenzen dieser Seite zeigen. Der wirkliche Fall des Krieges wird meistens zwischen die beiden verschiedenen Richtungen fallen, bald der einen, bald der anderen näher liegen, und wir können daher die praktische Wirksamkeit dieser Eigentümlichkeiten nur in der Modifizierung sehen, welche durch ihre Gegenwirkung in der absoluten Form des Krieges hervorgebracht wird. Wir haben schon im dritten Kapitel dieses Buches gesagt, daß das Abwarten einer der größten Vorteile ist, den die Verteidigung vor dem Angriff voraus hat; es geschieht überhaupt im Leben selten, aber am allerwenigsten im Kriege alles, was nach den Umständen geschehen sollte. Die Unvollkommenheit der menschlichen Einsicht, die Scheu vor einem üblen Ausgang, die Zufälle, von welchen die Entwicklung der Handlung berührt wird, machen, daß von allen durch die Umstände gebotenen Handlungen immer eine Menge nicht zur Ausführung kommen. Im Kriege, wo die Unvollkommenheit des Wissens, die Gefahr der Katastrophe, die Menge der Zufälle unvergleichlich viel größer sind als in jeder anderen menschlichen Tätigkeit, muß deshalb auch die Zahl der Versäumnisse, wenn wir es so nennen wollen, notwendig viel größer sein. Dies ist nun das reiche Feld, auf dem die Verteidigung Früchte erntet, die ihr von selbst zuwachsen. Verbinden wir mit dieser Erfahrung die selbständige Wichtigkeit, welche die Bodenfläche im Kriegführen hat, so ergibt sich die auch im Kampf des Friedens, nämlich im Rechtsstreit geheiligte Maxime: beati sunt possidentes; und diese Maxime ist es, welche hier an die Stelle der Entscheidung tritt, die in allen auf gegenseitiges Niederwerfen gerichteten Kriegen den Brennpunkt der ganzen Bahn ausmacht. Sie ist von außerordentlicher Fruchtbarkeit, freilich nicht an Handlungen, die sie hervorruft, aber an Aufschlüssen und Motiven für das Nichthandeln und für alles dasjenige Handeln, welches im Interesse des Nichthandelns geschieht. Wo keine Entscheidung gesucht und erwartet werden kann, da ist kein Grund, etwas aufzugeben, denn dies könnte nur geschehen, um sich damit bei der Entscheidung Vorteile zu erkaufen. Die Folge ist, daß der Verteidiger alles oder wenigstens soviel als möglich behalten, d. h. decken, der Angreifende aber soviel als ohne Entscheidung geschehen kann, einnehmen, d. h. sich soweit als möglich ausbreiten will. Wir haben es hier nur mit dem ersteren zu tun.
     Überall, wo der Verteidiger mit seinen Streitkräften nicht ist, kann der Angreifende in Besitz treten, und dann ist der Vorteil des Abwartens für ihn; es entsteht also das Bestreben, das Land überall mittelbar zu decken und es darauf ankommen zu lassen, ob der Gegner die zur Deckung aufgestellten Streitkräfte angreifen wird.
     Ehe wir nun die Eigentümlichkeiten der Verteidigung näher angeben, müssen wir aus dem Buche vom Angriff diejenigen Gegenstände entlehnen, welchen derselbe im Fall einer nichtgesuchten Entscheidung nachzustreben pflegt. Es sind folgende:
     1. die Einnahme eines beträchtlichen Landstriches, soweit dies ohne entscheidendes Gefecht zu erreichen ist;
     2. die Eroberung eines bedeutenden Magazins unter eben der Bedingung;
     3. die Eroberung einer nicht gedeckten Festung. Zwar ist eine Belagerung ein mehr oder weniger großes Werk, was oft große Anstrengungen kostet, aber es ist eine Unternehmung, die nichts von der Natur einer Katastrophe hat. Man kann im schlimmsten Fall davon ablassen, ohne dabei einen bedeutenden positiven Verlust zu machen.
     4. Endlich ein glückliches Gefecht von einiger Bedeutung, wobei aber nicht viel gewagt und folglich nichts Großes gewonnen werden kann; ein Gefecht, was nicht als folgereicher Knoten eines ganzen strategischen Verbandes, sondern um seiner selbst willen, wegen der Trophäen, wegen der Waffenehre da ist. Für einen solchen Zweck liefert man natürlich das Gefecht nicht um jeden Preis, sondern erwartet entweder vom Zufall die Gelegenheit dazu oder sucht sie durch Geschicklichkeit herbeizuführen.
     Diese vier Gegenstände des Angriffs bringen nun beim Verteidiger folgende Bestrebungen hervor:
     1. die Festungen zu decken, indem er sie hinter sich nimmt;
     2. das Land zu decken, indem er sich ausdehnt;
     3. wo die Ausdehnung nicht zureicht, durch Seitenmärsche sich schnell vorzulegen;
     4. sich dabei vor nachteiligen Gefechten zu hüten.
     Daß diese drei ersten Bestrebungen die Absicht haben, dem Gegner die Initiative zuzuschieben und vom Abwarten den äußersten Nutzen zu ziehen, ist klar, und diese Absicht ist so tief in der Natur der Sache gegründet, daß es eine große Torheit wäre, sie von vornherein zu mißbilligen. Sie muß notwendig in dem Maße Platz greifen, als die Entscheidung weniger zu erwarten ist, und sie macht in allen solchen Feldzügen immer das Wesen der tiefsten Fundamente aus, wenn auch auf der Oberfläche des Handelns, in den kleinen, nicht entscheidenden Akten, oft ein ziemlich lebhaftes Spiel der Tätigkeit sein kann.
     Hannibal so gut wie Fabius und Friedrich der Große so gut wie Daun haben diesem Prinzip gehuldigt, sooft sie eine Entscheidung weder suchten noch erwarteten. Das vierte Bestreben dient den drei anderen zum Korrektiv, ist die Conditio sine qua non derselben.
     Wir wollen jetzt einige nähere Betrachtungen über diese Gegenstände anstellen.
     Daß man sich mit dem Heer vor eine Festung stellt, um sie vor dem feindlichen Angriff zu schützen, hat auf den ersten Anblick etwas Widersinniges, es scheint eine Art von Pleonasmus zu sein, denn Festungswerke werden ja gebaut, damit sie dem feindlichen Angriff selbst widerstehen. Gleichwohl sehen wir diese Maßregel tausend- und abermals tausendmal vorkommen. So ist es aber mit der Kriegführung, daß die gewöhnlichsten Dinge oft am unverständlichsten zu sein scheinen. Wer könnte aber den Mut haben, auf den Grund dieses anscheinenden Widerspruches jene tausend und abermals tausend Fälle für ebensoviel Fehler zu erklären? Die ewig wiederkehrende Form beweist, daß es einen tiefliegenden Grund dafür geben muß. Dieser Grund aber ist kein anderer als der oben angegebene, in der moralischen Inertie liegende.
     Stellen wir uns vor unserer Festung, so kann der Feind diese nicht angreifen, wenn er unsere Armee nicht vorher schlägt; eine Schlacht aber ist eine Entscheidung; sucht er diese nicht, so wird er die Schlacht nicht liefern, und wir bleiben ohne Schwertstreich im Besitz unserer Festung. Wir müssen es also in allen Fällen, wo wir dem Gegner die Absicht einer Entscheidung nicht zutrauen, darauf ankommen lassen, ob er sich dazu entschließt, denn es ist die größte Wahrscheinlichkeit, daß er es nicht tut. Bedenkt man, daß dabei in den meisten Fällen noch das Mittel bleibt, uns in dem Augenblick, wo der Feind gegen unser Vermuten zum Angriff anrückt, hinter die Festung zurückzuziehen, so ist bei dieser Aufstellung vor der Festung noch weniger Gefahr, und die nahe Wahrscheinlichkeit, den Status quo ohne Aufopferung zu erhalten, ist dann nicht einmal von einer entfernten Gefahr begleitet.
     Stellen wir uns hinter der Festung, so geben wir dem Angreifenden einen Gegenstand hin, der recht für seine Verhältnisse gemacht ist. Er wird, wenn die Festung nicht etwa sehr bedeutend und er sehr unvorbereitet ist, die Belagerung wohl oder übel unternehmen; damit nun diese nicht mit der Einnahme endige, müssen wir zum Entsatz schreiten. Das positive Handeln, die Initiative ist also nun an uns, und der Gegner, welcher bei seiner Belagerung als vorschreitend gegen sein Ziel zu betrachten ist, ist im Posseß. Daß die Sache immer diese Wendung nimmt, lehrt die Erfahrung, und es liegt auch in ihrer Natur. Eine Belagerung ist, wie wir schon gesagt haben, nicht mit einer Katastrophe verbunden. Der schwächste, unentschlossenste, faulste Feldherr, der sich niemals zu einer Schlacht entschlossen hätte, schreitet unbedenklich zur Belagerung, sobald er an die Festung kommen kann, und wäre es auch nur mit dem Feldgeschütz. Im schlimmsten Fall kann er die Sache aufgeben, ohne einen positiven Verlust zu leiden. Zu dieser Wendung des Verhältnisses tritt noch die Gefahr, in welcher die meisten Festungen mehr oder weniger schweben, durch einen Sturm oder sonst auf eine unregelmäßige Art genommen zu werden, und dieser Umstand darf gewiß von dem Verteidiger in seinem Kalkül der Wahrscheinlichkeiten nicht übersehen werden.
     Es ist also, diese beiden Momente aneinander abgewogen, natürlich, daß der Verteidiger den Vorteil, sich unter besseren Umständen zu schlagen, jenem anderen nachsetzt, sich höchst wahrscheinlich gar nicht schlagen zu brauchen. Auf diese Weise erscheint uns dann die Sitte, sich mit den Truppen im Felde vor seiner Festung aufzustellen, sehr natürlich und einfach. Friedrich der Große hat sie mit Glogau gegen die Russen, mit Schweidnitz, Neiße und Dresden gegen die Österreicher fast immer beobachtet. Dem Herzog von Bevern bekam diese Maßregel bei Breslau schlecht, hinter Breslau hätte er nicht angegriffen werden können; aber die Überlegenheit des österreichischen Heeres während des Königs Abwesenheit und der Umstand, daß die Annäherung des letzteren den Österreichern diese Überlegenheit bald zu nehmen drohte, machten auch, daß der Zeitpunkt der Breslauer Schlacht keineswegs ein solcher war, wo eine Entscheidung nicht zu erwarten gewesen wäre, daher denn auch die Stellung von Breslau weniger angemessen erscheint. Auch würde der Herzog von Bevern es gewiß vorgezogen haben, sich hinter Breslau aufzustellen, wenn dann der Ort mit seinen Vorräten nicht einem Bombardement preisgegeben wäre, welches der in solchen Fällen nichts weniger als billig denkende König dem Herzog sehr übel genommen haben würde. Daß der Herzog einen Versuch machte, Breslau durch eine davor genommene verschanzte Stellung zu sichern, kann man am Ende nicht mißbilligen, denn es war sehr möglich, daß der Prinz Karl von Lothringen, durch die Einnahme von Schweidnitz zufriedengestellt und durch des Königs Anmarsch bedroht, sich dadurch hätte vom weiteren Vorschreiten abhalten lassen. Das Beste wäre gewesen, es mit der Schlacht selbst nicht ernstlich zu meinen, sondern in dem Augenblick, wo die Österreicher zum Angriff vorrückten, sich durch Breslau abzuziehen; dann zog der Herzog von Bevern aus dem Abwarten alle Vorteile, ohne sie mit einer großen Gefahr zu bezahlen.
     Wenn wir hier die Aufstellung des Verteidigers vor den Festungen aus einem höheren, durchgreifenden Grund hergeleitet und gerechtfertigt haben, so müssen wir doch auch bemerken, daß ein untergeordneter Grund hinzutritt, der freilich näher liegt, aber für sich allein nicht gelten konnte, weil er nicht durchgreifend ist. Es ist nämlich der Gebrauch, welchen die Armee von der nächsten Festung als Vorratsort zu machen pflegt; dies ist so bequem und hat so manche Vorteile, daß ein General sich nicht leicht entschließen wird, seine Bedürfnisse von weiter entlegenen Festungen zu beziehen oder in offenen Plätzen niederzulegen. Ist aber die Festung Vorratsort des Heeres, so ist in vielen Fällen das Aufstellen vor derselben durchaus notwendig und in den meisten sehr natürlich. Aber man sieht wohl, daß dieser naheliegende Grund, welcher von denen, die überhaupt nicht viel nach den entfernteren fragen, leicht überschätzt werden kann, weder hinreicht, alle vorgekommenen Fälle zu erklären, noch in seinen Beziehungen wichtig genug ist, um ihm die höchste Entscheidung einzuräumen.
     Die Eroberung einer oder mehrerer Festungen, ohne dabei eine Schlacht zu wagen, ist so sehr das natürliche Ziel aller der Angriffe, die nicht auf große Entscheidung gehen, daß der Verteidiger die Verhinderung dieser Absicht zu einem Hauptgegenstand seiner ganzen Industrie macht. Daher sehen wir denn auf den Kriegstheatern, wo viele Festungen sind, sich fast alle Bewegungen darum drehen, daß der Angreifende einer derselben unvermutet beizukommen sucht und deshalb mancherlei Finten anwendet, der Verteidiger aber stets durch gut vorbereitete Bewegungen sich noch schnellstens vorzulegen sucht. Dies ist der durchgehende Charakter fast aller niederländischen Feldzüge von Ludwig XIV. bis auf den Marschall von Sachsen.
     Soviel über das Decken der Festungen.
     Die Deckung des Landes durch eine ausgedehnte Aufstellung der Streitkräfte kann nur in Verbindung mit beträchtlichen Hindernissen des Bodens gedacht werden. Die großen und kleinen Posten, welche man dabei bilden muß, können nur durch starke Stellungen eine gewisse Widerstandsfähigkeit bekommen, und da die natürlichen Hindernisse selten zureichend gefunden werden, so tritt die Verschanzungskunst hinzu. Nun ist aber wohl zu merken, daß der Widerstand, welchen man dadurch auf einem Punkt erhält, immer nur als ein relativer (siehe das Kapitel von der Bedeutung des Gefechts) und nicht als ein absoluter betrachtet werden kann. Es kann sich zwar wohl zutragen, daß ein solcher Posten unüberwältigt bleibt und also in dem einzelnen Fall ein absolutes Resultat erhält, allein da die große Zahl der Posten jeden einzelnen im Verhältnis zum Ganzen doch nur als schwach und dem möglichen Anfall einer großen Übermacht preisgegeben erscheinen läßt, so wäre es unvernünftig, auf den Widerstand jedes einzelnen Postens sein ganzes Heil zu bauen. Es ist also bei so ausgedehnter Aufstellung nur auf einen verhältnismäßig langen Widerstand, aber nicht auf eigentlichen Sieg zu rechnen. Aber dieser Wert der einzelnen Posten reicht auch für den Zweck und die Berechnung des Ganzen hin. In Feldzügen, wo man keine große Entscheidung zu fürchten hat, kein rastloses Vorschreiten zur Überwältigung des Ganzen, da sind Postengefechte, wenn sie auch mit dem Verlust des Postens endigen, weniger gefährlich. Selten ist damit etwas anderes als eben der Verlust dieses Postens und einiger Trophäen verbunden; der Sieg greift nicht weiter in die Verhältnisse ein, er reißt kein Fundament nieder, dem eine Menge Trümmer nachfallen. Im schlimmsten Fall, wenn nämlich das ganze Verteidigungssystem durch den Verlust des einzelnen Postens gestört worden ist, wird dem Verteidiger immer noch Zeit bleiben, sein Korps zu vereinigen und mit der Gesamtheit die Entscheidung anzubieten, die der Angreifende nach unserer Voraussetzung nicht sucht. Gewöhnlich geschieht es daher auch, daß mit dieser Vereinigung der Macht der Akt beschlossen und dem weiteren Vorschreiten des Angreifenden Stillstand geboten wird. Etwas Land, einige Menschen und Kanonen sind die Verluste des Verteidigers und die genügenden Erfolge des Angreifenden.
     Einer solchen Gefahr, sagen wir, kann sich der Verteidiger für den Fall des Unglückes schon aussetzen, wenn er auf der anderen Seite die Möglichkeit oder vielmehr die Wahrscheinlichkeit erringt, daß es zu allem dem nicht kommt, und der Angreifende zaghaft oder vorsichtig, wie es eben zu nennen ist, vor seinen Posten stehen bleibt, ohne sich an ihnen den Kopf blutig zu rennen. Bei dieser Betrachtung müssen wir nur nicht aus dem Auge lassen, daß wir einen Angreifenden voraussetzen, der nichts Großes wagen will; einem solchen kann ein mäßiger, aber starker Posten mit Recht Stillstand gebieten: denn wenn er ihn auch unzweifelhaft überwältigen kann, so frägt es sich doch, um welchen Preis das geschehen wird, und ob dieser Preis nicht zu hoch für das ist, was er in seiner Lage mit dem Sieg anfangen kann.
     Auf diese Weise zeigt es sich, wie dem Verteidiger der starke relative Widerstand, welchen eine in viele nebeneinanderliegende Posten ausgedehnte Aufstellung gewähren kann, in der Berechnung seines ganzen Feldzuges ein genügendes Resultat sein kann. Um den Blick auf die Kriegsgeschichte, den hierbei der Leser in Gedanken tun wird, gleich auf den rechten Punkt zu führen, wollen wir bemerken, daß diese ausgedehnten Stellungen am häufigsten in der letzten Hälfte der Feldzüge vorkommen, weil dann der Verteidiger den Angreifenden sowie seine Absichten und Verhältnisse für dieses Jahr erst recht kennengelernt, und bei dem Angreifenden sich das wenige von Unternehmungsgeist, was er mitgebracht hatte, verloren hat.
     Bei dieser Verteidigung in einer ausgedehnten Aufstellung, wodurch das Land, die Vorräte, die Festungen gedeckt werden, müssen natürlich alle großen Hindernisse des Bodens wie Ströme, Flüsse, Gebirge, Wälder, Moräste eine große Rolle spielen, eine vorherrschende Wichtigkeit bekommen. Über ihren Gebrauch beziehen wir uns auf das früher Gesagte.
     Durch diese vorherrschende Wichtigkeit des topographischen Elementes wird dasjenige Wissen und diejenige Tätigkeit des Generalstabes besonders in Anspruch genommen, welche als die eigentümlichsten desselben betrachtet zu werden pflegen. Weil nun der Generalstab derjenige Teil des Heeres zu sein pflegt, welcher am meisten schreibt und drucken läßt, so folgt, daß diese Teile der Feldzüge historisch mehr fixiert werden, und es entspringt zugleich die ziemlich natürliche Neigung, sie zu systematisieren und aus der historischen Auflösung des einen Falles allgemeine Auflösungen für die folgenden Fälle zu machen. Dies aber ist ein vergebliches und also falsches Bestreben. Auch bei dieser mehr passiven, mehr an die Örtlichkeit gebundenen Kriegsart ist jeder Fall ein anderer und muß anders behandelt werden. Die vortrefflichsten räsonierenden Memoiren über diese Gegenstände sind daher nur geeignet, mit ihnen vertraut zu machen, nicht aber als Vorschriften zu dienen; sie werden eigentlich wieder Kriegsgeschichte, nur eine diesen Kriegen eigentümliche Seite derselben.
     So notwendig und achtungswert die Tätigkeit des Generalstabes ist, die wir hier nach der gewöhnlichen Ansicht als seine eigentümlichste bezeichnet haben, so müssen wir doch gegen die Usurpationen warnen, welche oft zum Nachteil des Ganzen daraus hervorgehen. Die Wichtigkeit, welche diejenigen Häupter desselben, die in diesem Zweige des Kriegsdienstes die stärksten sind, dabei bekommen, gibt ihnen oft eine gewisse allgemeine Herrschaft über die Geister und am ersten über den Feldherrn selbst, und daraus entspringt denn eine zur Einseitigkeit führende Ideengewohnheit; zuletzt sieht der Feldherr nichts mehr als Berge und Pässe, und was eine nach den Umständen bestimmte frei gewählte Maßregel sein sollte, wird Manier, wird zur zweiten Natur.
     So hat im Jahr 1793 und 1794 bei dem preußischen Heere der Oberst Grawert, welcher die Seele des damaligen Generalstabes und bekanntlich ein rechter Mann der Berge und Pässe war, zwei Feldherren von der größten eigentümlichen Verschiedenheit, den Herzog von Braunschweig und den General Möllendorf, genau in denselben Wegen der Kriegführung erhalten.
     Daß eine längs einem starken Bodenabschnitt gebildete Verteidigungslinie der Weg sei, welcher zum Kordonkrieg führen kann, ist einleuchtend. Sie würde in den meisten Fällen notwendig dahin führen müssen, wenn wirklich die ganze Ausdehnung des Kriegstheaters auf diese Weise unmittelbar gedeckt werden sollte, weil doch die meisten Kriegstheater eine Ausdehnung haben, gegen welche die natürliche taktische Ausdehnung der zur Verteidigung bestimmten Streitkräfte sehr gering ist. Allein da der Angreifende durch die Umstände sowie durch seine eigenen Anstalten an gewisse Hauptrichtungen und Straßen gebunden ist, und zu starke Ausweichungen davon selbst gegen den passivsten Verteidiger zu viel Unbequemlichkeiten und Nachteile herbeiführen würden, so kommt es für den Verteidiger meistens nur darauf an, von diesen Hauptrichtungen rechts und links eine gewisse Anzahl Meilen oder Märsche weit die Gegend zu decken. Diese Deckung selbst aber geschieht wieder, indem man sich begnügt, die Hauptstraßen und Zugänge mit Verteidigungsposten zu versehen und die zwischenliegende Gegend bloß mit Beobachtungsposten. Die Folge ist dann freilich, daß der Angreifende zwischen zwei Posten mit einer Kolonne durchgehen und also den auf einen dieser Posten beabsichtigen Angriff von mehreren Seiten tun kann. Darauf sind nun diese Posten einigermaßen eingerichtet, indem sie teils Flankenanlehnungen haben, teils Flankenverteidigungen (sogenannte Haken) bilden, teils durch eine zurückstehende Reserve oder durch einige Truppen des Nebenpostens Hilfe erhalten. Auf diese Weise schränkt sich die Menge der Posten noch mehr ein, und das gewöhnliche Resultat ist, daß ein in solcher Verteidigung begriffenes Heer sich in 4 oder 5 Hauptposten auflöst.
     Für zu weit entfernte und doch einigermaßen bedrohte Hauptzugänge werden dann besondere Zentralpunkte bestimmt, die gewissermaßen kleine Kriegstheater innerhalb des großen bilden. So haben die Österreicher während des Siebenjährigen Krieges mit ihrer Hauptarmee meist 4 bis 5 Posten im niederschlesischen Gebirge eingenommen, während in Oberschlesien ein kleines, einigermaßen selbständiges Korps ein ähnliches Verteidigungssystem für sich hatte.
     Je weiter nun ein solches Verteidigungssystem sich von der unmittelbaren Deckung entfernt, um so mehr müssen Bewegung, aktive Verteidigung und selbst offensive Mittel zu Hilfe genommen werden. Gewisse Korps werden als Reserven betrachtet, außerdem eilt ein Posten mit seinen entbehrlichen Truppen dem anderen zu Hilfe. Diese Unterstützung geschieht entweder, indem man wirklich von hinten zur Verstärkung und Erneuerung des passiven Widerstandes herbeieilt, oder indem der Feind in der Seite angefallen, oder indem er gar in seinem Rückzug bedroht wird. Bedroht der Angreifende die Seite eines Postens nicht mit einem Angriff sondern bloß mit einer Stellung, indem er auf die Verbindungen dieses Postens zu wirken sucht, so wird entweder das zu diesem Behuf vorgeschobene Korps wirklich angegriffen oder der Weg der Repressalien eingeschlagen, indem man auf die feindlichen Verbindungen zu wirken sucht.
     Man sieht also, daß diese Verteidigung, so passiver Natur auch die Hauptgrundlage derselben ist, doch eine Menge aktiver Mittel in sich aufnehmen muß und damit auf mancherlei Weise in den zusammengesetzten Verhältnissen ausgerüstet sein kann. Gewöhnlich gelten diejenigen, welche sich der aktiven oder gar der offensiven Mittel am meisten bedienen, für die besseren; allein teils hängt dies sehr von der Natur der Gegend, der Beschaffenheit der Streitkräfte und selbst von dem Talent des Feldherrn ab, teils kann man überhaupt doch auch von der Bewegung und den übrigen aktiven Hilfsmitteln leicht zu viel erwarten und an der örtlichen Verteidigung eines starken Bodenhindernisses leicht zu viel aufgeben. Wir glauben hiermit, was wir unter einer ausgedehnten Verteidigungslinie verstehen, hinreichend auseinandergesetzt zu haben, und wenden uns nun zu dem dritten Hilfsmittel: dem Vorlegen durch eine schnelle Seitenbewegung.
     Dieses Mittel gehört ganz notwendig zu dem Apparat derjenigen Landesverteidigung, von welcher hier die Rede ist. Teils kann der Verteidiger oft trotz der ausgedehntesten Stellungen nicht alle bedrohten Eingänge seines Landes besetzen; teils muß er in vielen Fällen mit dem Kern seiner Macht bereit sein, sich nach denjenigen Posten hinzubegeben, gegen welche sich der Kern der feindlichen Macht werfen will, weil diese Posten sonst zu leicht überwältigt werden würden; endlich muß überhaupt derjenige Feldherr, welcher seine Streitkräfte nicht gern in einer ausgedehnten Stellung zum passiven Widerstand festnageln läßt, seinen Zweck, die Deckung des Landes, um so mehr durch schnelle, wohlüberlegte, wohleingeleitete Bewegungen erreichen. Je größer die Stellen sind, welche er offenläßt, um so größer muß die Virtuosität in der Bewegung sein, um sich überall noch zur rechten Zeit vorzuschieben.
     Die natürliche Folge dieses Bestrebens ist, daß man sich überall Stellungen aussucht, die man in solchem Fall bezieht, und die Vorteile genug darbieten, um den Gedanken eines Angriffs beim Gegner zu entfernen, sobald unser Heer oder auch nur ein Teil desselben in der Stellung angelangt ist. Da diese Stellungen immer wiederkehren, und sich dabei alles um die Erreichung derselben dreht, so werden sie gewissermaßen die Selbstlauter dieser ganzen Kriegführung, und daher hat man dieselbe auch wohl den Postenkrieg genannt.
     So wie die gedehnte Aufstellung und der relative Widerstand in einem Kriege ohne große Entscheidung nicht die Gefahren hat, die ursprünglich darin liegen, so hat auch dieses Vorlegen durch Seitenmärsche nicht das Bedenken, welches im Augenblick großer Entscheidungen damit verknüpft sein würde. Einem entschlossenen Gegner, der Großes kann und will, und der also eine beträchtliche Kraftausgabe nicht scheut, sich im letzten Augenblick eiligst in eine Stellung vorschieben zu wollen, wäre der halbe Weg zur entschiedensten Niederlage, denn gegen einen rücksichtslosen Stoß mit voller Gewalt würde ein solches Hineilen und Hinstolpern in eine Stellung nicht Stich halten. Aber für einen Gegner, der das Werk nicht mit der vollen Faust, sondern nur mit den Fingerspitzen angreift, der von einem großen Resultat oder vielmehr von der Einleitung dazu nicht einmal Gebrauch machen kann, der nur einen mäßigen Vorteil sucht, aber zu geringem Preise, einem solchen kann diese Art des Widerstandes allerdings mit Erfolg entgegengestellt werden.
     Eine natürliche Folge ist, daß auch dieses Mittel im allgemeinen mehr in der zweiten Hälfte der Feldzüge vorkommt als bei der Eröffnung.
     Auch hier hat der Generalstab Gelegenheit, sein topographisches Wissen in ein System zusammenhängender Maßregeln auszubilden, welches sich auf die Wahl und Zubereitung der Stellungen und der dahin führenden Wege bezieht.
     Wo am Ende alles darauf gerichtet ist, auf der einen Seite einen gewissen Punkt zu erreichen, auf der anderen es zu verhindern, da kommen beide Teile oft in den Fall, ihre Bewegungen unter den Augen des Gegners ausführen zu müssen, daher denn diese Bewegungen mit einer sonst nicht erforderlichen Vorsicht und Genauigkeit eingerichtet werden müssen. Ehemals, wo das Hauptheer nicht in selbständige Divisionen geteilt war und auch auf dem Marsch immer wie ein unteilbares Ganzes betrachtet wurde, war diese Vorsicht und Genauigkeit mit viel mehr Umständlichkeit und deshalb mit einem großen Aufwand von taktischer Kunst verbunden. Freilich mußten gerade bei diesen Gelegenheiten oft einzelne Brigaden eines Treffens vorauseilen, sich gewisser Punkte versichern und also eine selbständige Rolle übernehmen, bereit, mit dem Feinde anzuknüpfen, wenn auch das übrige nicht heran war; aber das waren und blieben Anomalien, und die Marschordnung blieb im allgemeinen immer darauf gerichtet, das Ganze in seiner ungestörten Ordnung hinzuführen und solche Aushilfen soviel als möglich zu vermeiden. Jetzt, wo die Teile des Hauptheeres wieder in selbständige Glieder zerfallen, und diese Glieder es wagen dürfen, selbst mit dem feindlichen Ganzen das Gefecht anzufangen, wenn nur die anderen nahe genug sind, es fortzuführen und zu beendigen, jetzt hat auch ein solcher Seitenmarsch, selbst unter den Augen des Gegners, weniger Schwierigkeit. Was sonst durch den eigentlichen Mechanismus der Marschordnung erreicht werden mußte, erreicht man jetzt durch das frühere Absenden einzelner Divisionen, den beschleunigten Marsch anderer und die größte Freiheit in Verwendung des Ganzen.
     Durch die hier betrachteten Mittel des Verteidigers soll dem Angreifenden die Eroberung einer Festung, die Einnahme eines beträchtlichen Landstriches oder eines Magazins verwehrt werden. Sie wird ihm verwehrt, wenn vermittelst jener Wege ihm überall solche Gefechte angeboten werden, daß er darin entweder zu wenig Wahrscheinlichkeit des Erfolges, zu große Gefahr einer Rückwirkung im Falle des Mißlingens oder überhaupt einen für den Zweck und für seine Verhältnisse zu großen Kraftaufwand findet.
     Wenn nun der Verteidiger diesen Triumph seiner Kunst und Einrichtungen erlebt, der Angreifende überall, wohin er den Blick richtet, durch weise Vorkehrungen sich jede Aussicht benommen sieht, einen seiner mäßigen Wünsche zu erreichen, so sucht das offensive Prinzip oft einen Ausweg in der Befriedigung der bloßen Waffenehre. Der Gewinn irgendeines bedeutenden Gefechts gibt den Waffen das Ansehen einer Überlegenheit, befriedigt die Eitelkeit des Feldherrn, des Hofes, des Heeres und des Volkes und damit einigermaßen die Erwartungen, welche natürlich an jeden Angriff geknüpft sind. Ein vorteilhaftes Gefecht von einiger Wichtigkeit bloß um des Sieges, um der Trophäen willen ist also die letzte Hoffnung des Angreifenden. Man glaube nicht, daß wir uns in einen Widerspruch verwickeln, weil wir uns hier noch unter unserer eigenen Voraussetzung befinden: daß die guten Maßregeln des Verteidigers dem Angreifenden alle Aussicht benommen haben, vermittelst eines glücklichen Gefechts einen jener anderen Gegenstände zu erreichen. Zu dieser Aussicht würden zwei Bedingungen gehören, nämlich vorteilhafte Verhältnisse im Gefecht und demnächst, daß der Erfolg auch wirklich zu einem jener Gegenstände führe
     Das erstere kann sehr wohl ohne das letztere stattfinden, und es werden sich also einzelne Korps und Posten des Verteidigers viel häufiger in der Gefahr befinden, in nachteilige Gefechte zu geraten, wenn der Angreifende es bloß auf die Ehre des Schlachtfeldes absieht, als wenn er auch noch die Bedingung weiterer Vorteile daranknüpft.
     Wenn wir uns ganz in Dauns Lage und Denkungsart hineinversetzen beabsichtigte, daß aber ein folgenreicher Sieg, der den König gezwungen hätte, Dresden und Neiße sich selbst zu überlassen, eine ganz andere Aufgabe war, in welche er sich nicht einlassen wollte.
     Man glaube ja nicht, daß dies kleinliche oder gar müßige Distinktionen sind, vielmehr haben wir es hier mit einem der am tiefsten gehenden Grundzüge des Krieges zu tun. Die Bedeutung eines Gefechts ist für die Strategie die Seele desselben, und wir können nicht genug wiederholen, daß bei ihr alle Hauptsachen immer aus der letzten Absicht beider Teile wie aus dem Schlußpunkt des ganzen Gedankensystems hervorgehen. Daher kann dann zwischen Schlacht und Schlacht ein solcher strategischer Unterschied sein, daß sie gar nicht mehr als dasselbe Instrument betrachtet werden kann.
     Da nun der Verteidiger, obgleich ein solcher Sieg des Angreifenden kaum als eine wesentliche Beeinträchtigung der Verteidigung betrachtet werden kann, doch seinem Gegner auch diesen Vorteil nicht gern einräumen wird, zumal da man niemals weiß, was sich zufällig noch daran anknüpfen kann, so ist die beständige Aufmerksamkeit auf die Verhältnisse aller seiner bedeutenden Korps und Posten noch ein besonderer Gegenstand seiner Industrie. Freilich hängt hier das meiste von dem klugen Betragen der Führer dieser Korps ab, aber sie können doch auch durch unzweckmäßige Bestimmungen von seiten des Feldherrn in unvermeidliche Katastrophen verwickelt werden. Wem fällt hier nicht das Fouquésche Korps bei Landeshut und das Fincksche bei Maxen ein?
     Friedrich der Große hatte in beiden Fällen zu viel auf die Wirkung hergebrachter Ideen gerechnet. Er konnte unmöglich glauben, daß man sich in der Stellung von Landeshut mit 10000 Mann wirklich gegen 30000 mit Glück schlagen, oder daß Finck einer von allen Seiten überwältigend herbeiströmenden Übermacht widerstehen könne; sondern er glaubte, die Stärke der Landeshuter Stellung werde wie bisher als ein gültiger Wechsel akzeptiert und Daun in der Flankendemonstration eine hinreichende Veranlassung finden, die unbequeme Stellung in Sachsen mit der bequemeren in Böhmen zu vertauschen. Er hat dort Laudon und hier Daun diesmal falsch beurteilt, und darin liegt der Fehler jener Maßregeln.
     Aber abgesehen von solchen Irrtümern, die auch Feldherren begegnen können, die nicht zu stolz, keck und eigensinnig sind, wie man es Friedrich dem Großen bei einzelnen Maßregeln wohl vorwerfen kann, so liegt in Beziehung auf unseren Gegenstand immer eine große Schwierigkeit darin, daß der Feldherr von der Einsicht, dem guten Willen, dem Mut und der Charakterstärke seiner Korpsführer nicht immer das Wünschenswerte erwarten kann. Er kann also nicht alles ihrem Gutdünken überlassen, sondern muß ihnen manches vorschreiben, wodurch ihr Handeln gebunden wird und dann leicht mit den augenblicklichen Umständen in Mißverhältnis geraten kann, Dies ist ein ganz unvermeidlicher Übelstand. Ohne gebieterischen, herrischen Willen, der bis auf das letzte Glied durchgreift, ist keine gute Heerführung möglich, und wer der Gewohnheit folgen wollte, immer das Beste von den Leuten zu glauben und zu erwarten, würde dadurch schon zu einer guten Heerführung ganz untüchtig sein.
     Es müssen also die Verhältnisse eines jeden Korps und Postens immer scharf ins Auge gefaßt werden, um dasselbe nicht unerwartet in eine Katastrophe verwickelt zu sehen.
     Alle diese vier Bestrebungen sind auf die Erhaltung des Status quo gerichtet. Je glücklicher und erfolgreicher sie sind, um so länger wird der Krieg auf demselben Punkt verweilen; je länger aber der Krieg auf einem Punkt bleibt, um so wichtiger wird die Sorge um den Unterhalt.
     An die Stelle der Beitreibungen und Lieferungen tritt entweder von Hause aus oder doch wenigstens sehr bald die Verpflegung aus Magazinen; an die Stelle der jedesmaligen Beitreibung von Landfuhren tritt mehr oder weniger die Bildung eines stehenden Fuhrwesens, entweder von Landfuhren oder von solchen, die dem Heere selbst angehören; kurz, es entsteht jene Annäherung an eine enggeregelte Magazinalverpflegung, von der wir schon im Kapitel des Unterhaltes gesprochen haben.
     Diese Seite der Sache ist es indessen nicht, welche auf diese Kriegführung einen großen Einfluß ausübte; denn da sie ihrer Bestimmung und ihrem Charakter nach schon an sehr enge Räume gebunden ist, so kann die Verpflegung dabei wohl Bestimmungen abgeben und wird sogar den größten Teil derselben abgeben, aber diese Bestimmungen werden den Charakter des Ganzen nicht ändern. Dagegen werden die gegenseitigen Einwirkungen auf die Verbindungslinien aus zwei Gründen eine viel größere Wichtigkeit bekommen. Erstlich, weil es in solchen Feldzügen an größeren und durchgreifenderen Mitteln fehlt, die Industrie der Feldherren also auf dergleichen schwächere geführt werden muß; zweitens, weil es hier nicht an der nötigen Zeit fehlt, um die Wirksamkeit des Mittels abzuwarten. Die Sicherung der eigenen Verbindungslinie wird also noch als ein Gegenstand von besonderer Wichtigkeit erscheinen. Ihre Unterbrechung kann zwar nicht ein Zweck des feindlichen Angriffs sein, aber sie kann ein sehr wirksames Mittel werden, den Verteidiger zum Rückzug zu zwingen und also andere Gegenstände preiszugeben.
     Alle den Raum des Kriegstheaters selbst schützende Maßregeln müssen natürlich auch die Wirkung haben, die Verbindungslinien zu decken, ihre Sicherung ist also zum Teil darin enthalten, und wir haben nur zu bemerken, daß die Rücksicht auf jene Sicherung eine Hauptbestimmung bei der Aufstellung abgeben wird.
     Ein besonderes Mittel der Sicherung aber besteht in den die einzelnen Zufuhren begleitenden kleinen oder auch ziemlich beträchtlichen Heerhaufen. Teils reichen die ausgedehntesten Stellungen nicht immer hin, die Verbindungslinien zu sichern, teils wird besonders da eine solche Bedeckung nötig, wo der Feldherr die gedehnte Aufstellung hat vermeiden wollen. Wir finden daher in Tempelhoffs Geschichte des Siebenjährigen Krieges unendlich viele Beispiele, daß Friedrich der Große seine Brot- und Mehlwagen durch einzelne Regimenter Fußvolk oder Reiterei, zuweilen aber auch durch ganze Brigaden begleiten ließ. Von den Österreichern finden wir es niemals angemerkt, welches seinen Grund freilich zum Teil darin hat, daß sich auf ihrer Seite kein so umständlicher Geschichtschreiber befindet, zum Teil aber auch eben darin, daß sie immer viel ausgedehntere Stellungen einnahmen.
     Nachdem wir die vier von allen Angriffselementen der Hauptsache nach ganz freien Bestrebungen durchgegangen sind, welche die Grundlage einer Verteidigung ausmachen, die auf keine Entscheidung gerichtet ist, müssen wir noch etwas von den offensiven Mitteln sagen, womit sie mehr oder weniger untermischt, gewissermaßen gewürzt werden können. Diese Offensivmittel sind nun hauptsächlich:
     1. das Einwirken auf die feindliche Verbindungslinie, wohin wir auch gleich die Unternehmungen gegen die Vorratsorte des Feindes rechnen wollen;
     2. Diversionen und Streifereien in das feindliche Gebiet;
     3. Angriffe feindlicher Korps und Posten und selbst des feindlichen Hauptheeres unter begünstigenden Umständen oder auch nur die Bedrohung damit.
     Das erste Mittel ist in allen solchen Feldzügen unaufhörlich wirksam, aber gewissermaßen ganz in der Stille ohne ein faktisches Erscheinen. Jede wirksame Stellung des Verteidigers zieht aus der Besorgnis, welche sie dem Angreifenden in Beziehung auf seine Verbindungslinie gewährt, den größten Teil ihrer Wirksamkeit, und da in einem solchen Kriege, wie wir das oben bei der Verteidigung gesagt haben, die Verpflegung eine vorherrschende Wichtigkeit bekommt, die ebensogut für den Angreifenden stattfindet, so wird durch diese Rücksicht auf die aus den feindlichen Stellungen hervorgehenden möglichen offensiven Einwirkungen ein großer Teil des strategischen Gewebes bestimmt, wie wir das beim Angriff noch einmal berühren werden.
     Aber nicht bloß diese allgemeine Einwirkung durch die Wahl der Stellungen, die, wie in der Mechanik der Druck, eine unsichtbare Wirksamkeit hat, sondern auch ein wahres offensives Vorschreiten gegen die feindliche Verbindungslinie mit einem Teil der Streitkräfte ist in dem Bereich einer solchen Verteidigung. Soll es aber mit Vorteil geschehen, so muß doch immer die Lage der Verbindungslinien, die Natur der Gegend oder die Eigentümlichkeiten der Streitkräfte eine nähere Veranlassung dazu geben.
     Streifereien in das feindliche Gebiet, welche den Zweck einer Wiedervergeltung oder der Brandschatzung um des Gewinnes willen haben, können eigentlich nicht als Verteidigungsmittel betrachtet werden, sie sind vielmehr wahre Angriffsmittel; sie verbinden sich aber gewöhnlich mit dem Zweck der eigentlichen Diversion; diese aber hat die Schwächung der feindlichen, uns gegenüberstehenden Macht zur Absicht und kann also als ein wahres Verteidigungsmittel betrachtet werden. Da sie aber ebensogut beim Angriff gebraucht werden kann und an und für sich ein wirklicher Angriff ist, so finden wir es angemessener, davon im folgenden Buch umständlicher zu reden. Wir wollen also dieses Mittel hier nur aufzählen, um die Rüstkammer der kleinen Offensivwaffen, welche der Verteidiger eines Kriegstheaters hat, vollständig anzugeben, und nur vorläufig das eine bemerken, daß es an Umfang und Wichtigkeit bis auf den Punkt zunehmen kann, dem ganzen Kriege einen Schein und damit such die Ehre der Offensive zu geben. So sind Friedrichs des Großen Unternehmungen nach Polen, Böhmen, Franken vor Eröffnung des Feldzuges von 1759. Sein Feldzug selbst ist offenbar eine reine Verteidigung, aber diese Ausfälle in das feindliche Gebiet haben ihm einen Charakter von Offensive gegeben, der vielleicht wegen seines moralischen Gewichtes einen besonderen Wert hat.
     Der Angriff feindlicher Korps oder des feindlichen Hauptheeres muß als ein notwendiges Komplement der ganzen Verteidigung gedacht werden für alle diese Fälle, wo der Angreifende sich die Sache zu leicht machen will und deshalb auf einzelnen Punkten große Blößen gibt. Unter dieser stillschweigenden Bedingung geschieht das ganze Handeln. Allein auch hier kann der Verteidiger wie bei der Einwirkung auf die Verbindungslinien des Gegners noch einen Schritt weiter in das offensive Gebiet tun und ebensogut wie sein Gegner die Lauer auf einen vorteilhaften Streich zu einem Gegenstande seiner besonderen Industrie machen. Um sich in diesem Felde einigen Erfolg zu versprechen, muß er entweder seinem Gegner an Kräften merklich überlegen sein, welches im allgemeinen gegen die Natur der Verteidigung ist, aber doch vorkommen kann, oder er muß das System und Talent haben, seine Kräfte mehr vereinigt zu halten, und durch Tätigkeit und Bewegung ersetzen, was er dabei auf der anderen Seite preisgeben muß.
     Das erstere war im Siebenjährigen Kriege Dauns Fall, das letztere der Fall Friedrichs des Großen. Dauns Offensive sehen wir aber fast immer nur zum Vorschein kommen, wenn Friedrich der Große durch übertriebene Dreistigkeit und Geringschätzung ihn dazu einlud. Hochkirch, Maxen, Landeshut. Dagegen sehen wir Friedrich den Großen fast in beständiger Bewegung, dem einen oder anderen der Daunschen Korps mit seiner Hauptarmee etwas anzuhaben. Es gelingt ihm selten, wenigstens sind die Resultate niemals groß, weil Daun mit seiner großen Überlegenheit eine seltene Vorsicht und Behutsamkeit verband; aber man muß nicht glauben, daß darum des Königs Bestreben ganz ohne Wirkung geblieben wäre. In diesem Bestreben lag vielmehr ein sehr wirksamer Widerstand, denn in der Sorgfalt und Anstrengung, zu welcher sein Gegner gezwungen wurde, um nachteiligen Schlägen auszuweichen, lag die Neutralisierung derjenigen Kraft, welche sonst zum Vorschreiten des Angriffs beigetragen haben würde. Man denke nur an den Feldzug von 1760 in Schlesien, wo Daun und die Russen vor lauter Besorgnis, vom Könige jetzt hier, dann dort angegriffen und überwältigt zu werden, zu keinem Schritt vorwärts gelangen konnten.
     Wir glauben nun hiermit alle die Gegenstände durchgegangen zu sein, welche bei der Verteidigung eines Kriegstheaters, wenn keine Entscheidung vorliegt, die herrschenden Ideen, die vorzüglichsten Bestrebungen und also den Anhalt des ganzen Handelns ausmachen werden. Wir haben sie hauptsächlich nur nebeneinander hinstellen wollen, um den Zusammenhang des strategischen Handelns übersehen zu lassen; die einzelnen Maßregeln, mit welchen sie in das Leben treten, Stellungen, Märsche usw. haben wir früher schon näher betrachtet.
     Indem wir nun den Blick noch einmal auf das Ganze richten, muß die Bemerkung entstehen, daß bei einem so schwachen Prinzip des Angriffs, bei so geringem Verlagen nach einer Entscheidung von beiden Seiten, bei so schwachen positiven Anregungen, bei so vielen inneren Gegengewichten, welche auf- und zurückhalten, wie wir es uns hier denken, - daß da der wesentliche Unterschied zwischen Angriff und Verteidigung immer mehr verschwinden muß. Bei Eröffnung des Feldzuges wird freilich der eine in das Kriegstheater des anderen vorrücken und dadurch gewissermaßen die Form des Angriffs annehmen; allein es kann sehr wohl sein und geschieht sehr häufig, daß er bald genug alle seine Kräfte darauf verwendet, auf dem feindlichen Boden das eigene Land zu verteidigen. So stehen denn beide einander gegenüber, im Grunde in gegenseitiger Beobachtung; beide bedacht, nichts zu verlieren, vielleicht auch beide in gleichem Maße bedacht, sich einen positiven Gewinn zu verschaffen. Ja, es kann geschehen, wie bei Friedrich dem Großen, daß der eigentliche Verteidiger darin seinen Gegner sogar überbietet.
     Je mehr nun der Angreifende von der Stellung eines Vorschreitenden aufgibt, je weniger der Verteidiger durch ihn bedroht, durch das dringende Bedürfnis der Sicherheit an die strikte Verteidigung hingedrängt wird, um so mehr tritt eine Gleichheit der Verhältnisse ein, bei welcher dann die Tätigkeit beider darauf gerichtet sein wird, dem Gegner einen Vorteil abzugewinnen und sich gegen jeden Nachteil zu schützen, also auf ein wahres strategisches Manövrieren, und diesen Charakter haben denn auch offenbar alle die Feldzüge mehr oder weniger, wo die Verhältnisse oder die politischen Absichten keine große Entscheidung zulassen. Wir haben dem strategischen Manövrieren im folgenden Buche ein eigenes Kapitel gewidmet, allein wir sehen uns genötigt, weil dies gleichgewichtige Spiel der Kräfte in der Theorie häufig eine falsche Wichtigkeit bekommen hat, hier bei der Verteidigung, wo sie ihm vorzugsweise beigelegt wird, in eine nähere Erörterung deshalb einzugehen.
     Wir nennen es ein gleichgewichtiges Spiel der Kräfte. Wo keine Bewegung des Ganzen ist, da ist Gleichgewicht; wo kein großer Zweck treibt, da ist keine Bewegung des Ganzen; es sind also in solchem Fall beide Teile, wie ungleich sie auch immer sein mögen, doch als im Gleichgewicht zu betrachten. Aus diesem Gleichgewicht des Ganzen treten nun die einzelnen Motive zu kleineren Handlungen und geringeren Zwecken hervor. Sie können sich hier entwickeln, weil sie nicht mehr unter dem Druck einer großen Entscheidung und einer großen Gefahr stehen. Es wird also, was überhaupt gewonnen und verloren werden kann, in kleinere Spielmarken umgesetzt und die ganze Tätigkeit in kleinere Handlungen zerlegt. Mit diesen kleineren Handlungen um diese geringeren Preise entsteht nun zwischen beiden Feldherren ein Kampf der Geschicklichkeit; aber da dem Zufall und folglich dem Glück im Kriege der Zutritt niemals ganz versagt werden kann, so wird dieser Kampf auch niemals aufhören, ein Spiel zu sein. Indessen entstehen hier zwei andere Fragen, nämlich: ob bei diesem Manövrieren der Zufall nicht einen kleineren und der überlegende Verstand einen größeren Anteil an der Entscheidung haben wird als da, wo alles in einen einzigen großen Akt zusammengedrängt ist. Die letzte dieser Fragen müssen wir bejahen. Je vielgliedriger das Ganze wird, je öfter Zeit und Raum, jene mit einzelnen Momenten, dieser mit einzelnen Punkten, in die Betrachtung kommen, um so größer wird offenbar das Feld das Kalküls, also die Herrschaft des überlegenden Verstandes; was der überlegende Verstand gewinnt, wird dem Zufall zum Teil entzogen, aber nicht notwendig ganz, und darum sind wir nicht genötigt, die erste Frage auch mit Ja zu beantworten. Wir müssen nämlich nicht vergessen, daß der überlegende Verstand nicht die einzige intellektuelle Kraft des Feldherrn ist. Mut, Kraft, Entschlossenheit, Besonnenheit usw. sind die Eigenschaften, die wieder da mehr gelten werden, wo es auf eine einzige große Entscheidung ankommt; sie werden also in einem gleichgewichtigen Spiel der Kräfte etwas weniger gelten, und die vorherrschende Wichtigkeit kluger Berechnung wächst nicht bloß auf Kosten des Zufalls, sondern auch auf Kosten dieser Eigenschaften. Von der anderen Seite können diese glänzenden Eigenschaften im Augenblick einer großen Entscheidung dem Zufall einen großen Teil seiner Herrschaft rauben und also dasjenige gewissermaßen binden, was die berechnende Klugheit in diesem Fall freigeben mußte. Wir sehen also, daß hier ein Konflikt von mehreren Streitkräften ist, und daß man nicht geradezu behaupten kann, es sei in einer großen Entscheidung dem Zufall ein größeres Feld eingeräumt als in dem summarischen Erfolg bei jenem gleichgewichtigen Spiel der Kräfte. - Wenn wir also in diesem Spiel der Kräfte vorzugsweise einen Kampf gegenseitiger Geschicklichkeit sehen, so muß das nur auf die Geschicklichkeit kluger Berechnung bezogen werden und nicht auf die ganze kriegerische Virtuosität.
     Diese Seite nun des strategischen Manövrierens hat eben Veranlassung gegeben, dem Ganzen jene falsche Wichtigkeit beizulegen, von der wir oben gesprochen haben. Einmal hat man diese Geschicklichkeit mit dem ganzen intellektuellen Wert des Feldherrn verwechselt; dies ist aber ein großer Fehler, denn es ist, wie schon gesagt, nicht zu verkennen, daß in Augenblicken großer Entscheidungen andere moralische Eigenschaften des Feldherrn über die Gewalt der Umstände herrschen können. Ist diese Herrschaft mehr der Impuls großer Empfindungen und jener Blitze des Geistes, die fast unbewußt entstehen und also nicht an einer langen Gedankenkette fortlaufen, so ist sie ja darum nicht weniger eine echte Bürgerin der Kriegskunst, denn die Kriegskunst ist ja weder ein bloßer Akt des Verstandes, noch sind die Tätigkeiten des Verstandes darin die höchsten. Zweitens hat man geglaubt, daß jede erfolglose Tätigkeit eines Feldzuges von einer solchen Geschicklichkeit des einen oder gar beider Feldherren herrühren müsse, während sie doch ihren allgemeinen und hauptsächlichsten Grand immer in den allgemeinen Verhältnissen hatte, die der Krieg zu diesem Spiel machte.
     Da die meisten Kriege zwischen den ausgebildeten Staaten mehr ein gegenseitiges Beobachten als Niederwerfen zum Zweck hatten, so hat natürlich der größte Teil der Feldzüge den Charakter des strategischen Manövrierens an sich tragen müssen. Von diesen hat man diejenigen, die keinen berühmten Feldherrn aufzuweisen hatten, unbeachtet gelassen; wo aber ein großer Feldherr war, der die Augen auf sich zog, oder gar zwei einander gegenüber wie Turenne und Montecuccoli, da hat man dieser ganzen Manövrierkunst durch den Namen dieser Feldherren noch den letzten Stempel der Vortrefflichkeit aufgeprägt. Die weitere Folge ist dann gewesen, daß man dieses Spiel als den Gipfel der Kunst, als die Wirkung ihrer hohen Ausbildung betrachtet hat und folglich auch als Quelle, an der die Kriegskunst vorzugsweise studiert werden müßte.
     Diese Ansicht war in der Theorienwelt ziemlich allgemein vor den französischen Revolutionskriegen. Wie diese mit einem Male eine ganz andere Welt von kriegerischen Erscheinungen öffneten, die, anfangs etwas roh und naturalistisch, dann später unter Bonaparte in eine großartige Methode zusammengefaßt, Erfolge hervorbrachte, die das Erstaunen von jung und alt machten, da ließ man von den alten Mustern los und glaubte nun, das sei alles die Folge neuer Entdeckungen, großartiger Ideen usw., aber auch allerdings des veränderten gesellschaftlichen Zustandes. Man glaubte nun, das Alte gar nicht mehr zu brauchen und auch nie wieder zu erleben. Wie aber bei solchen Umwälzungen der Meinungen immer Parteien entstehen, so hat denn auch hier die alte ihre Ritter gefunden, welche die neueren Erscheinungen wie rohe Gewaltstöße betrachten, wie einen allgemeinen Verfall der Kunst, und die den Glauben haben, daß gerade das gleichgewichtige, erfolglose, nichtige Kriegsspiel das Ziel der Ausbildung sein müßte. Dieser letzteren Ansicht liegt ein solcher Mangel an Logik und Philosophie zum Grunde, daß man sie nur eine trostlose Verwirrung der Begriffe nennen kann. Aber auch die entgegengesetzte Meinung, als wenn dergleichen nicht weiter vorkommen würde, ist sehr unüberlegt. Von den neueren Erscheinungen im Gebiet der Kriegskunst ist das allerwenigste neuen Erfindungen oder neuen Ideenrichtungen zuzuschreiben und das meiste den neuen gesellschaftlichen Zuständen und Verhältnissen. Aber auch diese müssen nicht gerade in der Krise eines Gärungsprozesses zur Norm genommen werden, und es ist darum nicht zu bezweifeln, daß ein großer Teil der früheren Kriegsverhältnisse wieder zum Vorschein kommen wird. Es ist hier nicht der Ort, weiter auf diese Dinge einzugehen, sondern es ist uns genug, durch das Verhältnis, welches dieses gleichgewichtige Spiel der Kräfte in der ganzen Kriegführung einnimmt, durch seine Bedeutung und seinen inneren Zusammenhang mit den übrigen Gegenständen gezeigt zu haben, daß es immer das Produkt der gegenseitigen beengten Verhältnisse und des sehr ermäßigten kriegerischen Elementes ist. Es kann in diesem Spiel ein Feldherr sich geschickter zeigen als der andere und daher, wenn er ihm an Kräften gewachsen ist, auch manche Vorteile über ihn gewinnen oder, wenn er schwächer ist, vermöge dieser Überlegenheit des Talentes ihm das Gleichgewicht halten; aber es ist ein starker Widerspruch gegen die Natur der Sache, hier die höchste Ehre und Größe des Feldherrn zu suchen; es ist vielmehr ein solcher Feldzug immer ein untrügliches Zeichen, daß entweder keiner der beiden Feldherren ein großes kriegerisches Talent ist, oder daß der talentvolle durch seine Verhältnisse abgehalten wird, eine große Entscheidung zu wagen; wo aber das der Fall ist, da ist auch nimmermehr das Gebiet des höchsten kriegerischen Ruhmes.
     Wir haben hier von dem allgemeinen Charakter des strategischen Manövrierens gesprochen; jetzt müssen wir noch eines besonderen Einflusses gedenken, den es auf die Kriegführung hat, nämlich den, daß es die Streitkräfte häufig von den Hauptstraßen und Orten in entlegene oder wenigstens in bedeutungslose Gegenden führt. Wo kleine, augenblicklich entstehende und wieder verschwindende Interessen die Bestimmungen abgeben, da wird der Einfluß der großen Lineamente des Landes auf die Kriegführung schwächer. Wir finden daher, daß die Streitkräfte sich oft auf Punkte hinschieben, wo man sie nach den großen einfachen Bedürfnissen des Krieges nie suchen sollte, und daß folglich auch der Wechsel und die Veränderlichkeit in den Einzelheiten des kriegerischen Ganges hier noch viel größer sind als in Kriegen mit großer Entscheidung. Man sehe nur, wie in den fünf letzten Feldzügen des Siebenjährigen Krieges trotz der sich immer gleichbleibenden Verhältnisse im großen ein jeder Feldzug sich anders gestaltet und, genau besehen, keine einzige Maßregel zweimal vorkommt, und doch ist in diesen Feldzügen noch ein viel stärkeres Angriffsprinzip von seiten der verbündeten Heere als in den meisten anderen der früheren Kriege.
     Wir haben in diesem Kapitel von der Verteidigung eines Kriegstheaters, wenn keine große Entscheidung vorliegt, nur die Bestrebungen gezeigt, welche das Handeln haben wird, den Zusammenhang, das Verhältnis, den Charakter derselben; die einzelnen darin liegenden Maßregeln sind uns schon früher näher bekanntgeworden. Jetzt frägt es sich, ob denn für diese verschiedenen Bestrebungen keine das Ganze umfassende Grundsätze, Regeln und Methoden anzugeben sind. Hierauf antworten wir, daß wenn wir uns an die Geschichte halten, wir durchaus nicht durch stets wiederkehrende Formen daraufgeführt werden, und doch könnte man für ein Ganzes so mannigfaltiger veränderlicher Natur kaum ein anderes theoretisches Gesetz gelten lassen, als was in der Erfahrung seinen Ursprung hätte. Der Krieg mit großen Entscheidungen ist nicht nur viel einfacher, sondern auch viel naturgemäßer, von inneren Widersprüchen freier, objektiver, durch ein Gesetz innerer Notwendigkeit gebundener: darum kann die Vernunft ihm Formen und Gesetze vorschreiben; in diesem Krieg aber scheint uns das sehr viel schwieriger. Selbst die beiden Hauptgrundsätze der erst in unseren Zeiten entstandenen Theorie der großen Kriegführung, die Breite der Basis bei Bülow und die Stellung auf der inneren Linie bei Jomini haben, wenn man sie auf die Verteidigung eines Kriegstheaters anwendet, sich in der Erfahrung nirgends als durchgreifende, wirkungsvolle Grundsätze gezeigt. Sie sollten aber als bloße Formen gerade hier sich am wirksamsten zeigen, weil Formen immer wirksamer werden, immer mehr das Übergewicht über die anderen Faktoren des Produktes bekommen müssen, je mehr die Handlung sich in Zeit und Raum ausdehnt. Nichtsdestoweniger finden wir daß sie nichts sind als einzelne Seiten des Gegenstandes, besonders aber nichts weniger als durchgreifende Vorteile. Daß die Eigentümlichkeit der Mittel und der Verhältnisse schon einen großen, alle allgemeinen Grundsätze durchschneidenden Einfluß haben müsse, ist sehr einleuchtend. Was Daun die Ausdehnung und vorsichtige Wahl der Aufstellung war, das war dem Könige die immer zusammengehaltene, dem Gegner immer dicht auf den Leib rückende, zum Extemporieren stets bereite Hauptmacht. Beides ging nicht nur aus der Natur ihrer Heere, sondern auch aus ihren Verhältnissen hervor; das Extemporieren ist einem Könige viel leichter als jedem unter Verantwortung stehenden Feldherrn. Wir wollen hier noch einmal ausdrücklich darauf aufmerksam machen, daß die Kritik kein Recht hat, die verschiedenen Manieren und Methoden, welche entstehen können, als Stufen verschiedener Vollkommenheit zu betrachten und die eine der anderen unterzuordnen, sondern daß sie nebeneinander gehören, und daß in dem einzelnen Fall dem Urteil überlassen werden muß, den Gebrauch zu würdigen.
     Diese verschiedenen Manieren, welche aus der Eigentümlichkeit des Heeres, des Landes, der Verhältnisse entstehen können, hier aufzuzählen, kann nicht unsere Absicht sein, wir haben den Einfluß jener Dinge schon früher im allgemeinen angegeben.
     Wir bekennen also, daß wir in diesem Kapitel keine Grundsätze, Regeln oder Methoden anzugeben wissen, weil uns die Geschichte nichts dergleichen darbietet und man dagegen fast in jedem einzelnen Moment auf Eigentümlichkeiten stößt, die sehr häufig ganz unverständlich sind, oft sogar durch Wunderlichkeit überraschen. Aber darum ist es nicht unnütz, die Geschichte auch in dieser Beziehung zu studieren. Wo es auch kein System, keinen Wahrheitsapparat gibt, da gibt es doch eine Wahrheit, und diese wird dann meistens nur durch ein geübtes Urteil und den Takt einer langen Erfahrung gefunden. Gibt also die Geschichte hier keine Formeln, so gibt sie doch hier wie überall Übung des Urteils
     Nur einen das Ganze umfassenden Grundsatz wollen wir aufstellen, oder vielmehr wir wollen die natürliche Voraussetzung, unter welcher sich alles hier Gesagte befindet, noch in der Form eines eigenen Grundsatzes erneuern und lebendiger vor Augen stellen.
     Alle die hier angegebenen Mittel haben nur einen relativen Wert. Sie befinden sich alle in dem Gerichtsbann einer gewissen Unvermögenheit beider Teile; über dieser Region herrscht ein höheres Gesetz, und da ist eine ganze andere Welt der Erscheinungen. Nie darf der Feldherr das vergessen, nie sich mit eingebildeter Sicherheit in dem engen Kreis als in etwas Absolutem bewegen; nie die Mittel, welche er hier anwendet, für die notwendigen, für die einzigen halten und sie dann auch noch ergreifen, wenn er selbst schon vor ihrer Unzulänglichkeit zittere
     Auf dem Standpunkt, auf welchen wir uns hier gestellt haben, mag ein solcher Irrtum fast als unmöglich erscheinen; aber er ist es in der wirklichen Welt nicht, weil die Dinge da nicht in so scharfen Gegensätzen erscheinen.
     Wir müssen nämlich wieder darauf aufmerksam machen, daß wir, um unseren Vorstellungen Klarheit, Bestimmtheit und Kraft zu geben, nur die vollkommenen Gegensätze, also die äußersten jeder Weise zum Gegenstand unserer Betrachtung gemacht haben, daß aber der konkrete Fall des Krieges meist in der Mitte liegt und von diesem äußersten nur in dem Maße beherrscht wird, als er sich ihm nähert.
     Es kommt also ganz allgemein darauf an, daß der Feldherr vor allen Dingen bei sich ausmache, ob der Gegner nicht Lust und Vermögen hat, durch eine größere und entscheidendere Maßregel ihn zu überbieten. Sobald er diese Besorgnis hat, muß er die kleinen Maßregeln zur Verhütung kleiner Nachteile aufgeben, und es bleibt ihm dann das Mittel, durch freiwillige Opfer sich in eine bessere Lage zu versetzen und einer größeren Entscheidung gewachsen zu sein. Mit anderen Worten: das erste Erfordernis ist, daß der Feldherr den rechten Maßstab ergreife, wonach er sein Werk einrichten will.
     Um diesen Vorstellungen noch durch das wirkliche Leben mehr Bestimmtheit zu geben, wollen wir eine Reihe Fälle flüchtig berühren, wo nach unserer Meinung ein falscher Maßstab gebraucht worden ist, d. h. wo einer der Feldherren seine Maßregeln auf ein viel weniger entscheidendes Handeln seines Gegners berechnet hatte. Wir machen den Anfang mit der Eröffnung des Feldzuges von 1757, wo die Österreicher durch die Stellung ihrer Streitkräfte bewiesen, daß sie auf eine so durchgreifende Offensive Friedrichs des Großen nicht gerechnet hatten; selbst das Verweilen des Korps von Piccolomini an der schlesischen Grenze, während der Herzog Karl von Lothringen in die Gefahr kam, mit seinem Heere die Waffen zu strecken, ist ein solches vollkommenes Mißverstehen der Verhältnisse.
     1758 wurden die Franzosen nicht nur vollkommen über die Wirkungen der Konvention von Kloster Zeven getäuscht, welches ein nicht hierher gehöriges Faktum ist, sondern sie irrten sich auch zwei Monate später ganz in der Beurteilung dessen, was ihr Gegner unternehmen könnte, welches ihnen das Land von der Weser bis an den Rhein kostete. Daß Friedrich der Große 1759 bei Maxen und 1760 bei Landeshut seine Gegner ganz falsch beurteilte, indem er ihnen keine so entschiedene Maßregeln zutraute, haben wir schon gesagt.
     Einen größeren Irrtum in dem Maßstab aber finden wir kaum in der Geschichte als den von 1792. Man glaubte, mit einer mäßigen Hilfsmacht einem Bürgerkrieg den Ausschlag zu geben, und wälzte sich die ungeheure Last durch politischen Fanatismus aus seinen Angeln gehobenen französischen Volkes auf den Leib. Wir nennen diesen Irrtum nur groß, weil er sich hinterher so gezeigt hat, nicht weil er leicht zu vermeiden gewesen wäre. In der Kriegführung selbst ist nicht zu verkennen, daß man den hauptsächlichsten Grund zu allen folgenden unglücklichen Jahren in dem Feldzug von 1794 gelegt hat. Es ist von seiten der Verbündeten nicht nur in diesem Feldzuge selbst die kräftige Natur des feindlichen Angriffs ganz verkannt worden, indem man ihm ein kleinliches System von ausgedehnten Stellungen und strategischen Manövern entgegensetzte, sondern man hat auch in den politischen Uneinigkeiten zwischen Preußen und Österreich und in dem törichten Aufgeben Belgiens und der Niederlande gesehen, wie wenig die Kabinette eine Ahnung hatten von der Gewalt des einbrechenden Stromes. Im Jahr 1796 beweisen die einzelnen Widerstandsakte von Montenotte, Lodi usw. hinreichend, wie wenig die Österreicher verstanden, worauf es gegen diesen Bonaparte ankomme.
     Im Jahr 1800 war es nicht die unmittelbare Wirkung des Überfalles, sondern die falsche Ansicht, welche Melas von den möglichen Folgen dieses Überfalles hatte, wodurch seine Katastrophe herbeigeführt wurde.
     Ulm im Jahre 1805 war der letzte Knoten eines losen Gewebes gelehrter, aber äußerst schwacher strategischer Beziehungen, gut genug, einen Daun oder Lacy darin festzuhalten, aber nicht einen Bonaparte und Revolutionskaiser.
     Bei den Preußen 1806 war die Unentschlossenheit und Verwirrung eine Folge, daß veraltete, kleinliche, unbrauchbare Ansichten und Maßregeln sich mit einigen hellen Blicken und einem richtigen Gefühl von der großen Bedeutung des Augenblicks vermischten. Wie hätte man bei einem klaren Bewußtsein und einer vollkommenen Würdigung seiner Lage 30000 Mann in Preußen lassen und daran denken können, in Westfalen ein besonderes Kriegstheater zu errichten, durch kleine Offensiven wie die, wozu das Rüchelsche und das Weimarsche Korps bestimmt waren, irgendeinen Erfolg zu gewinnen, und wie hätte in den letzten Augenblicken der Beratung noch von Gefahr der Magazine, Verlust dieses oder jenes Landstriches die Rede sein können!
     Selbst 1812, in diesem großartigsten aller Feldzüge, fehlte es anfangs nicht an falschen, von einem unrichtigen Maßstab herrührenden Bestrebungen. Im Hauptquartier zu Wilna war eine Partei angesehener Männer, welche auf eine Schlacht an der Grenze bestanden, damit man Rußlands Boden nicht ungestraft betreten konnte. Daß man diese Schlacht an der Grenze verlieren könne, ja verlieren werde, sagten sich diese Männer wohl; denn obgleich sie nicht wußten, daß 300000 Franzosen auf 80000 Russen kommen würden, so wußten sie doch, daß eine bedeutende Überlegenheit des Feindes vorausgesetzt werden müßte. Der Hauptirrtum bestand in dem Wert, welchen sie dieser Schlacht beilegten; sie glaubten, es sei eine verlorene Schlacht wie jede andere, während doch fast mit Sicherheit behauptet werden kann, daß diese Hauptentscheidung an der Grenze eine ganz andere Reihe von Erscheinungen hervorgebracht haben würde. Selbst das Lager von Drissa war eine Maßregel, welcher noch ein ganz falscher Maßstab in Bezug auf den Gegner zum Grunde lag. Hätte man darin verweilen wollen, so mußte man sich von allen Seiten abschneiden und völlig isolieren lassen, und es fehlte dann dem französischen Heer nicht an Mitteln, das russische zum Niederlegen der Waffen zu zwingen. An ein solches Maß der Kraft und des Willens hatte der Erfinder dieses Lagers nicht gedacht.
     Aber auch Bonaparte hat zuweilen einen falschen Maßstab gebraucht. Nach dem Waffenstillstand 1813 hat er geglaubt, die untergeordneten Heere der Verbündeten, Blüchern und den Kronprinzen von Schweden, durch Korps zu beschwichtigen, die zwar zu einem wirklichen Widerstand nicht hinreichten, aber doch der Behutsamkeit hinreichende Veranlassung sein konnten, nichts zu wagen, wie man das in den früheren Kriegen so häufig gesehen hatte. Er dachte nicht genug an die Reaktion eines tiefgewurzelten Hasses und dringender Gefahr, die in Blücher und Bülow wirkten.
     Überhaupt hat er den Unternehmungsgeist des alten Blücher nirgends hoch genug angeschlagen. Bei Leipzig brachte dieser ihn allein um den Sieg; bei Laon hätte Blücher ihn zugrunde richten können, und daß es nicht geschah, lag in Umständen, die ganz außer dem Kalkül Bonapartes waren; bei Belle-Alliance endlich erreichte ihn die Strafe dieses Fehlers wie ein vernichtender Blitzstrahl.