B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A
           
  Hermann Cohen
1842 - 1918
     
   



R e z e n s i on   v o n
« Z ä h l e n   u n d   M e s s e n ,
e r k e n n t n i s - t h e o r e t i s c h
b e t r a c h t e t »
v o n   H .   v .   H e l m h o l t z


1 8 8 7

Text:
Der Text der Rezension in der Festschrift für
Eduard Zeller (1887) ist den «Schriften zur Philosophie
und Zeitgeschichte» entnommen (Band 1, herausgegeben
von A. Görland und E. Cassirer, Berlin 1928),
wieder abgedruckt in Hans-Georg Gadamers
Philosophischem Lesebuch, Band 3, Frankfurt 1970.


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Wenn ich es nun unternehme, die Abhandlung: «Zählen und Messen, erkenntnis-theoretisch betrachtet von H. v. Helmholtz» hier zu beurteilen, so darf ich vor allem darauf mich berufen, daß ich vor mehr als sechzehn Jahren in der Vorrede zur ersten Auflage von «Kants Theorie der Erfahrung» ausgesprochen habe: «Ich glaube, die Zeit sei nicht ferne, in der man es Helmholtz insgeheim danken wird, daß er oftmals und nachdrücklich auf Kant hingewiesen hat.» In diesem halben Menschenalter ist, wie wenig immer, einiges doch nicht nur an der Peripherie gearbeitet worden. Zur Methodologie der Fragenstellung namentlich sind Festsetzungen versucht worden, die von einigen wenigen Mitarbeitern geprüft, angenommen und weitergeführt worden sind. Ob die Zeit schon gekommen, in der Schillers Mahnung als verjährt betrachtet und zwischen Naturwissenschaft und Transzendentalphilosophie der ewige Bund geschlossen werden darf - das mag hier auf sich beruhen. Dagegen aber muß ich, wenn ich nicht bloß höflich grollen soll, Verwahrung einlegen, daß selbst ein Helmholtz, obschon gerade er es mit dankenswertem Wohlwollen tut, vom «strikten Kantianismus» redet, mit dem er sich in früheren Schriften auseinandergesetzt habe. Und es wird nicht unpassend erscheinen, gerade bei dem Jubiläum eines Philosophen anzudeuten, wie wir uns das gegenseitige Verhältnis der Arbeiter auf beiden Gebieten vorstellen.
      Obschon Kant es nicht Wort haben wollte, so haben von allen wissenschaftlichen Arbeiten die Erzeugnisse des Philosophen doch am meisten den Charakter und das Schicksal der Werke des Genius: die nicht als abgeschlossene Objekte wirken, sondern als lebendige und unerschöpfliche Zeugnisse eines Individuums. Die Interpreten der wenigen philosophischen Genies dürfen daher, um es einmal gerade heraus zu sagen, nichts weniger als Kärrner sein. Ohne Freude an der reinen Architektur und ohne ein gewisses Minimum von eigenem baumeisterlichen Vermögen hat man fernzubleiben, wo die Könige bauen. Die Interpreten der sehr wenigen philosophischen Genies müssen vorerst ein durchaus wahres intimes Verhältnis zu ihren Autoren haben, dann erst und von demselben aus können sie, was ferner notwendig ist, der Persönlichkeit und Individualität des Genies gegenüber den höheren Standpunkt der Geschichte einnehmen.
      Diese Objektivierung aber des philosophischen Genius wird ermöglicht durch die fortschreitende Arbeit der Wissenschaft. Erst das Zeitalter der mathematischen Renaissance lernte Platon verstehen. Es war nicht bloß der Streit um das Kräftemaß, in dem Kant Descartes und Leibniz ins Einvernehmen setzte. Und wir erst lernen Kant und durch ihn jene verstehen.
      Wenn nun unter den vielen latenten Motoren ein Name genannt werden soll, auf den die kritische Orientierung am deutlichsten zurückzuführen sei, so würde ich Johannes Müller nennen, in dessen Arbeiten, Anführungen und Bestrebungen das philosophische Interesse mit der exakten Einzelforschung sich verbunden zeigt. Dieser Geist, der sich nicht überall laut hervortat, ging auf seine Schüler über, und ich darf hier des der Marburger Universität leider entrissenen Lieberkühn gedenken, der, auch hierin in ausgesprochener Übereinstimmung mit seinem Lehrer, auf diejenigen herabsah, welche das methodologische Denken auf eigene Faust betrieben.
      Der Vorzug von Helmholtz nun besteht bekanntlich darin, daß er, nachdem er von physiologischer Grundlage aus die Entstehung und Entwickelung des Bewußtseins an den Sinneswahrnehmungen verfolgt hatte, auch den eisernen Schatz des Bewußtseins, der in seinen mathematischen Grundbegriffen liegt, zu zerlegen und auf sein Gepräge zu prüfen fortgeschritten ist. Diese Bestrebungen der Wissenschaft haben, in der Schulsprache geredet, den Charakter transzendentaler Untersuchungen. Denn sie betreffen die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung. Solche Arbeiten der Wissenschaft sind schlechterdings notwendig, wenn das Individuum eines philosophischen Genius zu neuer Beleuchtung und neuer Befruchtung kommen soll. Schreiber dieses ist daher als von einer geschichtlichen Ansicht von dem Gedanken durchdrungen, daß er, der sich bewußt ist, ein methodisch neues Bild von Kant entworfen zu haben, ohne jene wissenschaftlichen Fortschritte, ohne jene Betätigungen des transzendentalen Geistes zu dem neuen Verständnis des philosophischen Genius Kant nicht hätte gelangen können.
      Denn also ist das Verhältnis zwischen dem philosophischen Genius, der Wissenschaft und der philosophischen Arbeit: der philosophische Genius antizipiert die Prinzipien und die Tendenz der Wissenschaft. Die Wissenschaft vollzieht jene Antizipationen. Und die Philosophie als Wissenschaft lernt aus jenen wissenschaftlichen Taten die Tendenz des Genius erkennen. Daher konnte man ohne Helmholtz nicht Kant verstehen.
      Dieser Helmholtz aber ist der mathematische, der physikalische, der physiologische Forscher, - nicht der Erkenntnistheoretiker: dieser vielmehr hat von der Philosophie als Wissenschaft zu lernen. Darin liegt der Wert und die Selbständigkeit der philosophischen Arbeit, darin der unentbehrliche Nutzen der fortschreitenden philosophischen Einsicht und Technik. Und nach dieser offenen Auseinandersetzung gehe ich getrost an das, was auch und gerade Helmholtz gegenüber meines Amtes ist.
      Nachdem Helmholtz in seinen früheren transzendentalen Untersuchungen das Raum-Problem in den geometrischen Axiomen behandelt hatte, geht er in dieser Abhandlung zu dem Zeit-Problem in den Grundlagen der Arithmetik über. So erscheint äußerlich der Zusammenhang dieser Arbeiten. Aber es ist eine innere Abfolge nachweisbar, die, wie es sich ähnlich auch bei den geometrischen Arbeiten zeigte, eine fortschreitende Freilegung bisher gebundener Voraussetzungen erkennen läßt. Als ein solcher versteckter Grundbegriff war früher der der Größe stehengeblieben, wie auch Riemann diesen Grundbegriff zu definieren unterlassen hat. Indessen ist alle die Mathematik betreffende transzendentale Untersuchung an den Begriff der Größe gebunden. Ich habe über diese Frage eingehender als über jede andere moderne Frage in der zweiten Auflage von «Kants Theorie der Erfahrung» gehandelt, wo zehn Seiten (S. 227-237) Helmholtz allein gewidmet sind. Diese Auseinandersetzungen können hier nicht wiederholt, um so dringlicher aber muß auf sie verwiesen werden. Denn diese Fragen hängen zusammen, die sachlichen Probleme wie die Einwürfe und die Entwickelung unseres Autors. Wie er mit der transzendentalen Raumform, wie er sie versteht, die Axiome der Geometrie bei Kant als gegeben annimmt, so müssen «strikte Anhänger Kants, die an seinem System ... festhalten, allerdings die Axiome der Arithmetik für a priori gegebene Sätze halten, welche die transzendentale Anschauung der Zeit in demselben Sinne näher bestimmen, wie die Axiome der Geometrie die des Raumes» (S. 17). Die Klarstellung dieses angeblichen Verhältnisses der Axiome der Geometrie zu der Raum-Anschauung, welche dort ausführlich versucht worden ist, erstreckt sich genau auch auf das irrige Verhältnis von Arithmetik und Zeit. Daß diese Proportion ungenau ist, läßt sich terminologisch mit einem Schlage zeigen: die Größe ist keine Anschauung und auch kein bloßer Begriff, sondern ein Grundsatz, das will sagen: sie besteht in Verbindung von Anschauung und Begriff. Mithin könnte nur durch Angriff auf die Lehre von den synthetischen Grundsätzen Kants Größen-Lehre widerlegt werden. Indessen mag diese Schulfrage hier auf sich beruhen; wie definiert nun Helmholtz jetzt den Begriff der Größe?
      Es muß als ein Mangel in der Klarheit dieser Abhandlung bezeichnet werden, daß auch hier Helmholtz nicht von einer Definition der Größe oder etwa von dem Satze ausgeht: vor allem handle es sich um Definition der Größe. Indem er vielmehr seinen «Standpunkt» «von vornherein» bezeichnet, geht er von den Zahlen aus. Darauf erst geht er zu der Frage nach der Größe über. «Dann muß aber gefragt werden: Was ist der objektive Sinn davon, daß wir Verhältnisse reeller Objekte durch benannte Zahlen als Größen ausdrücken?» (S. 20). Bloß «ausdrücken»? Nicht auch herstellen und erzeugen? Sind die Verhältnisse reeller Objekte anders als in dem Ausdruck der Größe vorhanden oder denkbar? Ist nicht vielmehr der Größenbegriff ein unersetzliches Instrument für die Bestimmung des Objektes? Muß man nicht also mit diesem Instrument anfangen?
      Indessen könnte dieser Einwand als ein Schulbedenken erscheinen, welches selbst unmittelbar zu Fragen herausfordert: Muß ja doch die Größe durch die Zahl bestimmt und erfüllt werden! Warum also nicht mit der Zahl anfangen?
      In der Tat kann es so nicht gemeint sein, daß Helmholtz mit dem Zahlbegriff nicht hätte anfangen sollen; aber dieser sein Anfang hätte durch die Rücksicht auf die «dann» kommende Größe geleitet werden müssen: daß die Zahl das wissenschaftliche Mittel sei, um das erste und wichtigste Instrument für die Erzeugung des Gegenstandes zu beschaffen. Als ein solches wissenschaftliches Mittel fixiert Helmholtz die Zahl nicht: als ob in dieser Beziehung der Zahl auf die objektive Größe eine Beschränkung läge; als ob der Begriff der Zahl weiter und allgemeiner gefaßt würde, wenn er als ein psychologischer und nicht lediglich als ein sachlogischer in Anspruch genommen wird. «Ich betrachte die Arithmetik, oder die Lehre von den reinen Zahlen, als eine auf rein psychologischen Tatsachen aufgebaute Methode, durch die die folgerichtige Anwendung eines Zeichensystems (nämlich der Zahlen) von unbegrenzter Ausdehnung und unbegrenzter Möglichkeit der Verfeinerung gelehrt wird» (S. 20). Und ebenso war auch eine Seite vorher der Begriff der Zahl als eine «Aufgabe der Psychologie» bezeichnet worden. Was bedeutet denn aber der wirkliche, dem Wort- und Schulstreit entrückte Unterschied, ob man diese Untersuchungen der Psychologie überläßt, oder als Erkenntniskritik von Psychologie unterscheidet? Warum denn über eine solche Schulfrage mit einem Helmholtz streiten? Weil dieser Unterschied kein äußerlicher, kein die Eleganz des Vertrages betreffender, sondern ein methodischer ist, also der innerlichste, so daß wegen Nichtachtung desselben selbst ein Helmholtz in Irrtum geraten muß.
      Fangen wir vom Ende an. Wird denn etwa die «unbegrenzte Möglichkeit der Verfeinerung» oder auch nur die «unbegrenzte Ausdehnung» des Zahl-Zeichensystems den «rein psychologischen Tatsachen» verdankt? Und nicht vielmehr den rein wissenschaftlichen Versuchen, die gewagt und ausgeführt werden müssen, um neu entstandene Probleme zu behandeln? Verdankt man den Begriff auch nur der negativen Zahl, den «rein psychologischen Tatsachen» und nicht vielmehr dem Subtraktions-Problem? Geschweige den Begriff der komplexen Zahl, um nicht weiter zu fragen.
      Die Verwechselung des wissenschaftlichen Verfahrens mit der psychologischen Tatsache zeigt sich an einem wichtigen Hilfsbegriff. Die Bedeutung des Wortes «rein» in dem Ausdruck «die Lehre von den reinen Zahlen» ist offenbar nicht dieselbe wie in der Apposition «als eine auf rein psychologischen Tatsachen aufgebaute Methode». Das erste «rein» bedeutet die Zahl als wissenschaftliches Mittel im Unterschiede von dem Umfang ihrer Anwendungen, von den gezählten Dingen. Welches wissenschaftliche Mittel dagegen definiert die «rein psychologischen Tatsachen» ? Oder welche Tatsachen werden auch nur als unreine oder angewandte von diesen ausgeschlossen? Rein bedeutet seit dem καθαρός Platons für alles scheinbar an und für sich Seiende vielmehr das wissenschaftliche Erzeugungsmittel, durch welches das Seiende seiend wird. Eine solche Reinheit ist in der Tat der Zahl zuzuschreiben, nämlich der Methode der Zahl, die sowenig in der Psychologie enthalten ist, als irgendeine Wissenschaft auf lediglich psychologischen Elementar-Tatsachen beruht. Und die elementare Tatsache des Bewußtseins kann doch nur der günstige Sinn der «rein psychologischen Tatsachen» sein. Probleme vielmehr, von denen die gute Psychologie sich nichts träumen zu lassen hat, treiben diese reinen Begriffe hervor, diejenigen Probleme nämlich, welche das große Instrument schmieden und schleifen, dessen die Wissenschaft bedarf, um ihr zentrales Problem zu bearbeiten: das Problem des Gegenstands.
      Hören wir nun, in welchem Sinne Helmholtz die Psychologie für die Definition der Zahl in Anspruch nimmt. «Das Zählen ist ein Verfahren, welches darauf beruht, daß wir uns imstande finden, die Reihenfolge, in der Bewußtseins-Akte zeitlich nacheinander eingetreten sind, im Gedächtnis zu behalten» (S. 21). Die psychologische Tatsache, auf welcher das Zählen beruht, ist sonach die Fähigkeit, die Reihenfolge der zeitlichen Bewußtseins-Akte im Gedächtnis zu behalten. Wenn Helmholtz von dieser psychologischen Tatsache ausgehen zu können glaubt, so muß er sie für eine elementare Tatsache des Bewußtseins halten, welche als solche keiner genaueren Analyse und Charakteristik bedarf. Bewußtseins-Akte treten «zeitlich nacheinander», also in einer Reihenfolge ein, und wir sind imstande, diese Reihenfolge im Gedächtnis zu behalten. Das Zählen beruht somit auf dem Vermögen des Gedächtnisses für die Reihenfolge der Bewußtseins-Akte.
      In dieser psychologischen Tatsache vermag ich keine elementare und keine reine anzuerkennen. Es sind darin unbestimmt geblieben die Worte Zeit, Reihenfolge und Gedächtnis. Das Gedächtnis ist der Ausdruck für das psychologische Urphänomen. Es ist das psychische κοινόν, welches daher an den einzelnen Vorgängen, in denen es sich betätigt, bestimmt werden muß, z.B. an dem Zählen. Die allgemeine Eigenschaft des Gedächtnisses, ein psychisches Beharrungsvermögen zu bezeichnen, muß als Voraussetzung für alle und jede Analyse des Bewußtseins gelten. Daher kann man sagen, die Charakteristik aller Bewußtseins-Erscheinungen sei eine Spezialisierung des sogenannten Gedächtnisses. Daß wir zwei Vorgänge als zwei unterscheiden, setzt nicht bloß die Fähigkeit des Gedächtnisses für zwei Bewußtseins-Vorgänge voraus, sondern es ist dies eine genauere Bestimmung der psychologischen Urtatsache, daß Bewußtseins-Vorgänge als solche festgehalten werden.
      Wir können daher in dem angezogenen Satze das Gedächtnis eliminieren und das Zählen als ein Verfahren annehmen, die Reihenfolge der zeitlichen Bewußtseins-Akte zu bestimmen. Nun bleibt aber das Verhältnis der Zeit zur Reihenfolge zu erklären. Oder wäre es dasselbe, daß die Bewußtseins-Akte «zeitlich nacheinander» eintreten, und daß sie als Reihenfolge eintreten? Helmholtz scheint dies anzunehmen; denn die Erklärungen, die er von der Zeit gibt, ohne diesen Ausdruck in einem neuen Gedankenanfang zu bestimmen, kommen darauf hinaus. Helmholtz betont vor allem das Konventionelle in der sogenannten «natürlichen Zahlenreihe». Wie die Zeichen in den Sprachen verschieden sind, so könne auch ihre Reihenfolge willkürlich bestimmt werden, wenn nur eine bestimmte als gesetzmäßige festgehalten werde. «Diese Reihenfolge ist in der Tat eine von Menschen, unseren Voreltern, die die Sprache ausgearbeitet haben, gegebene Norm oder Gesetz.» Es ist die der positiven ganzen Zahlen. Worin liegt nun das Gesetz dieser Reihenfolge? In der «Eindeutigkeit der Folge». Und worin besteht diese Eindeutigkeit? Das wird wieder psychologisch erklärt und damit in der Tat das Gesetz, die Reihenfolge psychologisch bestimmt. «In der Zahlenreihe sind Vorwärts- und Rückwärtsschreiten nicht gleichwertige, sondern wesentlich verschiedene Vorgänge, wie die Folge der Wahrnehmungen in der Zeit.» Also ist die «wesentliche» Verschiedenheit in dem Vorwärts und Rückwärts der Zahlenreihe durch die Zeitfolge bestimmt. Es wird außer dem wiederholten Rekurs auf das Gedächtnis nichts anderes beigebracht. «Der gegenwärtige Akt ist uns bewußt als verschieden von den Erinnerungsbildern, die neben ihm bestehen. Dadurch ist die gegenwärtige Vorstellung in einem der Anschauungsform der Zeit angehörigen Gegensatz als die nachfolgende den vorausgegangenen gegenübergestellt. In diesem Sinn ist die Einordnung in die Zeitfolge die unausweichliche Form unserer inneren Anschauung» (S. 22). Mithin ist die Reihenfolge die Zeitfolge. Und so wird die Zahl durch ihre Stellung in der gesetzmäßigen Reihe bestimmt. Die Zahlen, welche folgen, nennen wir höhere, die, welche vorausgehen, niedrigere. «Es gibt da eine vollständige Disjunktion, die in dem Wesen der Zeitfolge begründet ist.» Somit besteht das Gesetz der Reihenfolge in dem Wesen der Zeitfolge.
      Wäre nun ein strikter Kantianer ein Buchstabengläubiger, so könnte er über diesen buchstäblichen Anschluß an das, was αὐτὸς ἔφα, seine jüngerhafte Freude haben. Wir aber verstehen unter einem strikten Kantianer einen transzendentalen Methodiker, und arbeiten unter der leider nicht selbstverständlichen Voraussetzung, daß die Anknüpfung an Gedanken, als an methodisch richtige, nach der Gerechtigkeit der Psychologie zu neuen Gedankenbildungen führen muß, welche je nach dem Mutterwitz des Arbeiters, beziehungsweise nach der Kapazität des Lesers an Originalität verschieden sind. Deshalb können wir mit dem Gebrauch der Ausdrücke «Anschauungsform der Zeit» und «Form unserer inneren Anschauung» uns nicht zufrieden geben, sondern müssen auf genauere Charakteristik dringen. Sonst würde der Begriff der Reihenfolge seine psychologische Erklärung in der «unausweichlichen Form» zu finden scheinen: daß wir das Gegenwärtige von dem Vergangenen zu unterscheiden vermögen. Das ist aber noch lange nicht Zählen, und darauf beruht auch das Zählen nicht, nämlich nicht als besonderer, eigentümlicher Akt des Bewußtseins, weil alle Akte des Bewußtseins diese psychische Trägheit zur Voraussetzung haben.
      Für das Verhältnis von Psychologie und Erkenntniskritik ergibt sich aus diesem Experiment die instruktive Folgerung: alle Psychologie muß, auch als solche, mangelhaft sein, die nicht durch Erkenntniskritik geleitet wird, nämlich durch die genauere Unterscheidung von Begriffen und Begriffs-Elementen, die nur da möglich ist, wo nicht Bewußtseins-Akte schlechthin, sondern wissenschaftliche Vorgänge und in Erkenntnissen objektivierte Akte des Bewußtseins zur Untersuchung kommen. Für unsere Frage ergibt sich:
      Zeit und Reihenfolge sind nicht dasselbe.
      In den Riemann und Helmholtz gewidmeten Abschnitten habe ich Zeit und Raum definiert an dem Begriffe des Mannigfaltigen: «Was bedeutet uns jedoch dieses Mannigfaltige? Nichts als die Gegebenheit einer Mehrheit von Elementen. Denke ich diese Mehrheit in der Art gegeben, wie sie in der Tat vor allem gegeben werden muß, nämlich die Elemente derselben in dem Bewußtsein entstehend, mithin aufeinander folgend, so ist das Mannigfaltige als Zeit bestimmt. Sehe ich dagegen davon ab, daß die Mehrheit im Nacheinander der Elemente entstehen muß, nehme dieselben vielmehr als Mehrheit in ihrem Bestande, so bestimmt sich die Mehrheit als Beisammen der Elemente, als Raum» (Kants Theorie der Erfahrung, S. 223 f.).
      Demgemäß bezeichnet die Zeit denjenigen Elementar-Beitrag des Bewußtseins zur Konstituierung des Gegenstands, den wir auszeichnen als die Art des Bewußtseins: eine Mehrheit von Elementen zu entwickeln. Es muß vor allem erklärt werden, daß nicht ὁμοῦ τὰ πάντα, daß nicht aller Inhalt des Bewußtseins ein Haufe bleibt: aus dem kein Gegenstand sich heraussondern würde. Das ist das Zeichen der Zeit, vermöge dessen sie dem Bewußtsein die Urbedingung des Inhalts gibt: die Mehrheit von Elementen.
      Und darin unterscheidet sich diese Charakteristik von der lediglich psychologischen, daß sie mit Rücksicht auf die Konstituierung des Gegenstands das Zeitbewußtsein beschreibt, während, wenn nur die Folge als die Bedeutung der Zeit gedacht, also die lediglich psychologische Beschreibung der Bewußtseins-Vorgänge angestrebt wird, auch diese mangelhaft bleibt. Jetzt ist die Folge objektiv beleuchtet und als Folge von Elementen, also als Inhalts-Entwickelung bestimmt. Aber mehr als diese Urbedingung hat die Zeit nicht zu leisten. Daß Elemente unterschieden, unterscheidbar werden, dafür steht sie ein; aber nicht dafür, daß und wie die Folge derselben bestimmt, bestimmbar wird. Die Zeitfolge ist nicht schon die Reihenfolge. Wenn die Reihe das Gesetz bedeutet, nach welchem eindeutig die Folge bestimmt wird, so liegt dieses Gesetz, diese Reihe nicht schon im Schoße der Zeit. Um Reihen als gesetzliche Folgen zu erzeugen, dazu eben erfinden wir Zahlen. Und das unterscheidet die Zahl von der Zeit: daß die Zeit die Mehrheit von Elementen bezeichnet, die dabei latente Einheit jedoch selber nicht liefern kann. Wo die Einheit als Einheit der Mehrheit gedacht wird, da wird gezählt, da wird die Reihenfolge dieser Einheiten als des Inbegriffs der Mehrheit bestimmt.
      Das Zählen besteht sonach in der Festsetzung und Erzeugung einer Reihe, einer gesetzmäßigen Ordnung von Einheiten einer Mehrheit. Die Tendenz und Voraussetzung der Zahl ist sonach die Reihbarkeit der Elemente. Diese Voraussetzung versteckt sich in dem Begriffe des Gleichartigen, welcher mit der Zahl verbunden, aber nicht deutlich genug nach seinem Verhältnis zur Zahl bestimmt wird. Zählen heißt eine Reihe bilden, d. h. Einheiten als Mehrheit ordnen, d. h. als Einheiten, in der Art der Einheit gleichmachen. In solcher Vergleichung besteht die Ordnung, besteht die Reihe, besteht das Zählen. Die Vergleichung aber beruht auf der gleichmachenden Einheit der Mehrheit. Und in der Vergleichung besteht das Verfahren, in dem und zu dessen Behufe Größen gebildet werden.
      Es fügen und ordnen sich demgemäß die Begriffe des Gleichartigen, der Gleichheit und der Größe. Die Ordnung dieser Begriffe entspringt aus ihrer kritischen Begründung, welche durch die Aufgabe geleitet wird: den Gegenstand zu konstituieren. Von dieser Rücksicht wird auch Helmholtz geleitet, aber nicht in kritischer Reinheit und Sorgfalt. Er unterscheidet nicht Stufen in der Bildung des Objekts; daher fragt er bei den fundamentalen Fragen nach der Zahl und Größe sofort nach der «physischen Verknüpfung», der zufolge wir Gleichheit feststellen. Dabei geht die elementare Bedeutung der Gleichheit verloren. Platon sagt: Ich meine nicht die gleichen Steine und die gleichen Hölzer, sondern das Gleiche selbst an und für sich. Diese elementare Bedeutung der Gleichheit liegt in der Gleichartigkeit.
      Helmholtz dagegen fragt in den beiden Fragen, in die er die oben (S. ??) erwähnte Frage nach dem objektiven Sinn reeller Zahl-Größen zerlegt, zuerst nach dem objektiven Sinn des relativen Gleich, zweitens nach dem Charakter der «physischen Verknüpfung» der Größen (S. 21), und erst später, nachdem die Begriffe der Größe und der Gleichheit (S. 36) entwickelt sind, folgt die Entwickelung des Begriffs der Gleichartigkeit (S. 38). Die Grundbegriffe werden sonach in das Gebiet der schon fertigen Objekte verlegt, in die Relationen der «physischen Verknüpfung», während sie zu charakterisieren sind für die Erzeugung und Wertung des Objektes selbst, des Begriffs, der Möglichkeit eines Objektes. Daß wir, ohne den Gegenstand als Größe zu denken, ihn nicht als Gegenstand denken können, das ist nachzuweisen, und somit, daß wir ihn, um ihn als Größe denken zu können, als Zahl denken müssen, und daß darin die Vergleichung beruht, in welcher die Gleichartigkeit gebildet wird, nämlich die Vergleichbarkeit in der Einheit, als Einheit der Mehrheit.
      Auch die Einheit gehört zu den Grundbegriffen, die ihren fundamentalen, den Begriff des Gegenstands konstituierenden Charakter bei Helmholtz einbüßen. «Solche Objekte, die in irgendeiner bestimmten Beziehung gleich sind und gezählt werden, nennen wir Einheiten der Zählung» (S. 35). Immer ist die Gleichheit und so auch die Einheit im Verhältnis gedacht zu der «physischen Verknüpfung», die gerade beabsichtigt wird, nicht aber zu der objektiven Erzeugung, die nach ihren Bedingungen zu ergründen ist. Der Begriff der Anzahl fordert mit Recht diese Relativität. «Wenn ich die vollständige Zahlenreihe von 1 bis n brauche» (S. 32), so nenne ich n die Anzahl der Glieder. Indessen die Gleichheit darf nicht lediglich durch die notwendigerweise relative Anzahl erklärt werden. «Haben beide (scil. Gruppen) dieselbe Anzahl, so bezeichnen wir sie als gleich» (S. 35). Die Gleichheit setzt immer erst die Vergleichbarkeit, die Summierbarkeit, also die Einheit der Mehrheit und somit die Größe voraus. Bei Helmholtz aber folgt auf die angeführte Definition des Gleichen unmittelbar die der Größe. «Objekte oder Attribute von Objekten, die mit ähnlichen verglichen, den Unterschied von größer, gleich oder kleiner zulassen, nennen wir Größen» (S. 36). Und diese Unterschiede selbst, wie werden sie bestimmt?
      Bei Vergleichung zweier Gruppen von verschiedener Anzahl «bezeichnen wir die, welcher die höhere Anzahl zukommt, als die größere, die von niederer Anzahl als die kleinere» (S. 35). Und wie bestimmt sich das Höhere? Als das in der Reihe Folgende (S. 23). Also beruht die Bestimmung der Größe letztlich auf der «inneren Anschauung» der Zeit. Von dem erzeugenden Charakter, welcher in dem Begriffe, der Kategorie der Einheit liegt, ist jede Spur verloren, und was damit fehlt, wird nicht vermißt. Denn es wird überall nur nach dem «objektiven Sinn» gefragt, daß wir Verhältnisse reeller Objekte als Größen «ausdrücken», Objekte «in gewisser Beziehung für gleich erklären» (S. 20 f.), aber nicht nach der objektivierenden Kraft, welche dem Ausdruck der Größe, der Erklärung der Gleichheit beiwohnt, noch bevor eine physische Verknüpfung Platz greifen kann.
      Sehr instruktiv wird dieser Mangel und Ausfall der Rücksicht auf die den Begriff des Objekts ermöglichende, d. h. transzendentale Geltung der Begriffe der Größe und der Gleichheit durch ein Urteil über das erste Axiom bezeichnet. «Das erste Axiom ‹Wenn zwei Größen einer dritten gleich sind, sind sie unter sich gleich›, ist also nicht ein Gesetz von objektiver Bedeutung, sondern es bestimmt nur, welche physischen Beziehungen wir als gleiche erkennen dürfen» (S. 44). Indessen gerade diese Bestimmung enthält das Axiom nicht; sondern, die physische Bedeutung der Gleichheit vorbehaltend, enthält das Axiom nur den vorbedingenden Gedanken: daß die Gleichheit zweier Größen nur an ihrem Verhältnis zu einer dritten nachgewiesen werden könne. Das Axiom drückt daher den Begriff der Größe als einer Vergleichungs-Größe aus. Das Axiom besagt: die Größe ist ein Vergleichungsgebild. Und darin besteht die fundamentale Bedeutung des Begriffs des Gleichartigen, daß die Wurzel der Größe in der Vergleichung ausgegraben wird, nicht in der «Methode der Vergleichung» unter geeigneten physischen Bedingungen (S. 37), sondern in der Urmethode des Anordnens vermöge der Einheit als einer Mehrheit-Bildnerin. Diese Reduktion des sogenannten reellen Objekts auf die bloße Vergleichbarkeit mit der Einheit der Mehrheit ergibt die Gleichartigkeit, als die erste und fundamentalste Art einer Art.
      Die Gleichartigkeit ist daher noch keine Gleichheit, sondern genauer Selbartigkeit oder Artigkeit par excellence. Die instrumentale Gleichartigkeit bedeutet nichts anderes als die Summierbarkeit, die Möglichkeit und Befugnis, Einheiten der Mehrheit zu bilden, das sind Zahlen. Die Gleichheit dagegen setzt den Begriff der Größe voraus, und bedeutet negativ und positiv: daß in den verglichenen Größen durch Zahlen ein Unterschied nicht festgestellt werden kann, oder daß dieselben, in Zahlen bestimmt, dieselbe Ausdehnung beschreiben.
      Der Begriff der Größe setzt neben der Zeit den Raum voraus. Das will sagen: als Größe ist nicht zu denken jene Mehrheit von Elementen, welche die Zeit als Mehrheit kennzeichnet, sondern dieselbe ist als Einheit, und nicht als bildende Einheit bloß, sondern als Ganzes festzustellen. Sobald ich aber die Mehrheit geschlossen denke, so denke ich ein Beisammen, und auch psychologisch ist, beiläufig gesagt, in der Simultaneität der Zeit vielmehr der Raum latent. Die Größe ist extensive Größe. Ist sie nur extensive Größe?
      Indem Helmholtz, die Größen als «physische Größen» fassend, die Methoden der physikalischen Vergleichung durchgeht und für logische Gebrauchszwecke wohltätig illustriert, hat er bei der Besprechung des Unterschiedes zwischen den physikalischen Koeffizienten und den additiven Größen den Satz eingeschoben: «Einigermaßen entspricht der genannte Unterschied wohl dem, den ältere Metaphysiker in dem Gegensatz der extensiven und intensiven Größe anzuzeigen wünschten» (S. 47f.). Wie es sich mit der älteren Metaphysik in diesem Punkte verhält, kann hier weder von neuem untersucht, noch wiederholt werden; dagegen trifft diese Erwähnung das Zentrum der ganzen Frage, den Grund des philosophischen Interesses an Zählen und Messen. Sie führt uns zu dem systematischen Grundgedanken dieser Abhandlung: die Zahlen als Zeichen zu erklären.
      Die Ansicht von den Zeichen tritt schon im Terminismus des Mittelalters auf, wie auch schon beim Ausgang des Altertums in der Stoa, sie erscheint wieder bei Hobbes und ist in prägnanter Schärfe bei dem jugendlichen Schiller zu finden. Der Vorteil dieses Begriffs liegt auf der Hand, wo Überspanntheiten des dogmatischen Realismus aufzuklären sind. Die Begriffe sind nicht das, was durch sie bezeichnet wird; sie haben überhaupt kein Dasein, können daher auch nicht, und wäre es in einem überhimmlischen Orte, ein selbständiges Dasein führen. Sie sind schlecht und recht Zeichen. Und wie alle Begriffe, sind auch die Zahlen Zeichen.
      Indessen die Definition ist sonach zu weit. Alle Begriffe sind Zeichen: worin unterscheiden sich nun die Zahl-Zeichen von den Begriffs-Zeichen überhaupt? Und wenn es sich herausstellen sollte, daß unter dem Gattungsausdruck Zeichen die Art der Zahlen von der Gattung der Begriffe nicht unterschieden werden könnte, ist es dann nicht verständlich, daß die großen Rationalisten an dem andern Gattungsausdruck begrifflicher Erzeugungen festhalten wollten und den des Zeichens verschmähten? Die Begriffe sind nicht sowohl Zeichen, als vielmehr Werte. Das Zeichen ist in günstigster Bedeutung das Bild, das getreue Bild, welches die zeichnende Phantasie entwirft. Das Zeichen trägt das Mal der Resignation, sei es der Sophistik, sei es der Aufklärung an der Stirne: als ob wir mit der Erkennungsmarke zufrieden sein müßten, und nicht vielmehr nach dem Grund und Recht der Prägung fragen dürften und fragen könnten.
      Der Gesichtspunkt des Zeichens ist daher nur gegen transzendente Vorstellungen nützlich; innerhalb kritischer Einsichten dagegen als Warnung überflüssig und als Prinzip unzulänglich. Denn worin begründet sich die Sache oder der Begriff oder genauer das Problem, welches bezeichnet zu werden verlangt? Ein solches Problem-Zeichen soll in dem Begriffe der Zahl gedeutet und bestimmt werden. Das Bedenkliche an dem Terminus Zeichen ist die Gefahr der oberflächlichen Ansicht, als ob die Dinge für sich hinreichend zum Dasein ausgestattet seien, zum Überfluß aber auch noch zählbar gemacht würden. Die Zahlen sind aber vielmehr Instrumente zur Erzeugung der Dinge als wissenschaftlicher Gegenstände. Diese Teilnahme der Zahlen an dem Ursprung, an der Erzeugung der Gegenstände ist das Problem der Zahl. Der ungenaue Titel des Zeichens leistet nur der Mystik Vorschub, die seit Pythagoras sich an die Zahlen anschmiegt. Wir wollen aber nicht Theologen als Lehrzeugen in der Zahlenlehre anhören müssen.
      Das Zeichen erklärt auch die Einheit ungenügend. «Das Zeichen Eins legen wir demjenigen Glied der Reihenfolge bei, mit dem wir beginnen» (S. 22). Was beginnen? Die Reihenfolge beginnen. Also bedeutet das Zeichen Eins die Befugnis, die Kraft, die Reihenfolge beginnen zu dürfen und zu können. Woher diese Befugnis und diese Kraft? Das ist die Frage. Diese aber wird nicht gestellt und nicht erledigt, wenn man einfach sagt: «mit dem wir beginnen»: als ob es selbstverständlich wäre und gänzlich außer Frage stände, daß und wie wir beginnen. Als ob nicht gerade in diesem Beginn das Problem der Zahl seine Wurzel habe.
      Die Einheit ist in der Tat ein Beginn, aber nicht bloß der Reihenfolge, sondern der Anbeginn der Taten und Betätigungen des Bewußtseins, sofern wir dieselben als Elementar-Beiträge zur Erzeugung des Gegenstands zerlegen. Die Einheit ist eine der Einheiten des Bewußtseins, deren Inbegriff das wissenschaftliche Bewußtsein ist als Zusammenfassung der Gesetze, die den Begriff des Gegenstands bedingen. Solch ein Zeichen ist die Eins, geradeso wie die Substanz und die Kausalität und die anderen seit den Eleaten berühmten Grundbegriffe.
      Wenn wir nun aber diesen den Gegenstand bedingenden Geltungswert der Zahl ins Auge fassen, so entsteht erst recht die Frage, die für Helmholtz selbst den tiefsten Grund des Interesses bildet, nur daß er denselben nicht klargelegt hat. Die Zahlen sind ja samt und sonders nur Vergleichungen, und die Größen, welche in benannten Zahlen ausgedrückt werden, nur Vergleichungs-Größen: ist damit gesagt, daß alle unsere Kompetenz, Sachlichkeiten zu bestimmen, zu einer bloßen Zeichenschule herabsinkt; daß die Begriffs-Werte, welche wir auszubilden vermeinen, zu Zeichenbildern verblassen?
      Hier ist der Punkt, an welchem die sonderbarste Zahl-Erfindung eintritt, deren Helmholtz auffälligerweise keine Erwähnung tut. Die Menschheit hat im Laufe ihrer mathematischen Entwickelung einen Begriff ausgezeichnet, um diesem Problem, welches innerhalb der Zahlenlehre selbst entsteht, Ausdruck und Lösung zu geben. Diese Hilfe leistet der Grundbegriff der Realität, welcher im Unterschiede von den Kategorien der Substanz und der Wirklichkeit, die andere Probleme definieren, dieser Gedankennot abhilft: wie wird der Punkt getroffen, an welchem der wahrhafte Ursprung der Dinge und ihrer Werte freilich nicht ausgegraben oder offenbar gemacht, aber - bezeichnet und definiert werden kann, nämlich als gedankliche Voraussetzung, als begriffliche Auszeichnung.
      Es wird mir nicht verdacht werden, - denn der Zusammenhang der Betrachtung fordert diese persönliche Rede, - daß ich hier auf die Bedeutung hinweise, welche ich in ausführlichen Auseinandersetzungen mit den Formulierungen Kants und seiner Vorgänger der Kategorie der Realität und demzufolge dem Grundsatz der intensiven Größe zuerteilt habe. Die Realität bezeichnet uns dasjenige, was nicht bloß mit Rücksicht auf einen Maßstab, also kraft Vergleichung und Addition als Größe gedacht wird, sondern ein Etwas, welches den Ursprung und Wurzelpunkt für alle diese Maßstäbe und Vergleichungen nicht zwar wie eine Sache aufdecken, aber als ein Begriff bezeichnen und bedeuten soll; von welchem dies und nichts anderes ausgedrückt wird: der Beginn ist gerechtfertigt, der Ursprung ist bezeichnet, die Sache fängt nicht von ungefähr an, die Größe ist nicht da, ohne daß man wüßte, woher sie gekommen, und auch dadurch nicht etwa da, daß wir glauben, mit einem Zeichen bloß beginnen zu brauchen, sondern wir lassen sie entstehen kraft derselben Befugnis, mit der wir alle Gedankenwerte entstehen lassen, das Quantum der Substanz beharrend machen und die Verknüpfung der Kausalität ins Werk setzen. Mit derselben Kompetenz der synthetischen Einheit gebieten wir der Größe ihren Anfang, der Zahl ihren Ursprung.
      Dieses Problem ist so notwendig, wie irgendeines, das eine eigene Auszeichnung fordert. Und wie es sich innerhalb der Zahl-Bildungen selbst geltend macht, so habe ich versucht, in dem «Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte» (1883) die unendlich kleine Zahl als Repräsentantin dieses Zeichens kenntlich zu machen. Es war nicht meine Absicht, den Lehrer der Differential-Rechnung mit diesem «Kapitel zur Grundlegung der Erkenntniskritik» zu belasten, und ich erkläre hier vorläufig, was dort nur angedeutet war, daß für die interne mathematische Definition die Grenz-Methode in Kraft und Ehren bleibt, wie es denn vom Standpunkt der Erkenntniskritik nur gebilligt werden kann, daß Kronecker in der in diesem Bande enthaltenen Abhandlung «Über den Zahlbegriff» auch die negative Zeit rein mathematisch definiert (S. 272 f.). Sobald jedoch der Mathematiker nach dem «objektiven Sinn» der Zahlen zu fragen anfängt, so muß er auf den Unterschied zwischen der endlichen und der unendlich kleinen Zahl eingehen, so muß er daher die Bedeutung der letzteren für Geometrie und Mechanik anerkennen und in Betracht ziehen, so darf er sich nicht bei der Formulierung beruhigen, welche Kronecker von Gauß anführt, und welche, obschon vom Jahre 1829 datiert, seit dem Jahre 1781 veraltet ist. Zur Erklärung der Zahlen als grundsätzlicher Methoden für die Konstituierung der Objekte ist es erforderlich, die Bedeutung der Infinitesimal-Zahlen als Realitäts-Werte auszuzeichnen, und um dem Gedanken allen Nachdruck der Überzeugung zu verleihen, wage ich den Ausspruch: daß ich von dieser Lehrmeinung, deren Zusammenhang mit der Vorgeschichte ich fortfahren werde darzulegen, als von einer philosophischen Wahrheit überzeugt bin, deren Latenz in Kants Formulierungen das Schicksal der nachkantischen Philosophie erklärt, und von deren fruchtbarer Anerkennung die Sicherstellung des kritischen Idealismus abhängt.
Die extensive Größe ist Vergleichungs-Größe; die intensive Größe heißt nur Größe als Erzeugung derselben; sie ist Erzeugungs-Größe und Realitäts-Einheit. Die endlichen Zahlen sind Einheiten der Mehrheit; die unendlich kleine Zahl ist die Einheit, welche den Ursprung der Einheit bedeutet, also nicht auf die Weite der Mehrheit wartet und in derselben schwebt. Die unendlich kleine Zahl ist daher der ganzen Tendenz nach von der unendlich großen Zahl unterschieden, welche letztere einem andern Kategorien-Titel angehört *).
      Dies ist der Zusammenhang der Infinitesimal-Methode als des vorzüglichsten Instruments der mathematischen Naturwissenschaft mit dem Problem des Gegenstands. Und da alle Mittel, über die wir letztlich verfügen, um Gegenstände zu konstituieren, in Bewegungs-Gleichungen verwendbar werden, diese aber die unendlich kleinen Zahlen, wie immer sie in Zukunft mathematisch definiert werden mögen, voraussetzen, so sind die Zahlen, die im Differential ihre Ursprungs-Geltung haben, nicht nur Zeichen, sondern die tiefsten und letzten Werte, um mit den Realitäten, die sie bezeichnen, die Relationen auszudrücken und zustande zu bringen, in denen allein die Gegenstände definiert werden können.
      So gegründete Realität hat die Welt der Wissenschaft, die Welt der Wirklichkeit. Der Begriffswert dieser Realität ist der Wegweiser, mit dem wir uns an den Zeichen der Empfindung orientieren lernen. Die Empfindung ist ein bloßes Zeichen, und wenn wir ihrer Meldung überantwortet wären, so hätten wir nur Anzeichen, aber keine Zeugnisse. Die Natur als die Welt der Wissenschaft ist in Begriffen gegründet, und unter diesen ist einer mit der Geltung der Realität ausgezeichnet. Mit diesem Faktor der Realität haben wir rechnen gelernt und über die Berichte der Empfindung hinaus Objekte und objektive Verhältnisse festgestellt. Die Natur braucht uns nicht schlechtweg als Zeichen-Welt zu gelten: sie ist in Realitäts-Zahlen definiert.
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      *)
Vgl. Cohen: Kants Theorie der Erfahrung (2) S. 277 und K. Laßwitz, «Zum Kontinuitäts-Problem» (Philos. Monatshefte Bd. XXIV S. 27).