BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Annette von Droste-Hülshoff

1797 - 1848

 

Gedichte

 

1838

 

______________________________________________________________________________

 

 

 

Am Charsamstage

entstanden 1820

 

Tiefes, ödes Schweigen,

Die ganze Erd' wie todt!

Die Lerchen ohne Lieder steigen,

Die Sonne ohne Morgenroth.

5

Auf die Welt sich legt

Der Himmel matt und schwer,

Starr und unbewegt,

Wie ein gefrornes Meer.

O Herr, erhalt' uns!

 

10

Meereswogen brechen,

Sie toben sonder Schall;

Nur die Menschenkinder sprechen,

Doch schaurig schweigt der Widerhall.

Wie versteinet steht

15

Der Aether um uns her;

Dringt wohl kein Gebeth

Durch ihn zum Himmel mehr.

O Herr, erhalt' uns!

 

Sünden sind geschehen,

20

Für jedes Wort zu groß,

Daß die Erde müßt vergehen,

Trüg sie nicht Jesu Leib im Schooß.

Noch im Tod' voll Huld

Erhält sein Leib die Welt,

25

Daß in ihrer Schuld

Sie nicht zu Staub zerfällt.

O Herr, verschon' uns!

 

Jesus liegt im Grabe,

Im Grabe liegt mein Gott!

30

Was ich von Gcdanken habe,

Ist doch dagegen nur ein Spott.

Kennt in Ewigkeit

Kein Jesus mehr die Welt?

Keiner der verzeiht,

35

Und Keiner der erhält?

O Herr, errett' uns!

 

Ach, auf jene Frommen,

Die seines Heils geharrt,

Ist die Glorie gekommen

40

Mit seiner süßen Gegenwart.

Harrten seiner Huld:

Vergangenheit die Zeit,

Gegenwart Geduld,

Zukunft die Ewigkeit.

45

O Herr, erlös' uns!

 

Lange, lange Zeiten

In Glauben und Vertraun,

Durch die unbekannten Weiten

Nach unbekanntem Heil' sie schaun.

50

Dachten sich so viel,

Viel Seligkeit und Pracht.

Ach, es war wie Spiel,

Von Kindern ausgedacht.

O Herr, befrey uns!

 

55

Herr, ich kann nicht sprechen

Vor deinem Angesicht!

Laß die ganze Schöpfung brechen,

Diesen Tag erträgt sie nicht.

Ach, was naht so schwer,

60

Ist es die ewge Nacht,

Ist's ein Sonnenmeer,

In tausend Strahlenpracht?

O Herr, erhalt' uns!