BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Gottlieb Fichte

1762 - 1814

 

Reden an die deutsche Nation

 

1807/08

 

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Neunte Rede.

 

An welchen in der Wirklichkeit

vorhandenen Punct die neue Nationalerziehung

der Deutschen anzuknüpfen.

 

Durch unsere letzte Rede sind mehrere schon in der ersten versprochene Beweise geführt und vollendet worden. Es sey dermalen nur davon die Rede, sagten wir, und dies sey die erste Aufgabe, das Daseyn und die Fortdauer des Deutschen schlechtweg zu retten; alle andere Unterschiede seyen dem höheren Ueberblicke verschwunden; und es würde durch jenes den besonderen Verbindlichkeiten, die etwa jemand zu haben glaube, kein Eintrag geschehen. Es ist, wenn uns nur der gemachte Unterschied zwischen Staat und Nation gegenwärtig bleibt, klar, dass auch schon früher die Angelegenheiten dieser beiden niemals in Widerstreit gerathen konnten. Die höhere Vaterlandsliebe für das gemeinsame Volk der deutschen Nation musste und sollte ja ohnedies die oberste Leitung in jedem besonderen deutschen Staate fuhren; keiner von ihnen durfte ja diese höhere Angelegenheit aus den Augen verlieren, ohne alles Edle und Tüchtige von sich abwendig zu machen, und so seinen eigenen Untergang zu beschleunigen: jemehr daher jemand von jener höheren Angelegenheit ergriffen und belebt war, ein desto besserer Bürger war er auch für den besonderen deutschen Staat, in den sein unmittelbarer Wirkungskreis fiel. Deutsche Staaten konnten mit deutschen Staaten in Streit gerathen, über besondere hergebrachte Gerechtsame. Wer die Fortdauer des hergebrachten Zustandes wollte, und jeder Verständige ohne Zweifel musste um der ferneren Folgen willen diese wollen, der musste wünschen, dass die gerechte Sache siege, in wessen Händen sie auch seyn möchte. Höchstens hätte ein besonderer deutscher Staat darauf ausgehen können, die ganze deutsche Nation unter seiner Regierung zu vereinigen, und statt der hergebrachten Völkerrepublik Alleinherrschaft einzuführen. Wenn es wahr ist, wie ich z.B. es allerdings dafürhalte, dass gerade diese republikanische Verfassung bisher die vorzüglichste Quelle deutscher Bildung und das erste Sicherungsmittel ihrer Eigenthümlichkeit gewesen, so wäre! falls die vorausgesetzte Einheit der Regierung nicht etwa selbst die republikanische, sondern die monarchische Form getragen hätte, in der es dem Gewalthaber doch möglich gewesen wäre, irgend einen Spross ursprünglicher Bildung über den ganzen deutschen Boden hinweg für seine Lebenszeit zu zerdrücken; – wenn dieses wahr ist, sage ich, so wäre in diesem Falle es allerdings ein grosses Misgeschick für die Angelegenheit deutscher Vaterlandsliebe gewesen, wenn dieser Vorsatz gelungen wäre, und jeder Edle über die ganze Oberfläche des gemeinsamen Bodens hinweg hätte dagegen sich stemmen müssen. Dennoch auch in diesem schlimmsten Falle wären es doch immer Deutsche geblieben, die über Deutsche regiert und ihre Angelegenheiten ursprünglich geleitet hätten, und wenn auch auf eine vorübergehende Zeit der eigenthümliche deutsche Geist vermisst worden wäre: so wäre doch die Hoffnung geblieben, dass er wieder erwachen werde, und jedes kräftigere Gemüth über den ganzen Boden hinweg hätte sich versprechen können, Gehör zu finden, und sich verständlich zu machen; es wäre doch immer eine deutsche Nation im Daseyn verblieben, und hätte sich selbst regiert, und sie wäre nicht untergegangen in einem anderen von niederer Ordnung.

Immer bleibt hier das Wesentliche in unserer Berechnung, dass die deutsche Nationalliebe selbst an dem Ruder des deutschen Staates entweder sitze, oder doch mit ihrem Einflusse dahingelangen könne. Wenn aber, zufolge unserer früheren Voraussetzung, dieser deutsche Staat, – ob er nun als einer oder mehrere erscheine, thut nichts zur Sache, in der That ist es dennoch Einer, – überhaupt aus deutscher Leitung in fremde fiele, so ist sicher, und das Gegentheil davon wäre gegen alle Natur und schlechterdings unmöglich; es ist sicher, sage ich, dass von nun an nicht mehr deutsche Angelegenheit, sondern eine fremde entscheiden wurde. Wo die gesammte Nationalangelegenheit der Deutschen bisher ihren Sitz hatte und dargestellt wurde am Ruder des Staates, da wäre sie verwiesen. Soll sie nun hiermit nicht ganz ausgetilgt seyn von der Erde, so muss ihr ein anderer Zufluchtsort bereitet werden, und zwar in dem, was allein übrigbleibt, bei den Regierten, in den Bürgern. Wäre sie aber bei diesen und ihrer Mehrheit schon, so wären wir in den Fall, über welchen wir uns dermals berathschlagen, gar nicht gekommen; sie ist daher nicht bei ihnen, und muss erst in sie hineingebracht werden: das heisst mit anderen Worten, die Mehrheit der Bürger muss zu diesem vaterländischen Sinne erzogen werden, und, damit man der Mehrheit sicher sey, diese Erziehung muss an der Allheit versucht werden. Und so ist denn zugleich unumwunden und klar der gleichfalls ehemals versprochene Beweis geführt worden, dass es schlechthin nur die Erziehung, und kein anderes mögliches Mittel sey, das die deutsche Selbstständigkeit zu retten vermöge; und es wäre ohne Zweifel nicht unsere Schuld, wenn man selbst bis jetzt noch nicht den eigentlichen Inhalt und die Absicht dieser unserer Reden, und den Sinn, in welchem alle unsere Aeusserungen zu nehmen sind, zu fassen vermöchte.

Um es noch kürzer zu fassen: immer unter unserer Voraussetzung, sind den Unmündigen ihre väterlichen und blutsverwandten Vormünder abgegangen, und Herren an ihre Stelle getreten; sollen jene Unmündige nicht gar Sklaven werden, so müssen sie eben der Vormundschaft entlassen und damit sie dieses können, zuallererst zur Mündigkeit erzogen werden. Die deutsche Vaterlandsliebe hat ihren Sitz verloren; sie soll einen anderen breiteren und tieferen erhalten in welcher sie in ruhiger Verborgenheit sich begründe und stähle, und zu rechter Zeit in jugendlicher Kraft hervorbreche, und auch dem Staate die Verlorene Selbstständigkeit wiedergebe. Wegen des letzteren können nun sowohl das Ausland, als die kleinlichen und engherzigen Trübseligkeiten unter uns selbst in Ruhe verbleiben; man kann zu ihrer aller Troste sie versichern, dass sie es insgesammt nicht erleben werden, und dass die Zeit, die es erleben wird, anders denken wird, denn sie.

Ob nun, so streng auch die Glieder dieses Beweises aneinanderschliessen mögen, derselbe auch andere ergreifen und sie zur Thätigkeit aufregen werde, hängt zuallererst davon ab, ob es so etwas, wie wir deutsche Eigenthümlichkeit und deutsche Vaterlandsliebe geschildert haben, überhaupt gebe, und ob diese der Erhaltung und des Strebens dafür werth sey, oder nicht. Dass der – auswärtige oder einheimische – Ausländer diese Frage mit Nein beantwortet, versteht sich; aber dieser ist auch nicht mit zur Berathschlagung berufen. Uebrigens ist hierbei anzumerken, dass die Entscheidung über diese Frage keinesweges auf einer Beweisführung durch Begriffe beruht, welche hierin zwar klarmachen, keinesweges aber über wirkliches Daseyn oder Werth Auskunft zu geben vermögen, sondern dass die letzteren lediglich durch eines jeglichen unmittelbare Erfahrung an ihm selber bewährt werden können. In einem solchen Falle mögen Millionen sagen: es sey nicht, so kann dadurch niemals mehr gesagt seyn denn dass es nur in ihnen nicht sey, keinesweges, dass es überhaupt nicht sey, und wenn ein Einziger gegen diese Millionen auftritt und versichert, dass es sey, so behält er gegen sie Alle recht. Nichts verhindert, dass, da ich nun gerade rede, ich in dem angegebenen Falle dieser Einzige sey, der da versichert, dass er aus unmittelbarer Erfahrung an sich selbst wisse, dass es so etwas, wie deutsche Vaterlandsliebe gebe, dass er den unendlichen Werth des Gegenstandes derselben kenne, dass diese Liebe allein ihn getrieben habe, auf jede Gefahr zu sagen, was er gesagt hat und noch sagen wird, indem uns dermalen gar nichts übriggeblieben ist, denn das Sagen, und sogar dieses auf alle Weise gehemmt und verkümmert wird. Wer dasselbe in sich fühlt, der wird überzeugt werden; wer es nicht fühlt, kann nicht überzeugt werden, denn allein auf jene Voraussetzung stützt sich mein Beweis; an ihm habe ich meine Worte verloren, aber wer wollte nicht etwas so geringfügiges, als Worte sind, auf das Spiel setzen?

Diejenige bestimmte Erziehung, von der wir uns die Rettung der deutschen Nation versprechen, ist in unserer zweiten und dritten Rede im allgemeinen beschrieben worden. Wir haben sie als eine gänzliche Umschaffung des Menschengeschlechtes bezeichnet, und es wird passend seyn, an diese Bezeichnung eine wiederholte Uebersicht des Ganzen anzuknüpfen.

In der Regel galt bisher die Sinnenwelt für die recht eigentliche, wahre und wirklich bestehende Welt, sie war die erste, die dem Zöglinge der Erziehung vorgeführt wurde; von ihr erst wurde er zum Denken, und zwar meist zu einem Denken über diese, und im Dienste derselben angeführt. Die neue Erziehung kehrt diese Ordnung geradezu um. Ihr ist nur die Welt, die durch das Denken erfasst wird, die wahre und wirklich bestehende Welt; in diese will sie ihren Zögling, sogleich wie sie mit derselben beginnt, einführen. An diese Welt allein will sie seine ganze Liebe und sein ganzes Wohlgefallen binden, so dass ein Leben allein in dieser Welt des Geistes bei ihm nothwendig entstehe und hervorkomme. Bisher lebte in der Mehrheit allein das Fleisch, die Materie, die Natur; durch die neue Erziehung soll in der Mehrheit, ja gar bald in der Allheit, allein der Geist leben und dieselbe treiben; der feste und gewisse Geist, von welchem früher, als von der einzigmöglichen Grundlage eines wohleingerichteten Staates, gesprochen worden, soll im Allgemeinen erzeugt werden.

Durch eine solche Erziehung wird ohne Zweifel der Zweck, den wir zunächst uns vorgesetzt haben, und von dem unsere Reden ausgegangen sind, erreicht. Jener zu erzeugende Geist führt die höhere Vaterlandsliebe, das Erfassen seines irdischen Lebens, als eines ewigen, und des Vaterlandes, als des Trägers dieser Ewigkeit, und, falls er in den Deutschen aufgebauet wird, die Liebe für das deutsche Vaterland, als einen seiner nothwendigen Bestandtheile unmittelbar in sich selber; und aus dieser Liebe folgt der muthige Vaterlandsvertheidiger, und der ruhige und rechtliche Bürger von selbst. Es wird durch eine solche Erziehung sogar noch mehr erreicht, als dieser nächste Zweck; wie das allemal der Fall ist, wo ein grosses Ziel durch ein durchgreifendes Mittel gewollt wird; der ganze Mensch wird nach allen seinen Theilen vollendet, in sich selbst abgerundet, nach aussen zu allen seinen Zwecken in Zeit und Ewigkeit mit vollkommener Tüchtigkeit ausgestattet. Mit unserer Genesung für Nation und Vaterland hat die geistige Natur unsere vollkommene Heilung von allen Uebeln, die uns drücken, unzertrennlich verknüpft.

Mit der stumpfen Verwunderung, dass eine solche Welt des blossen Gedankens behauptet, und sogar als die einzigmögliche Welt behauptet, dagegen die Sinnenwelt ganz weggeworfen werde, sowie mit der Abläugnung der ersteren entweder überhaupt, oder nur der Möglichkeit, dass selbst die Mehrheit des grossen Volkes in dieselbe eingeführt werden könne, haben wir es hier nicht mehr zu thun, sondern haben dieselben schon früher gänzlich von uns weggewiesen. Wer noch nicht weiss, dass es eine Welt des Gedankens gebe, der mag indessen anderwärts durch die vorhandenen Mittel sich davon belehren, wir haben hier zu dieser Belehrung nicht Zeit; wie aber sogar die Mehrheit des grossen Volkes zu derselben emporgehoben werden könne, dies wollen wir eben zeigen.

Indem nun, unserem eigenen wohlbedachten Sinne nach, der Gedanke einer solchen neuen Erziehung keinesweges als ein blosses zur Uebung des Scharfsinnes oder der Streitfertigkeit aufgestelltes Bild zu betrachten ist, sondern derselbe vielmehr zur Stunde ausgeübt und ins Leben eingeführt werden soll: so kommt uns zuvörderst zu, anzugeben, an welches in der wirklichen Welt schon vorliegende Glied diese Ausführung sich anknüpfen solle.

Wir geben auf diese Frage zur Antwort: an den von Johann Heinrich Pestalozzi erfundenen, vorgeschlagenen, und unter dessen Augen schon in glücklicher Ausübung befindlichen Unterrichtsgang soll sie sich anschliessen. Wir wollen diese unsere Entscheidung tiefer begründen und näher bestimmen.

Zuvörderst, wir haben die eigenen Schriften des Mannes gelesen und durchdacht, und aus diesen unseren Begriff seiner Unterrichts- und Erziehungskunst uns gebildet; gar keine Kunde aber haben wir genommen von dem, was die gelehrten Neuigkeitsblätter darüber berichtet und gemeint, und über die Meinungen wieder gemeint haben. Wir Merken dies darum an, um jedem, der über diesen Gegenstand gleichfalls einen Begriff zu haben begehrt, denselben Weg, und die durchgängige Vermeidung des entgegengesetzten, zu empfehlen. Ebensowenig haben wir bis jetzt etwas von der wirklichen Ausübung sehen wollen, keinesweges aus Nichtachtung, sondern weil wir uns erst einen festen und sicheren Begriff von der wahren Absicht des Erfinders, hinter welcher die Ausübung oft zurückbleiben kann, verschaffen wollten, aus diesem Begriffe aber der Begriff von der Ausübung und dem nothwendigen Erfolge, ohne alles Probiren, sich von selbst ergiebt, und man, nur mit diesem ausgestattet, die Ausübung wahrhaftig verstehen und richtig beurtheilen kann. Sollte, wie einige glauben, auch dieser Unterrichtsgang schon hier und da in ein blindes empirisches Zutappen, und in leere Spielerei und Schauauslegerei ausgeartet seyn, so ist meines Erachtens der Grundbegriff des Erfinders wenigstens daran ganz unschuldig.

Für diesen Grundbegriff nun bürgt mir zuerst die Eigenthümlichkeit des Mannes selber, wie er diese in seinen Schriften mit der treusten und gemüthvollsten Offenheit darlegt. An ihm hätte ich ebensogut, wie an Luther, oder, falls es noch andere diesen gleichende gegeben hat, an irgend einem anderen, die Grundzüge des deutschen Gemüthes darlegen, und den erfreuenden Beweis fuhren können, dass dieses Gemüth in seiner ganzen wunderwirkenden Kraft in dem Umkreise der deutschen Zunge noch bis auf diesen Tag walte. Auch er hat ein mühvolles Leben hindurch, im Kampfe mit allen möglichen Hindernissen, von innen mit eigener hartnäckiger Unklacheit und Unbeholfenheit, und selbst höchst spärlich ausgestattet mit den gewöhnlichsten Hülfsmitteln der gelehrten Erziehung, äusserlich mit anhaltender Verkennung, gerungen nach einem bloss geahnten, ihm selbst durchaus unbewussten Ziele, aufrecht gehalten und getrieben durch einen unversiegbaren und allmächtigen und deutschen Trieb, die Liebe zu dem armen verwahrlosten Volke. Diese allmächtige Liebe hatte ihn, ebenso wie Luthern, nur in einer anderen und seiner Zeit angemesseneren Beziehung, zu ihrem Werkzeuge gemacht, und war das Leben geworden in seinem Leben, sie war der ihm selbst unbekannte feste und unwandelbare Leitfaden dieses seines Lebens, der es hindurchführte durch alle ihn umgebende Nacht, und der den Abend desselben – denn es war unmöglich, dass eine solche Liebe unbelohnt von der Erde abtrete – krönte mit seiner wahrhaft geistigen Erfindung, die weit mehr leistete, denn er je mit seinen kühnsten Wünschen begehrt hatte. Er wollte bloss dem Volke helfen; aber seine Erfindung, in ihrer ganzen Ausdehnung genommen, hebt das Volk, hebt allen Unterschied zwischen diesem und einem gebildeten Stande auf, giebt statt der gesuchten Volkserziehung Nationalerziehung, und hätte wohl das Vermögen, den Völkern und dem ganzen Menschengeschlechte aus der Tiefe seines dermaligen Elendes emporzuhelfen.

Dieser sein Grundbegriff steht in seinen Schriften mit vollkommener Klarheit und unverkennbarer Bestimmtheit da. Zuvörderst will er in Absicht der Form nicht die bisherige Willkür und das blinde Herumtappen, sondern er will eine feste und sicher berechnete Kunst der Erziehung, wie auch wir es wollen, und wie deutsche Gründlichkeit es nothwendig wollen muss; und er erzählt sehr unbefangen, wie eine französische Phrase, dass er nemlich die Erziehung mechanisiren wolle, ihm über diesen seinen Zweck aus dem Traume geholfen habe. In Absicht des Inhaltes ist es der erste Schritt der von mir beschriebenen neuen Erziehung dass sie die freie Geistesthätigkeit des Zöglings, sein Denken, in welchem späterhin die Welt seiner Liebe ihm aufgehen soll, anrege und bilde; mit diesem ersten Schritte beschäftigen sich Pestalozzi's Schriften vorzüglich, und auf diesen Gegenstand geht unsere Prüfung seines Grundbegriffes zuallererst. In dieser Rücksicht ist nun desselben Tadel des bisherigen Unterrichtes? dass derselbe den Schüler nur in Nebel und Schatten eingetaucht, und denselben niemals zur wirklichen Wahrheit und Realität habe gelangen lassen gleichbedeutend mit dem unserigen, dass dieser Unterricht nicht vermocht habe in das Leben einzugreifen, noch die Wurzel desselben zu bilden; und Pestalozzi's dagegen vorgeschlagenes Hülfsmittel, den Zögling in die unmittelbare Anschauung einzuführen, ist gleichbedeutend mit dem unserigen, die Geistesthätigkeit desselben zum Entwerfen von Bildern anzuregen, und nur an diesem freien Bilden ihn lernen zu lassen alles, was er lernt: denn nur von dem Freientworfenen ist Anschauung möglich. Dass der Erfinder es wirklich also meint, und keinesweges unter Anschauung jene blindtappende und betastende Wahrnehmung versteht, beweist die nachher angegebene Ausübung. Gleichfalls ganz richtig wird dieser Anregung der Anschauung des Zöglings durch die Erziehung das allgemeine und sehr tief eingreifende Gesetz gegeben, hierin mit dem Anfange und Fortschritte der zu entwickelnden Kräfte des Kindes genau Schritt zu halten.

Dagegen haben die gesammten Misgriffe dieses Pestalozzischen Unterrichtsplans in Ausdrücken und Vorschlägen die Eine gemeinschaftliche Quelle, dass der dürftige und begrenzte Zweck, auf welchen anfangs ausgegangen wurde, äusserst vernachlässigten Kindern aus dem Volke, unter der Voraussetzung, dass das Ganze bliebe, so wie es ist, die nothdürftigste Hilfe zu leisten, von einer Seite, – und von der andern, das zu einem weit höhern Zwecke führende Mittel in Vermengung und Widerstreit mit einander gerathen sind; und man wird vor allem Irrthume gesichert, und erhält einen mit sich vollkommen übereinstimmenden Begriff, wenn man das erstere, und alles, was aus dessen Beachtung gefolgt ist, fallen lässt, und sich bloss an das letztere hält und es folgegemäss durchführt. Ohne Zweifel entstand lediglich aus dem Wunsche, jene Kinder der äussersten Armuth sobald als möglich aus der Schule zum Broterwerb zu entlassen, und dennoch sie mit einem Mittel zu versehen, wodurch sie den abgebrochenen Unterricht nachholen könnten, in Pestalozzi's liebendem Gemüthe die Ueberschätzung des Lesens und Schreibens, die Aufstellung dieser beinahe als Ziel und Gipfel des Volksunterrichts, sein unbefangener Glaube an die Aussage der abgelaufenen Jahrtausende, dass dieses die besten Hülfsmittel der Belehrung seyen; da er ja ausserdem gefunden haben würde, dass gerade dieses Lesen und Schreiben bisher die eigentlichen Werkzeuge gewesen, um die Menschen in Nebel und Schatten einzuhüllen, und sie überklug zu machen. Daher auch rühren ohne Zweifel mehrere andere, mit seinem Grundsatze der unmittelbaren Anschauung im Widerspruche stehende Vorschläge und besonders seine durchaus irrige Ansicht der Sprache, als eines Mittels, unser Geschlecht von dunkler Anschauung zu deutlichen Begriffen zu erheben. Wir unsers Orts haben nicht von Erziehung des Volks im Gegensatze höherer Stände geredet, indem wir Volk in diesem Sinne, niedern und gemeinen Pöbel, gar nicht länger haben wollen, noch er für die deutschen Nationalangelegenheiten ferner ertragen werden kann, sondern wir haben von Nationalerziehung geredet. Soll es jemals zu dieser kommen, so muss der armselige Wunsch, dass die Erziehung doch ja recht bald vollendet seyn, und das Kind wieder hinter die Arbeit gestellt werden möge, gar nicht mehr zu Odem kommen, sondern sogleich an der Schwelle der Berathung über diese Angelegenheit abgelegt werden. Zwar wird meines Erachtens diese Erziehung nicht kostspielig seyn, die Anstalten werden guten Theils sich selbst erhalten können, und es wird der Arbeit kein Eintrag geschehen; und ich werde meine Gedanken hierüber zu seiner Zeit darlegen; aber wenn dies auch nicht so wäre, so muss unbedingt und auf jede Gefahr der Zögling in der Erziehung so lange bleiben, bis sie vollendet ist und vollendet seyn kann; jene halbe Erziehung ist um nichts besser, denn gar keine; sie lässt es eben beim Alten, und wenn man dies will, so erspare man sich lieber auch das Halbe und erkläre gleich von vornherein geradezu, dass man nicht wolle, dass der Menschheit geholfen werde. Unter jener Voraussetzung nun kann in der blossen Nationalerziehung, so lange dieselbe dauert, Lesen und Schreiben zu nichts nützen, wohl aber kann es sehr schädlich werden, indem es von der unmittelbaren Anschauung zum blossen Zeichen, und von der Aufmerksamkeit, die da weiss, dass sie nichts fasse, wenn sie es nicht jetzt und zur Stelle fasst, zur Zerstreutheit, die sich ihres Niederschreibens tröstet, und irgend einmal vom Papiere lernen will, was sie wahrscheinlich nie lernen wird, und überhaupt zu der den Umgang mit Buchstaben so oft begleitenden Träumerei leichtlich verleiten könnte, so wie es dieses auch bisher gethan hat. Erst am völligen Schlusse der Erziehung, und als das letzte Geschenk derselben mit auf den Weg, könnten diese Künste mitgetheilt, und der Zögling geleitet werden durch Zergliederung der Sprache, die er schon längst vollkommen besitzt, die Buchstaben zu erfinden und zu gebrauchen; welches ihm bei der übrigen Bildung, die er schon erlangt hat, ein Spiel seyn würde.

So in der blossen und allgemeinen Nationalerziehung. Etwas anderes ist es mit dem künftigen Gelehrten. Dieser soll einst nicht bloss über das Allgemeingeltende sich aussprechen, wie es ihm ums Herz ist, sondern er soll auch im einsamen Nachdenken die verborgene und ihm selber unbewusste eigenthümliche Tiefe seines Gemüths in das Licht der Sprache erheben, und er muss darum früher an der Schrift das Werkzeug dieses einsamen und dennoch lauten Denkens in die Hände bekommen und bilden lernen; doch wird auch mit ihm weniger zu eilen seyn, als es bisher geschehen. Es wird dies zu seiner Zeit bei der Unterscheidung der blossen Nationalerziehung von der gelehrten deutlicher erhellen.

In Gemässheit dieser Ansicht ist alles, was der Erfinder über Schall und Wort, als Entwicklungsmittel der geistigen Kraft spricht, zu berichtigen und zu beschränken. In das Einzelne zu gehen, erlaubt mir nicht der Plan dieser Reden. Nur noch die folgende tief in das Ganze greifende Bemerkung. Die Grundlage seiner Entwicklung aller Erkenntniss enthält sein Buch für Mütter; indem er unter andern gar sehr auf häusliche Erziehung rechnet. Was zuvorderst diese, die häusliche Erziehung, selbst anbelangt, so wollen wir zwar mit ihm keinesweges über die Hoffnungen, die er sich von den Müttern macht, streiten; was aber unsern höhern Begriff einer Nationalerziehung anbelangt, so sind wir fest überzeugt, dass diese, besonders bei den arbeitenden Ständen, im Hause der Eltern, und überhaupt ohne gänzliche Absonderung der Kinder von ihnen, durchaus weder angefangen, noch fortgesetzt oder vollendet werden kann. Der Druck, die Angst um das tägliche Auskommen, die kleinliche Genauigkeit und Gewinnsucht, die sich hierzu fugt, würde die Kinder nothwendig anstecken, herabziehen und sie verhindern, einen freien Aufflug in die Welt des Gedankens zu nehmen. Dies ist auch eine der Vor aussetzungen, die bei der Ausführung unsers Plans unbedingt ist und auf keine Weise zu erlassen. Was daraus wird, wenn die Menschheit im Ganzen in jedem folgenden Zeitalter sich also wiederholt, wie sie im vorhergehenden war, haben wir nun zur Genüge ersehen; soll eine gänzliche Umbildung mit derselben vorgenommen werden, so muss sie einmal ganz losgerissen werden von sich selber, und ein trennender Einschnitt gemacht werden in ihr hergebrachtes Fortleben. Erst nachdem ein Geschlecht durch die neue Erziehung hindurchgegangen seyn wird, wird sich berathschlagen lassen, welchen Theil von der Nationalerziehung man dem Hause anvertrauen wolle. – Dies nun abgerechnet und das Pestalozzische Buch für die Mütter lediglich als erste Grundlage des Unterrichts betrachtet, ist auch der Inhalt desselben, der Körper des Kindes, ein vollkommener Misgriff. Er geht von dem sehr richtigen Salze aus, der erste Gegenstand der Erkenntniss des Kindes müsse das Kind selbst seyn, aber ist denn der Körper des Kindes das Kind selbst? Wäre, wenn es doch ein menschlicher Körper seyn sollte, der Körper der Mutter ihm nicht weit näher und sichtbarer? und wie kann doch das Kind eine anschauliche Erkenntniss von seinem Körper bekommen, ohne zuerst gelernt zu haben, denselben zu gebrauchen? Jene Kenntniss ist keine Erkenntniss, sondern ein blosses Auswendiglernen von willkürlichen Wortzeichen, das durch die Ueberschätzung des Redens herbeigeführt wird. Die wahre Grundlage des Unterrichts und der Erkenntniss wäre, um es in der Pestalozzischen Sprache zu bezeichnen, ein ABC der Empfindungen. Wie das Kind anfangt Sprachtöne zu vernehmen und selbst nothdürftig zu bilden, müsste es geleitet werden, sich vollkommen deutlich zu machen: ob es hungere oder schläfrig sey, ob es die mit dem oder dem Ausdrucke bezeichnete ihm gegenwärtige Empfindung sehe, oder ob es vielmehr dieselbe höre u.s.f., oder ob es wohl gar etwas bloss hinzudenke; wie die verschiedenen durch besondere Wörter bezeichneten Eindrücke auf denselben Sinn, z.B. die Farben die Schälle der verschiedenen Körper u.s.f. verschieden seyen, und in welchen Abstufungen; alles dies in richtiger und das Empfindungsvermögen selbst regelmässig entwickelnder Folge. Hierdurch erhält das Kind erst ein Ich, das es im freien und besonnenen Begriffe absondert, und mit demselben durchdringt, und gleich bei seinem Erwachen ins Leben wird dem Leben ein geistiges Auge eingesetzt, das von nun an wohl nicht wieder von demselben lassen wird. Hiedurch erhalten auch für die nachfolgenden Uebungen der Anschauung die an sich leeren Formen des Maasses und der Zahl ihren deutlich erkannten innern Gehalt, der bei der Pestalozzischen Verfahrungsweise doch nur durch dunklen Hang und Zwang ihnen hinzugesetzt werden kann. Es kommt in den Pestalozzischen Schriften ein in dieser Rücksicht merkwurdiges Geständniss eines seiner Lehrer vor, der in dieses Verfahren eingeweiht anfing nur noch ausgeleerte geometrische Körper zu erblicken. So müsste es allen Zöglingen dieses Verfahrens ergehen, wenn nicht unvermerkt die geistige Natur dagegen sicherte. Hier auch, bei diesem deutlichen Erfassen dessen, was eigentlich empfunden wird, ist der Ort, wo zwar nicht das Sprachzeichen, aber das Reden selbst und das Bedürfniss sich für andere auszusprechen, den Menschen bildet, und ihn aus der Dunkelheit und Verworrenheit zur Klarheit und Bestimmtheit erhebt. Auf das zuerst zum Bewusstseyn erwachende Kind dringen alle Eindrücke der dasselbe umgebenden Natur zugleich ein, und vermischen sich zu einem dumpfen Chaos, in welchem nichts einzelnes aus dem allgemeinen Gewühl hervorsteht. Wie soll es jemals herauskommen aus dieser Dumpfheit? Es bedarf der Hülfe anderer; es kann diese Hülfe auf keine andere Weise an sich bringen, denn dadurch, dass es sein Bedürfniss bestimmt ausspreche, mit den Unterscheidungen von ähnlichen Bedürfnissen, die schon in der Sprache niedergelegt sind. Es wird genöthigt, nach Anleitung jener Unterscheidungen mit Zurückziehung und Sammlung auf sich zu merken, das, was es wirklich fühlt, zu vergleichen und zu unterscheiden von anderem das es wohl auch kennt, aber gegenwärtig nicht fühlt. Hierdurch sondert sich erst ab in ihm ein besonnenes und freies Ich. Diesen Weg nun, den Noth und Natur mit uns anhebt, soll die Erziehung mit besonnener und freier Kunst fortsetzen.

Im Felde der objectiven Erkenntniss, die auf äussere Gegenstände geht, fugt die Bekanntschaft mit dem Wortzeichen der Deutlichkeit und Bestimmtheit der innern Erkenntniss für den Erkennenden selbst durchaus nichts hinzu, sondern sie erhebt dieselbe bloss in den völlig verschiedenen Kreis der Mittheilbarkeit für andere. Die Klarheit jener Erkenntniss beruht gänzlich auf der Anschauung, und dasjenige, was man nach Belieben in allen seinen Theilen, gerade so wie es wirklich ist, in der Einbildungskraft wiedererzeugen kann, ist vollkommen erkannt, ob man nun dazu ein Wort habe oder nicht. Wir sind sogar der Ueberzeugung, dass jene Vollendung der Anschauung der Bekanntschaft mit dem Wortzeichen vorausgehen müsse, und dass der umgekehrte Weg gerade in jene Schatten- und Nebelwelt, und zu dem frühen Maulbrauchen, welche beide Pestalozzi mit Recht so verhasst sind, führe, ja dass der, der nur je eher je lieber das Wort wissen will, und der seine Erkenntnisse für vermehrt hält, sobald er es weiss, eben in jener Nebelwelt lebt, und bloss um deren Erweiterung bekümmert ist. Des Erfinders Denkgebäude im Ganzen erfassend, glaube ich, dass es gerade dieses ABC der Empfindung war, was er, als erste Grundlage der geistigen Entwicklung und als Inhalt seines Buchs der Mütter, anstrebte, und was ihm dunkel bei allen seinen Aeusserungen über die Sprache vorschwebte, und dass allein der Mangel an philosophischer. Studien ihn verhinderte, in diesem Puncte sich selber vollkommen klar zu werden.

Diese Entwicklung nun des erkennenden Subjects selbst an der Empfindung vorausgesetzt und der Nationalerziehung, die wir beabsichtigen, als allererste Grundlage untergelegt, ist das Pestalozzische ABC der Anschauung, die Lehre von den Zahl- und Maassverhältnissen, die vollkommen zweckmässige und vortreffliche Folge. An diese Anschauung kann ein beliebiger Theil der Sinnenwelt geknüpft werden, sie kann eingeführt werden in das Gebiet der Mathematik, so lange, bis an diesen Vorübungen der Zögling hinlänglich gebildet sey, um zur Entwerfung einer gesellschaftlichen Ordnung der Menschen, und zur Liebe dieser Ordnung, als dem zweiten und wesentlichen Schritte seiner Bildung, angeführt zu werden.

Noch ist gleich beim ersten Theile der Erziehung ein anderer von Pestalozzi gleichfalls in Anregung gebrachter Gegenstand nicht zu übergehen: die Entwicklung der körperlichen Fertigkeit des Zöglings, die mit der geistigen nothwendig Hand in Hand gehend fortschreiten muss. Er fordert ein ABC der Kunst, d.h. des körperlichen Könnens. Seine hervorstechendsten Aeusserungen hierüber sind folgende: «Schlagen, Tragen, Werfen, Stossen, Ziehen, Drehen, Ringen, Schwingen u.s.f. seyen die einfachsten Uebungen der Kraft. Es gebe eine naturgemässe Stufenfolge von den Anfängen in diesen Uebungen bis zu ihrer vollendeten Kunst, d. i. bis zum höchsten Grade des Nerventactes, der Schlag und Stoss, Schwung und Wurf, in hundertfachen Abwechselungen sichere, und Hand und Fuss gewiss mache.» Alles kommt hiebei auf die naturgemässe Stufenfolge an, und es reicht nicht hin, dass man mit blinder Willkür hineingreife und irgend eine Uebung einführe, damit doch von uns gesagt werden könne, wir hätten auch, etwa wie die Griechen, körperliche Erziehung. In dieser Rücksicht ist nun noch alles zu thun, denn Pestalozzi hat kein ABC der Kunst geliefert. Dieses müsste erst geliefert werden, und zwar bedarf es dazu eines Mannes, der, in der Anatomie des menschlichen Körpers und in der wissenschaftlichen Mechanik auf gleiche Weise zu Hause, mit diesen Kenntnissen ein hohes Maass philosophischen Geistes verbände, und der auf diese Weise fähig wäre, in allseitiger Vollendung diejenige Maschine zu finden, zu der der menschliche Körper angelegt ist, und anzugeben, wie diese Maschine allmählig, also, dass jeder Schritt in der einzig möglichen richtigen Folge geschähe, durch jeden alle künftigen vorbereitet und erleichtert, und dabei die Gesundheit und Schönheit des Körpers und die Kraft des Geistes nicht nur nicht gefährdet, sondern sogar gestärkt und erhöht würde, – wie, sage ich, auf diese Weise diese Maschine aus jedem gesunden menschlichen Körper entwickelt werden könne. Die Unerlasslichkeit dieses Bestandtheils für eine Erziehung, die den ganzen Menschen zu bilden verspricht, und die besonders für eine Nation sich bestimmt, welche ihre Selbstständigkeit wiederherstellen und fernerhin erhalten soll, fällt ohne weitere Erinnerung in die Augen.

Was für nähere Bestimmung unsers Begriffs von deutscher Nationalerziehung noch ferner zu sagen ist, behalten wir vor: der nächstkünftigen Rede.