BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Jacob Grimm

1785 - 1863

 

Von der Poesie im Recht

 

1815

 

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§. 9.

[Beweis aus poetischen bestimmungen selbst.

Fortsetzung derselben.]

Auf eine reine, edle leibsgestalt und mannhaftigkeit wird vor allem gesehen und auch hierüber finden wir vorschriften, welche erb- und handelsfähigkeit sehr poetisch bestimmen. ob ein neugebornes kind macht zu leben und zu erben habe, wird nach alemannischem recht am aufschlagen seiner augen erkannt, dasz es den gipfel und die vier wände angeblickt (und beschrien) habe 1). bringt der vater zeugen davon bei, so kann er das gut der verschiedenen kindbetterin ansprechen, wenn auch das kind darauf verstorben wäre 2). das nordische gesetz fordert: dasz das kind ‚warder född medh nagel och näsa medh hud och medh har, drager anda och titt fram‘ 3). der Sachsenspiegel verordnet (I, 52.): ‚alle fahrende hab gibt der man on laub der erben in allen stedten und lässet und leihet gut, allein dasz er sich vermüge, dasz er begürt mit einem schwert und mit einem schilt aufs rosz komen müg von einem stein oder stok einer daumellen hoh on mannshülf also das man im das rosz und den stegreif halte.‘ ‚ein bürger, die weil er so stark ist, dasz er on hülf zu wegen und strasen gehen und so lang stehen mag, bis er in gehegtem geding die gab getan habe. im siechbette aber, was er über das bettbret hinweg reichen mag.‘ ‚ein bauer solang er einen umbgang umbpflügen mag eins morgens lang.‘ ‚ein frau solang sie zur kirchen gen mag, als sie davon gesessen ist zwanzig ruthen weit.‘ schon kälter und gewöhnlicher reden die worte des Nürnberger stadtgesetzes: ‚ez ist auch gesetzet ze ainem ewigen rehten, daz ain ieclich burger vollen gewalt hat, daz er mac tun und lazen mit sinem varnden gut und mit siner beraitschaft swaz er wil die weile er mac reiten und gen 4) daz in sein wirtein und seine kint daran nit geirren mögen.‘ ‚ist aber daz ain burger so cranc ist, daz er ungehabt und ungefüret drei schritte niht gen mag, so mag er ane seiner wirtein wort‘ u. s. w.

Die meisten rechtsgegenstände selbst, wo sich der geist unserer alten gesetze in seiner deutlichsten eigenthümlichkeit zeigt wie in der lehre vom beweis, von den gerichten und ihrer form, von den mannichfaltigen anerkennungsabgaben, zinsen und ihrer progression, würden in ihrer ausführlichkeit, ohne welche ihr alterthum und ihr zusammenhang nicht entwickelt werden kann, hier zu viel raum kosten. das gilt vor allem auch von den strafen über die ich noch ein und das andere bemerken will.

Bei der knochenbusze musten drei splitter aus dem bein gesprengt sein, der knochen aber so grosz, dasz man ihn 24 fusz weit davon klingen hörte, wenn er in ein hohles kupferbecken geworfen ward 5). dies erinnert nothwendig an die dem könig zu entrichtende geldabgabe; nach dem Friesenrecht sollte der einnehmer den klang des schillings durch zwölf fächer hören 6). genauer beschreibt es noch Saxo 7): am ende eines langen hofes sasz der einnehmer, am andern hieng ein schild. jeder Friese muste nun seinen pfenning steuer einzeln in den schild werfen; klang das geld hell, so zählte der schilling; klang er dunkel, so zählte er nicht, wurde aber auch behalten. – in den liedern wird das gold gleichfalls auf schilden getragen, von schilden ausgetheilt und die Edda nennt es das gellende, klingende.

Wenn in der poesie von riesen erzählt wird, die den wanderern hand und fusz abhauen lassen, so betrifft das stets die rechte hand und den linken fusz. oben (s. 59. [der erstausgabe]) haben wir bei dem osna­brückischen hammerwurf zu einer ganz anderen veranlassung beide glieder in demselben vorrang erblickt. jene strafe wird auch in unsern gesetzen namhaft gemacht ; den grund klärt die sprache nur zur hälfte auf, in der jederzeit das rechte zugleich das höchste und geehrteste ist 8). man könnte freilich weiter schlieszen, dasz die hände den füszen vorgezogen und also nicht die linke hand und der rechte fusz genommen werden müsten, dagegen einer gleichen austheilung wegen der rechte fusz nicht neben der rechten hand vorkommen dürfe. genaue beachtung des lebendigen und epischen gebrauchs beider glieder löst aber jeden zweifel: mit der rechten hand führt der ritter sein schwert, mit dem linken fusz schwingt er sich zu rosz. folgende zeile eines spanischen volksliedes führte mich darauf: cortenle el pie del estribo, la mano del gavilan 9). ‚sie möchten ihm abschneiden den steigbügelfusz und die falkenhand.‘ hier werden die rechte hand und der linke fusz so bezeichnet, weil ohne diesen der ritter nicht in den stegreif treten kann, ohne jene nicht den falken halten 10). die jagd ist die friedliche arbeit, das schwert die kriegerische des edelmanns.

Ich wähle noch ein auf die hegung des gerichts selbst bezügliches beispiel aus, um daran die durchgreifende verbindung des alten rechts mit der natur zu weisen. tagsscheue zwerge, die in der erde wohnen, fragen und verantworten sich nur zur nachtszeit; lassen sie den ersten sonnenstrahl aufkommen, so sind sie ohne macht und überwältigt, wie die Edda lehrt. die menschen hingegen wollen, dasz unter freiem himmel, über der erde und bei scheinender sonne ihr recht geschlichtet werde 11). das gericht heiszt also im wort selbst der tag, tag und frist wird gegeben, getagt und vertagt (ajourner); aus tagedingen ist teidingen, theidigen geworden, vertheidigen mithin aus vertagedingen. nach sonnenuntergang ist das gericht geschlossen, wie auch die zwölf tafeln setzen: sol occasus suprema tempestas esto. überhaupt aber galt kein rechtliches geschäft bei nacht, der Sachsenspiegel verordnet (II, 4.) ‚man sol gelten zu des haus dem man schuldig ist bei sonnenschein‘ und III, 19. ‚wem man iht gelten sol, der musz es warten, wenn (bis) die sonne untergehet in seines selbs hause.‘ den zweikämpfern wurde die sonne gleich getheilt, und der gegner muste vor sonnenuntergang besiegt sein. Dreieicher forstweisthum: ‚auch theilten die hubner, dasz niemand sol faren in die wilde hube vor dasz die sonn ufkomet, und nach der zeit als die sonn in gold gehet 12); wen die nacht antrifft, der sol do bleiben, bricht er das etc.‘ Greg, turonens. VII, 23: ‚ad placitum venit et per triduum usque ad occasum solis observavit.‘ im salischen bedeutet solem collocare ein gericht ansetzen, und in den frühern urkunden und formeln findet man häufig solsatire 13) und das substantiv solsadia in dem sinn von: den gegner bis zu sonnenuntergang erwarten. man kann also die vorhin erläuterte gesetzliche formeln bei verleihungen auf eine ewige zeit ‚solang die sonne scheint‘ füglich noch weiter so erklären: ‚solange recht und gesetz auf dieser erde bestehen werden.‘ das recht ist die wahrheit und wahrmachung, welche dem tag an licht und klarheit gleichet.

 

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1) etabliss. de st. Louis livre I. chap. XI. (enfant) qui ait assez vecu, pour crier et se faire entendre. 

2) lex Alem. tit. 91. [92. u. Schwabensp. cap. CCCXIX.] schön ist auch der übliche ausdruck ‚dies gut (oder lehn) steht auf zwei augen, vier augen,‘ wie: etwas unter vier augen sagen. 

3) dasz es mit nagel und nase, haut und haar zur welt komme, athem ziehe und an der brust sauge. 

4) Siebenkees a. a. o. II, 212. 213. in einer spätern hs. lauten die unterstrichenen worte gar: ‚die weil er gereden mag u. bei seinen sinnen ist.‘ [lex Bajuwar. tit. II, c. 10. vom alten herzog: dum adhuc potest judicio contendere, in exercitu ambulare, populum judicare, equum viriliter ascendere, arma sua velociter batalare. – vgl. Möser p. ph. IV, no. 29.] 

5) lex Alem. 59. lex Ripuar. 68. (wo 12 fusz). Wiarda zum sal. ges. s. 339. 

6) asegabuch 46. g. 54. e. das hiesz klipskeld. die beste ableitung des worts schilling selbst ist von klang, schall. (geld von gellen, hallen, heller.) 

7) Saxo gramm. lib.VIII. in fine. vergl. Dippoldts leben Carls des groszen s. 182. anderwärts wird so viel land erworben, als man einen von einem berg herunter weit blasen hört. 

8) die glossatoren stritten, welche hand man in einzelnen straffällen dem verbrecher abhauen müsse, die in qua plus oder die in qua minus potest (linke).

9) s. meine ausgabe der silva de romances viejos pag. 4. 

10) Tristan 6931. u[nd] den linken fuz gestiez

wol vaste in den stegreif.

6935. er sluch im

daz swert u[nd] ouch di rehte hand.  

11) die nacht ist keines menschen freund. 

12) d. h. niederscheinet, goldroth strahlet, weil beim untergang der schein immer röther wird (isländisch: sidscinandi). 

13) vergl. Eccard Fr. orient. II, 917. Wiarda zum s. g. 196. Marculfs formeln ed. Bign. cap. 37. Eichhorns rechtsgeschichte I, 187. gothländ. gesetz c. 31. ‚domar dymms ai lengar oc aithir lyptins ai lengar en solsetr.‘