BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Ernst Haeckel

1834 - 1919

 

Der Monismus als Band zwischen

Religion und Wissenschaft

 

Vortrag

 

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Hochgeehrte Festversammlung!

 

Eine Gesellschaft, welche die Erforschung der Natur und die Erkenntniß der Wahrheit zum Zweck hat, kann ihre Gedenktage nicht würdiger feiern, als durch Erörterung ihrer höchsten allgemeinen Aufgaben. Wir müssen es daher mit Freuden begrüssen, dass der Herr Festredner bei einem so feierlichen Anlasse, wie das 75jährige Jubiläum Ihrer Naturforschenden Gesellschaft ist, zum Thema seines Vortrages einen Gegenstand von höchster allgemeiner Bedeutung gewählt hat. Leider wird es bei ähnlichen Anlässen, und selbst in den allgemeinen Sitzungen der grossen „Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte“, immer mehr üblich, das Thema der Festrede einem engen Specialgebiete von beschränktem Interesse zu entnehmen. Wenn diese zunehmende Gewohnheit auch durch die steigende Arbeitstheilung und die divergente Specialisirung in allen Arbeitsgebieten entschuldigt werden kann, so sollte man doch gerade bei so feierlichen Gelegen­heiten die Theilnahme der Festversammlung für grössere Gegenstände von allgemeinem Interesse in Anspruch nehmen.

Ein solches Thema von grösster Bedeutung sind die „natur­wissenschaftlichen Glaubenssätze“, über welche soeben Herr Professor Schlesinger seine eigenartigen Ideen entwickelt hat 1). Ich freue mich, in vielen wichtigen Punkten mit ihm zu harmoniren, während ich in anderen Beziehungen einige Bedenken äussern und abweichende Ansichten zur Erwägung stellen möchte. Zunächst stimme ich vollkommen mit ihm überein in der einheitlichen Auffassung der Gesammtnatur, welche wir mit einem Worte als Monismus bezeichnen. Unzweideutig drücken wir damit unsere Ueberzeugung aus, dass „ein Geist in allen Dingen“ lebt, und dass die ganze erkennbare Welt nach einem gemeinsamen Grundgesetze besteht und sich entwickelt. Insbesondere betonen wir dabei die grundsätzliche Einheit der anorganischen und organischen Natur, von denen ja die letztere erst verhältnißmässig spät aus der ersteren sich entwickelt hat 2). Ebenso wenig als eine scharfe Grenze zwischen diesen beiden Hauptgebieten der Natur zu ziehen ist, ebenso wenig können wir auch einen absoluten Unterschied zwischen Pflanzenreich und Thierreich anerkennen, ebenso auch nicht zwischen Thierwelt und Menschenwelt Dementsprechend betrachten wir auch die ganze menschliche Wissenschaft als ein einheitliches Erkenntnißgebäude; wir verwerfen die übliche Unter­scheidung zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft. Die letztere ist nur ein Theil der ersteren (– oder auch umgekehrt –); beide sind Eins! Unsere monistische Weltanschauung gehört demnach zu jener Gruppe der philosophischen Systeme, die man von anderen Standpunkten auch als mechanistische oder pantheistische bezeichnet hat. Wie verschieden sich auch dieselbe in den philosophischen Systemen eines Empedokles und Lucretius, eines Spinoza und Giordano Bruno, eines Lamarck und David Strauss ausgedrückt hat, immer bleibt ihr gemeinsamer Grundgedanke die kosmische Einheit, der untrennbare Zusammenhang von Kraft und Stoff, von Geist und Materie – oder, wie man auch sagen kann, von Gott und Welt. Kein Geringerer, als unser grösster Dichter und Denker, Goethe, hat derselben im „Faust“ und in seinen wundervollen Dichtungen „Gott und Welt“ einen poetischen Ausdruck gegeben.

Zur richtigen Würdigung dieses „Monismus“ lassen Sie uns zu­nächst von der Höhe philosophisch-historischer Betrachtung einen umfassenden Rückblick auf die geschichtliche Entwickelung der menschlichen Naturerkenntniß werfen. Eine lange Reihe verschiedenartiger Vorstellungskreise und Bildungsstufen des Menschen zieht da an unserem geistigen Auge vorüber. Auf der niedersten Stufe die rohe – wir dürfen sagen: thierische – Stufe des prähistorischen Urmenschen – jenes „Affen-Menschen“, der während der Tertiärzeit sich nur in geringem Grade über seine unmittelbaren pithecoiden Vorfahren, die Menschen-Affen, erhoben hat. Dann folgt eine Reihe von Bildungsstufen niederster Art, von deren Einfachheit uns theilweise die rohesten, noch heute existirenden „Naturvölker“ eine Vorstellung geben können. An diese „Wilden“ ,schliessen sich weiterhin die niederen Culturvölker an, und von diesen führt wieder eine lange Reihe von Zwischenstufen allmählich zu den höheren Culturvölkern hinüber. Nur diese letzteren – von den zwölf Menschenrassen nur die mediterrane und die mongolische – haben das gemacht, was wir gewöhnlich unpassend „Weltgeschichte“, richtiger „Völkergeschichte“ nennen. Der Zeitraum, welcher diese letztere (und damit zugleich die Versuche wissenschaftlichen Erkennens) umfasst, beläuft sich noch kaum auf sechstausend Jahre – eine verschwindend kurze Zeitspanne in der langen Kette von Jahrmillionen der organischen Erdgeschichte.

Bei den ältesten Urmenschen oder Affenmenschen, und ebenso auch noch bei den aus ihnen zunächst hervorgegangenen „Naturvölkern“ können wir noch nicht von einem „Naturerkennen“ sprechen. Der rohe ursprüngliche Naturmensch ist auf dieser tiefsten Stufe noch nicht jenes rastlose „Ursachenthier“ von Lichtenberg; sein Causalitätsbedürfniß erhebt sich noch nicht über dasjenige der Affen und Hunde; seine Neugierde hat sich noch nicht zu reiner Wissbegierde gesteigert. Wollen wir bei den pithecoiden Urmenschen von „Vernunft“ sprechen, so kann das nur in demselben Sinne wie bei jenen höchst entwickelten Säugethieren geschehen, und das Gleiche gilt auch von den ersten Anfängen der Religion 3).

Man pflegt zwar noch jetzt nicht selten den Thieren überhaupt Vernunft und Religion ganz abzusprechen. Indessen überzeugt uns eine unbefangene Vergleichung vom Gegentheil. Die langsame und allmähliche Vervollkommnung, welche das Culturleben im Laufe von Jahrtausenden in der Menschenseele bewirkt hat, ist auch an der Seele unserer höchst stehenden Hausthiere (vor allen der Hunde und Pferde) nicht spurlos vorübergegangen. Im steten Zusammenleben mit dem Menschen und unter dem Einflüsse seiner Erziehung haben sich auch in ihrem Gehirn allmählich höhere erbliche Ideen-Associationen und ein vollkommneres Urtheil entwickelt. Die Dressur ist zum Instinct geworden, ein unwiderlegliches Beispiel von der „Vererbung erworbener Eigenschaften“ 4).

Die vergleichende Psychologie lehrt uns eine lange, lange Reihe von historischen Ausbildungsstufen der Seele im Thierreiche kennen. Aber nur bei den höchst entwickelten Wirbelthieren, den Vögeln und Säugethieren, erkennen wir die ersten Anfänge der Vernunft, die ersten Spuren religiösen und ethischen Verhaltens. Bei ihnen treffen wir nicht allein die socialen Tugenden aller höheren, gesellig lebenden Thiere (Nächstenliebe, Freundschaft, Treue, Aufopferung u. s. w.), sondern auch Bewusstsein, Pflichtgefühl und Gewissen, und dem beherrschenden Menschen gegenüber denselben Gehorsam, dieselbe Unterwerfung, dasselbe Schutzbedürfniß, welches die Naturvölker ihren „Göttern“ entgegenbringen. Den letzteren wie den ersteren fehlt aber noch jene höhere Stufe des Bewusstseins und der Vernunft, welche die umgebende Welt zu erkennen strebt und welche den ersten Anfang der Philosophie, der „Weltweisheit“, bezeichnet. Diese ist erst eine viel spätere Errungenschaft der Culturvölker; sie hat sich erst langsam und allmählich aus niederen religiösen Vorstellungskreisen herangebildet.

Auf jeder Stufe der primitiven Religion und ebenso auch der ursprünglichen Philosophie ist der Mensch noch weit von monistischen Vorstellungen entfernt. Indem er die Ursachen der Erscheinungen aufsucht und daran seinen Verstand übt, ist er überall zunächst geneigt, persönliche Wesen, und zwar menschenähnliche Götter als die bewirkenden Factoren anzuerkennen. Im Donner und Blitz, im Sturm und Erdbeben, im Kreislauf der Sonne und des Mondes, in jeder auffallenden meteorologischen und geologischen Veränderung erblickt er die unmittelbare Wirksamkeit eines persönlichen Gottes oder Geistes, und dieser wird gewöhnlich mehr oder minder anthropomorph oder menschenähnlich gedacht. Es werden gute und böse Götter unterschieden, freundliche und feindliche, erhaltende und zerstörende, Engel und Teufel.

In noch höherem Maasse gilt das, wenn der wachsende Erkenntnißtrieb nunmehr auch die verwickelteren Erscheinungen des organischen Lebens in Betracht zieht: Werden und Vergehen der Pflanzen und Thiere, Leben und Tod des Menschen. Die kunstvolle und zweckmässige Zusammensetzung der organisirten Lebewesen fordert unmittelbar zum Vergleich mit den planmässig construirten Kunstgebilden des Menschen auf, und so verwandelt sich denn die unbestimmte Vorstellung des persönlichen Gottes in diejenige eines planmässig bauenden Schöpfers. Bekanntlich hat sich diese Auffassung der organischen Schöpfung, als Kunstprodukt eines anthropomorphen Gottes – eines „göttlichen Maschinenbauers“ – noch bis zur Mitte unseres Jahrhunderts sehr allgemein erhalten, trotzdem schon vor mehr als zweitausend Jahren hervorragende Denker ihre Unhaltbarkeit klarlegten. Der letzte namhafte Naturforscher, der sie vertrat und ausführte, war Louis Agassiz (gestorben 1873). In seinem merkwürdigen „Essay on Classification“ (1857) hat er jene Theosophie in aller Consequenz entwickelt und dadurch selbst ad absurdum geführt 5).

Alle diese älteren religiösen und teleologischen Vorstellungskreise und ebenso die daraus hervorgegangenen philosophischen Systeme (z. B. von Plato, von den Kirchenvätern) sind antimonistisch; sie stehen in principiellem Gegensatze zu unserer monistischen Naturphilosophie. Die meisten von jenen älteren Systemen sind dualistisch, indem sie Gott und Welt, Schöpfer und Schöpfung, Geist und Materie als zwei völlig getrennte Substanzen betrachten. Dieser ausgesprochene „Dualismus“ findet sich auch in den meisten reineren Kirchenreligionen, besonders in jenen drei wichtigsten Formen des Monotheismus, welche die drei berühmtesten Propheten des mediterranen Orients, Moses, Christus und Mohammed, gegründet haben. Aber schon in vielen unreinen Abarten dieser drei mediterranen Hauptreligionen, und noch mehr in den niederen Religionsformen des Heidenthums, tritt an die Stelle jenes Dualismus ein philosophischer Pluralismus; dem guten und welterhaltenden Gott (Osiris, Ormudz, Wischnu) wird ein böser und zerstörender Gott gegenübergestellt (Typhon, Ahriman, Schiwa). Zahlreiche Halbgötter oder Heilige, gute und böse, Söhne und Töchter der Götter, gesellen sich zu jenen beiden Hauptgöttern und theilen sich mit ihnen in die Verwaltung und Regierung des Kosmos.

In allen diesen dualistischen und pluralistischen Systemen der Weltanschauung ist als wichtigster Grundgedanke der Anthropo­morphismus zu erkennen, die „Vermenschlichung Gottes“; der Mensch selbst, als ein gottähnliches (oder direct von Gott abstammendes) Wesen, nimmt eine besondere Stellung in der Welt ein und ist durch eine tiefe Kluft von der übrigen Natur getrennt. Meistens verknüpft sich damit die anthropocentrische Idee, die Ueberzeugung, dass der Mensch der Mittelpunkt des Weltalls, der letzte und höchste Endzweck der Schöpfung, und die übrige Natur nur dazu erschaffen sei, dem Menschen zu dienen. Im Mittelalter war mit dieser letzteren Vorstellung zugleich die geocentrische Idee verknüpft, wonach die Erde als Wohnort des Menschen den festen Mittelpunkt des Weltgebäudes darstelle, Sonne, Mond und Sterne sich um die Erde drehen. Wie Copernicus 1543 diesem auf die Bibel gestützten geocentrischen Glaubenssatze, so hat Darwin 1859 dem damit eng verknüpften anthropocentrischen Dogma den Todesstoss gegeben 6).

Eine allgemeine historisch-kritische Vergleichung sämmtlicher religiösen und philosophischen Systeme ergiebt als Hauptresultat, dass jeder grosse Fortschritt der tieferen Erkenntniß eine Ablösung vom überlieferten Dualismus (oder Pluralismus) bedeutet, eine Annäherung an den Monismus. Immer deutlicher drängt sich der grübelnden Vernunft die Notwendigkeit auf, Gott nicht als ein äusserliches Wesen der materiellen Welt gegenüberzustellen, sondern ihn als „göttliche Kraft“ oder „bewegenden Geist“ ins Innere des Kosmos selbst hineinzulegen. Immer klarer wird es uns, dass alle die wundervollen Erscheinungen der uns umgebenden Natur, der organischen ebenso wie der anorganischen, nur verschiedene Producte einer und derselben Urkraft, verschiedene Combinationen eines und desselben Urstoffes sind. Immer unwiderstehlicher offenbart sich uns die Erkenntniß, dass auch unsere menschliche Seele nur ein winziger Theil dieser allumfassenden „Weltseele“ ist, gleichwie unser menschlicher Körper nur ein individuelles Theilchen der grossen organisierten Körperwelt bildet.

Für die exacte, theilweise selbst mathematische Begründung dieser einheitlichen Naturauffassung sind zunächst die grossen allgemeinen Erkenntniße der theoretischen Physik und Chemie massgebend geworden. Indem Robert Mayer und Helmholtz das Gesetz von der „Erhaltung der Kraft“ begründeten, zeigten sie, dass die Energie des Weltalls eine constante unveränderliche Grösse darstellt; wenn irgend eine Kraft zu verschwinden oder neu aufzutreten scheint, so beruht das nur auf der Umsetzung einer Kraft in die andere. Ebenso beweist uns Lavoisier's Gesetz von der „Erhaltung des Stoffes“, dass die Materie des Kosmos eine constante unveränderliche Grösse bildet; wenn irgend ein Körper zu verschwinden scheint (z. B. beim Verbrennen) oder neu zu entstehen (z. B. bei der Krystallisation), so beruht das ebenfalls nur auf einer Verwandlung der Form oder der Zusammensetzung. Beide grosse Gesetze, das physikalische Grundgesetz von der Erhaltung der Kraft, und das chemische Grundgesetz von der Erhaltung des Stoffes, können wir zusammenfassen unter einen philosophischen Begriff, als Gesetz von der Erhaltung der Substanz; denn nach unserer monistischen Auffassung sind Kraft und Stoff untrennbar, nur verschiedene unveräusserliche Erscheinungen eines einzigen Weltwesens, der Substanz 7).

Als ein wesentlicher Grundbestandteil dieses reinen Monismus kann in gewissem Sinne die Annahme von „beseelten Atomen“ gelten – eine uralte Vorstellung, der schon vor mehr als 2000 Jahren Empedokles in seiner Lehre vom „Hassen und Lieben der Elemente“ Ausdruck gegeben hat. Unsere heutige Physik und Chemie hat ja die von Demokritos zuerst aufgestellte atomistische Hypothese ganz allgemein angenommen, indem sie alle Körper als aus Atomen zusammengesetzt betrachtet und alle Veränderungen auf Bewegungen solcher kleinster discreter Theilchen zurückführt. Alle diese Veränderungen, ebenso in der organischen wie in der anorganischen Natur, erscheinen uns aber nur dann wirklich verständlich, wenn wir uns die Atome nicht als todte Massetheilchen vorstellen, sondern als lebendige, mit der Kraft der Anziehung und Abstossung ausgestattete elementare Theilchen. Lust und Unlust, Lieben und Hassen der Atome sind nur andere Ausdrücke für diese Kraft der Attraction und Repulsion. Ganz richtig bezeichnet die Physik ihre kinetische Energie als „lebendige Kraft“, im Gegensatze zur potentiellen Energie, der „Spannkraft“.

Wenn nun auch einerseits der Monismus uns heute als eine unentbehrliche Grundvorstellung der Naturlehre gilt, und wenn auch der Monismus alle Erscheinungen – ohne Ausnahme – auf Mechanik der Atome zurückzuführen bestrebt sein muss, so müssen wir andererseits doch zugeben, dass wir heute noch ganz ausser Stande sind, uns irgend eine befriedigende Vorstellung über das eigentliche Wesen der Atome und ihre Beziehung zu dem allgemeinen, den Raum erfüllenden „Weltäther“ zu bilden. Es ist der Chemie schon lange gelungen, alle die verschiedenen Naturkörper auf Verbindungen einer verhältnißmässig geringen Zahl von Elementen zurückzuführen; auch haben die Fortschritte der Chemie in der neuesten Zeit es höchst wahr­scheinlich gemacht, dass diese Elemente oder die bis jetzt unzerlegbaren Urstoffe selbst wieder nur verschiedene Verbindungsformen einer wechselnden Zahl von Atomen eines einzigen Urelementes sind. Allein damit ist uns über die eigentliche Natur dieser „Uratome“ und ihrer elementaren Kräfte noch kein näherer Aufschluss gegeben.

Eine Reihe der scharfsinnigsten Denker hat sich bisher vergeblich bemüht, diesem Grundprobleme der Naturphilosophie näher zu treten und die Natur der Atome, sowie ihr Verhältniß zum raumerfüllenden Weltäther näher zu bestimmen. Indessen befestigt sich immer mehr die Vorstellung, dass kein leerer Raum existirt, und dass überall die „Uratome“ der wägbaren Materie, oder der schweren „Masse“, durch den homogenen, im Weltraum verbreiteten „Weltäther“ getrennt werden. Dieser sehr leichte und dünne (wenn auch nicht unwägbare) Weltäther bewirkt durch seine Schwingungen alle Erscheinungen des Lichts und der Wärme, der Elektricität und des Magnetismus. Man kann sich denselben entweder als continuirliche, den Raum zwischen den Massenatomen erfüllende Substanz vorstellen, oder als ebenfalls aus discreten Theilchen zusammengesetzt; dann würde man diesen Aetheratomen eine inhärente Repulsivkraft zuschreiben können, im Gegensatze zu der immanenten Attractionskraft der schweren Massenatome; auf die Anziehung der letzteren und die Abstossung der ersteren würde die ganze Mechanik des Weltlebens zurückzuführen sein. Man könnte aber auch das „Wirken des allgemeinen Raumes“ im Sinne von Professor Schlesinger mit den „Schwingungen des Weltäthers“ zusammenstellen.

Einen elementaren Fortschritt des Naturerkennens von größter Tragweite hat jedenfalls die theoretische Physik in neuester Zeit dadurch gethan, dass sie der Kenntniß dieses Weltäthers näher gerückt ist und die Frage von seinem Wesen, seiner Structur, seiner Bewegung in den Vordergrund der monistischen Naturphilosophie gedrängt hat. Noch vor wenigen Jahren galt der kosmische „Aether“ den meisten Naturforschern als ein „imponderables“ Wesen, von dem man eigentlich Nichts wisse und das bloss als dürftige Hilfshypothese vorläufig zuzulassen sei. Das ist ganz anders geworden, seitdem Heinrich Hertz 1888 uns über das Wesen der elektrischen Kräfte aufgeklärt hat; durch seine schönen Experimente hat er die Ahnung von Faraday bestätigt, dass Licht und Wärme, Elektricität und Magnetismus nächst verwandte Erscheinungen einer einzigen Kraftgruppe sind und auf verschiedenen Schwingungen des Aethers beruhen. Das Licht selbst – welcher Art es auch sei – ist immer und überall eine elektrische Erscheinung. Der Aether selbst ist nicht mehr hypothetisch; seine Existenz kann in jedem Augenblick durch elektrische und optische Versuche bewiesen werden. Wir kennen die Länge der Lichtwellen und der elektrischen Wellen. Ja, einige Physiker glauben sogar die Dichtigkeit des Weltäthers annähernd bestimmen zu können. Wenn wir mittelst der Luftpumpe die Masse der atmosphärischen Luft (bis auf einen geringen Rückstand) aus einer Glasglocke entfernen, so bleibt die Lichtmenge innerhalb derselben unverändert; wir sehen den schwingenden Aether! 9)

Diese Fortschritte in der Erkenntniß des Aethers bedeuten einen ungeheuren Gewinn der monistischen Philosophie. Denn damit sind die irrthümlichen Vorstellungen vom leeren Raum und von der Fernwirkung der Körper ausgeschieden; der ganze unendliche Welt­raum, soweit ihn nicht die Massenatome (die „ponderable Materie“) einnehmen, ist vom Aether erfüllt. Unsere Vorstellung von Raum und Zeit wird ganz anders, als Kant noch vor hundert Jahren sie lehrte; das „kritische“ System des grossen Königsberger Philosophen offenbart in dieser Beziehung, wie in der teleologischen Beurtheilung der organischen Welt und in seiner Metaphysik, recht erhebliche dogmatische Schwächen 8). Ja, selbst eine vernünftige Form der Religion kann die Aethertheorie als „Glaubenssatz“ verwerthen, indem sie den beweglichen Weltäther als „schaffende Gottheit“ der trägen und schweren Masse (als „Schöpfungsmaterial“) gegenüberstellt 11).

Schon eröffnen sich aber unserem freudig bewegten Forschersinne von diesem glücklich erklommenen Hochgipfel monistischer Erkenntniß neue überraschende Perspectiven, welche uns der Lösung des einen grossen Welträthsels noch viel näherzubringen versprechen. Wie verhält sich dieser leichte bewegliche Weltäther zu der schweren und trägen „Masse“, zu jener ponderablen Materie, die wir chemisch erforschen, und die wir uns nur aus Atomen zusammengesetzt denken können? Unsere heutige analytische Chemie hat noch vor ungefähr siebenzig „unzerlegbaren“ Elementen oder sogenannten „Grund­stoffen“ Halt machen müssen. Allein die gegenseitigen Beziehungen dieser Elemente, ihre gruppenweise Verwandtschaft, ihr spektro­skopisches Verhalten u. s. w. machen es höchst wahrscheinlich, dass sie alle nur historische Entwickelungs-Producte sind, entstanden durch verschiedenartige Lagerung und Verbindung einer wechselnden Zahl von Uratomen.

Diesen Uratomen oder Massenatomen, den letzten discreten Theilchen der trägen „ponderablen Materie“, können wir mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit eine Anzahl von ewigen und unveräus­serlichen Grundeigenschaften zuschreiben; sie sind vermuthlich überall im Weltraum von gleicher Grösse und Beschaffenheit. Obgleich sie eine bestimmte endliche Grösse besitzen, sind sie vermöge ihrer Natur selbst nicht theilbar. Ihre Gestalt ist wohl kugelig; sie sind träge (im Sinne der Physik), unveränderlich, unelastisch, für den Aether undurchgänglich. Ausser dem Beharrungsvermögen ist die wichtigste Eigenschaft dieser Uratome ihre chemische Affinität, ihre Neigung, sich an einander zu legen und in gesetzmässiger Form zu kleinen Gruppen zu verbinden. Diese festen (unter den jetzigen physikalischen Existenz-Bedingungen der Erde beständigen) Gruppen von Uratomen sind die Elementatome, die bekannten „unzerlegbaren“ Atome der Chemie. Die qualitativen, für unsere jetzige empirische Kenntniß unveräusserlichen Unterschiede unserer chemischen Elemente sind demnach lediglich bedingt durch die verschiedene Zahl und Lagerung der gleichartigen, sie verbindenden „Uratome“. So ist z. B. das Atom des Kohlenstoffs (des eigentlichen „Schöpfers“ der organischen Welt!) höchstwahrscheinlich ein Tetraeder, zusammengesetzt aus vier Uratomen.

Nachdem Mendelejeff und Lothab Meyer 1869 das „periodische Gesetz“ der chemischen Elemente entdeckt und darauf ein „natürliches System“ derselben gegründet hatten, wurde dieser bedeutungsvolle Fortschritt der theoretischen Chemie neuerdings von Gustav Wendt im Sinne der Entwickelungstheorie verwerthet. Er versuchte alle die verschiedenen Elemente als Entwickelungszustände oder historisch entstandene Combinationen von sieben Grundelementen hinzustellen, und diese letzteren wiederum als historische Producte eines einzigen Urelementes. Diesen hypothetischen „Urstoff“ hatte schon Crookes in seiner „Genesis der Elemente“ als Urmaterie oder Protyl bezeichnet 10). Der empirische Nachweis dieses Urstoffes, welcher aller ponderablen Materie zu Grunde liegt, ist vielleicht nur eine Frage der Zeit. Seine Entdeckung würde vermuthlich die Hoffnung der Alchymisten erfüllen, Gold und Silber aus anderen Elementen künstlich darzustellen. Dann aber erhebt sich die neue große Frage: „Wie verhält sich diese Urmasse zum Weltäther? Stehen beide Ursubstanzen in einem wesentlichen und ewigen Gegensatze? Oder hat der bewegliche Aether vielleicht selbst erst die schwere Masse erzeugt?“ 11)

Auch zur Beantwortung dieser grossen Grundfrage sind bereits verschiedene physikalische Hypothesen aufgestellt worden. Indessen gleich den verschiedenen atomistischen Hypothesen der Chemie sind sie zur Zeit nicht einleuchtend zu begründen, und dasselbe scheint mir auch von der sinnreichen Hypothese zu gelten, welche uns vorher der Herr Festredner über das Wirken des Weltraumes entwickelt hat. Wie derselbe richtig sagt, handelt es sich bei allen diesen naturphi­slosophischen Versuchen zur Zeit noch um „naturwissenschaftliche Glaubenssätze“, über deren Begründung man je nach subjectivem Urtheil und Bildungsgrade sehr verschiedener Ansicht sein kann. Ich glaube, dass die Lösung dieser Grundfragen zur Zeit noch jenseits der Grenzen des Naturerkennens liegt, und dass wir uns vor derselben noch auf lange Zeit hinaus werden bescheiden müssen mit „Ignoramus“ – wenn auch nicht mit „Ignorabimus!“

Etwas ganz Anderes aber ist es, wenn wir von diesen atomistischen Elementar-Hypothesen absehen und unseren Blick auf die historischen Verhältniße der Weltentwickelung lenken, wie sie durch die grossartigeh Fortschritte der Naturerkenntniß in den letzten drei Decennien uns erschlossen worden ist. Hier hat sich uns innerhalb der Grenzen unseres Naturerkennens ein ungeheures neues Gebiet eröffnet; ein Gebiet, auf welchem eine Reihe der wichtigsten, früher für unlösbar gehaltenen Probleme in überraschendster Weise gelöst worden ist 12).

Allen anderen Eroberungen des Menschengeistes voran steht hier unsere moderne Entwickelungslehre! Schon vor hundert Jahren von Goethe geahnt, aber erst im Beginn unseres Jahrhunderts von Lamarck in bestimmter Form ausgesprochen, ist dieselbe vor 40 Jahren durch Charles Darwin endgiltig begründet worden; seine Selectionstheorie hat die Lücke ausgefüllt, welche Lamarck in seiner Lehre von der Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung offen gelassen hatte. Wir wissen nun bestimmt, dass die organische Welt auf unserer Erde sich ebenso continuirlich „nach ewigen ehernen Gesetzen“ entwickelt hat, wie es Lyell schon 1830 für den unorganischen Erdkörper selbst nachgewiesen hatte; wir wissen, dass die zahllosen verschiedenen Thier- und Pflanzen-Arten, welche im Laufe von Jahrmillionen unsern Planeten bevölkert haben, alle nur Zweige eines einzigen Stammbaumes sind; wir wissen, dass das Menschengeschlecht selbst nur einen der jüngsten, höchsten und vollkommensten Sprossen am Stammbaum der Wirbelthiere bildet.

Eine lückenlose Reihe von gesetzmässig verlaufenden natürlichen Entwickelungs-Vorgängen führt jetzt den denkenden Menschengeist durch Aeonen von einem chaotischen Urzustande des Kosmos zu seiner heutigen „Weltordnung“. Da haben wir zuerst nichts weiter im unendlichen Weltraum als den beweglichen elastischen Aether und unzählige gleichartige discrete Theilchen staubförmig in demselben vertheilt, die Uratome; vielleicht sind diese letzteren selbst ursprünglich „Verdichtungspunkte“ der schwingenden „Substanz“, deren Rest den Aether bildet. Indem die Uratome oder Massenatome in bestimmten Zahlen gruppenweise zusammentreten, entstehen unsere Element­atome. Entsprechend der Kant-Laplace'schen Nebularhypothese sondern sich aus jenem schwingenden „Urnebel“ die rotirenden Weltkörper. Ein einziger unter vielen tausend Weltkörpern ist unsere Sonne, sammt den Planeten, die durch centrifuge Abschleuderung aus ihr entstanden sind. Ein einziger Planet unseres Sonnensystems ist unsere winzige Erde; ihr ganzes individuelles Leben ist Product des Sonnenlichtes. Nachdem der glühende Erdball bis auf einen gewissen Grad abgekühlt ist, schlägt sich auf der erhärteten Kruste seiner Oberfläche tropfbar flüssiges Wasser nieder, die erste Vorbedingung organischen Lebens. Kohlenstoff-Atome beginnen ihre organogene Thätigkeit und vereinigen sich mit den anderen Elementen zu quellungsfähigen Plasmaverbindungen. Ein kleines Plasmakörnchen überschreitet die Grenze der Cohäsion und des individuellen Wachsthums; es zerfällt in zwei gleiche Hälften. Mit diesem ersten Monere beginnt das organische Leben und seine eigenthümlichste Function, die Vererbung. In dem homogenen Monerenplasma sondert sich ein festerer centraler Kern von einer weicheren äusseren Masse; durch diese Differenzirung von Nucleus und Protoplasma entsteht die erste organische Zelle. Lange Zeit werden nur solche Protisten oder einzellige Urwesen unseren Planeten allein bevölkert haben. Aus Coenobien oder geselligen Verbänden derselben entstanden erst später die niedersten Histonen, vielzellige Pflanzen und Thiere.

An der sicheren Hand der drei grossen empirischen „Schöpfungs­urkunden“, der Palaeontologie, der vergleichenden Anatomie und Ontogenie, führt uns nunmehr die Stammesgeschichte von den ältesten Metazoen, den einfachsten vielzelligen Thieren, Schritt für Schritt bis zum Menschen hinauf 13). An der untersten Wurzel des gemeinsamen Stammbaumes der Metazoen stehen die Gastraeaden und Spongien; ihr ganzer Körper besteht im einfachsten Falle nur aus einem rundlichen Magensäckchen, dessen dünne Wand zwei Zellenschichten bilden, die beiden primären Keimblätter. Ein entsprechender Keimzustand, die zweischichtige Gastrula, findet sich vorübergehend in der Keimesgeschichte aller übrigen Metazoen, von den niedersten Nesselthieren und Würmern bis zum Menschen hinauf. Aus dem gemeinsamen Stamm der Helminthen oder der niederen Würmer entwickeln sich als selbständige Hauptäste die vier getrennten Stämme der Weichthiere, Sternthiere, Gliederthiere und Wirbelthiere. Nur diese letzteren stimmen in allen wesentlichen Beziehungen des Körperbaues und der Entwickelung mit dem Menschen überein. Eine lange Reihe von niederen wasserbewohnenden Wirbelthieren (Lanzettthieren, Lampre­ten, Fischen) geht den lungenathmenden Amphibien voraus; diese erscheinen erst in der Steinkohlenzeit. Auf die Amphibien folgen in der permischen Periode die ersten Amnioten, die ältesten Reptilien; aus ihnen entwickeln sich später in der Triaszeit die Vögel einerseits, die Säugethiere andererseits.

Dass der Mensch seinem ganzen Körperbau nach ein echtes Säugethier ist, weiss man, so lange überhaupt die natürliche Einheit dieser höchsten Thierclasse begriffen wurde. Die einfachste Vergleichung musste den unbefangenen Beobachter von der nahen Formverwandtschaft des Menschen mit dem Affen, dem ähnlichsten von allen Säugethieren, tiberzeugen. Die tiefer eindringende vergleichende Anatomie wies nach, dass alle Unterschiede im Körperbau des Menschen und der Anthropoiden (Gorilla, Schimpanse, Orang) unbedeutender sind, als die entsprechenden Unterschiede im Körperbau dieser „Menschenaffen“ und der niederen Affen. Die phylogenetische Deutung dieses Huxley'schen Satzes liegt auf der Hand. Die grosse Frage vom Ursprung des Menschengeschlechts – oder von der „Stellung des Menschen in der Natur“ – die „Frage aller Fragen“, war nun wissenschaftlich beantwortet: „Der Mensch stammt ab von einer Reihe affenartiger Säugethiere.“ Die Anthropogenie enthüllt die lange Kette von Vertebraten-Ahnen, welche der späten Entstehung dieses höchstentwickelten Sprosses vorangegangen sind 13).

Die unermessliche Bedeutung des Lichtes, welches diese Aufschlüsse der Abstammungslehre auf das Gesammtgebiet der menschlichen Naturerkenntniß werfen, liegt klar vor Aller Augen; sie werden jedes Jahr mehr ihren umgestaltenden Einfluss auf alle Wissensgebiete äussern, je mehr sich die Ueberzeugung von ihrer unerschütterlichen Wahrheit Bahn bricht. Nur Unkundige oder beschränkte Geister können heute noch an ihrer Wahrheit zweifeln. Wenn ja noch hie und da ein älterer Naturforscher ihre Begründung bestreitet oder nach mangelnden Beweisen fragt (– wie dies beinahe alljährlich auf den Anthropologen-Versammlungen von Seiten eines berühmten deutschen Pathologen geschieht –), so beweist er damit nur, dass ihm die erstaunlichen Fortschritte der neueren Biologie und vor Allem der Anthropogenie fremd geblieben sind. Die ganze moderne Literatur der Biologie, unsere ganze heutige Zoologie und Botanik, Morphologie und Physiologie, Anthropologie und Psychologie sind von der Descendenztheorie durchdrungen und befruchtet 14).

Wie die natürliche Entwicklungslehre auf monistischer Basis das ganze Gebiet der körperlichen Naturerscheinungen erhellt und aufgeklärt hat, so auch das Gebiet des Geisteslebens, welches von jenem nicht zu trennen ist. Wie unser menschlicher Körper sich langsam und stufenweise aus einer langen Reihe von Wirbelthierahnen herangebildet hat, so gilt dasselbe auch von unserer Seele; als Function unseres Gehirns hat sie sich stufenweise in Wechselwirkung mit diesem ihrem Organ entwickelt. Was wir kurzweg „menschliche Seele“ nennen, ist ja nur die Summe unseres Empfindens, Wollens und Denkens, die Summe von physiologischen Functionen, deren Elementarorgane die mikroskopischen Ganglienzellen unseres Gehirns bilden. Wie der bewunderungswürdige Bau dieses letzteren, unseres menschlichen Seelenorgans sich im Laufe von Jahrmillionen allmählich aus den Gehirnformen höherer und niederer Wirbelthiere emporgebildet hat, zeigt uns die vergleichende Anatomie und Ontogenie; wie Hand in Hand damit auch die Seele selbst – als Function des Gehirns – sich entwickelt hat, das lehrt uns die vergleichende Psychologie. Die letztere zeigt uns auch, wie eine niedere Form der Seelenthätigkeit schon bei den niedersten Thieren vorhanden ist, bei den einzelligen Urthieren, Infusorien und Rhizopoden. Jeder Naturforscher, der gleich mir lange Jahre hindurch die Lebensthätigkeit dieser einzelligen Protisten beobachtet hat, ist positiv überzeugt, dass auch sie eine Seele besitzen; auch diese „Zellseele“ besteht aus einer Summe von Empfindungen, Vorstellungen und Willensthätigkeiten; das Empfinden, Denken und Wollen unserer menschlichen Seele ist nur stufenweise davon verschieden. Ebenso ist auch eine „erbliche Zellseele“ (als „potentielle Energie“) schon in der Eizelle vorhanden, aus der sich der Mensch gleich jedem anderen Thiere entwickelt 15).

Die erste Aufgabe jeder wirklich wissenschafdichen Psychologie wird daher nicht, wie bisher, die müssige Speculation über ein selbständiges immaterielles Seelenwesen und dessen räthselhaften zeitweiligen Zusammenhang mit dem thierischen Körper sein, sondern vielmehr die vergleichende Untersuchung der Seelen-Organe und die experimentelle Prüfung ihrer psychischen Functionen. Denn die wissenschaftliche Psychologie ist ein Theil der Physiologie, der Lehre von den Functionen oder Lebensthätigkeiten der Organismen. Gleich der neueren Physiologie und Pathologie muss auch die Psychologie und Psychiatrie der Zukunft sich cellular gestalten, und in erster Linie die seelischen Functionen der Zellen untersuchen. Welche wichtigen Aufschlüsse uns eine solche Cellular-Psychologie schon auf der niedersten Stufe des organischen Lebens, bei den einzelligen Protisten (namentlich Rhizopoden und Infusorien) liefert, hat neuerdings Max Verwohn in seinen schönen „psychophysiologischen Protisten-Studien“ gezeigt.

Dieselben Hauptgruppen der Seelenthätigkeit, die wir schon im einzelligen Organismus antreffen – die Erscheinungen der Reizbarkeit, Empfindung und Bewegung – , lassen sich ebenso auch bei allen vielzelligen Organismen als Functionen der ihren Körper zusammensetzenden Zellen nachweisen. Bei den niedersten Metazoen, den wirbellosen Thieren aus den Classen der Spongien und Polypen, sind noch ebenso wie bei den Pflanzen keine besonderen Seelenorgane entwickelt, und alle Zellen des Körpers sind am „Seelenleben“ mehr oder minder betheiligt. Erst bei den höheren Thieren erscheint das letztere lokalisirt und an besondere Organe gebunden. In Folge von Arbeitstheilung haben sich hier verschiedene Sinnesorgane als Werkzeuge specifischer Empfindung entwickelt, Muskeln als Organe der Bewegung und des Willens, Nervencentren oder Ganglien als vermittelnde und regulirende Centralorgane. Bei den höchst entwickelten Thierstämmen treten diese letzteren immer mehr als selbständige Seelenorgane in den Vordergrund. Entsprechend dem ausserordentlich verwickelten Bau ihres Central-Nervensystems, des Gehirns mit seinem wunderbaren Geflecht von Ganglienzellen und Nervenfasern, erreicht hier auch deren vielseitige Thätigkeit eine bewunderungswürdige Höhenstufe.

In diesen höchst entwickelten Gruppen des Thierreichs allein können wir mit Bestimmtheit auch jene vollkommensten Leistungen des Central-Nervensystems nachweisen, welche wir als Bewusstsein bezeichnen. Bekanntlich wird gerade diese edelste Gehirnfunction auch heute noch oft als eine völlig räthselhafte Erscheinung, als der erste Beweis für die immaterielle Existenz einer „unsterblichen Seele“ hingestellt. Dabei beruft man sich gewöhlich auf die bekannte „Ignorabimus“-Rede des Berliner Physiologen Du Bois-Reymond über die Grenzen des Naturerkennens (1872). Es war eine eigentümliche Ironie des Schicksals, dass der berühmte Rhetor der Berliner Akademie der Wissenschaften in dieser vielbesprochenen Rede vor 26 Jahren das Bewusstsein als ein ganz unbegreifliches Wunder und eine unübersteigliche Schranke der Erkenntniß hinstellte, während gleichzeitig der grösste Theologe unseres Jahrhunderts, David Friedrich Strauss, das Gegentheil nachwies. Der scharfsinnige Verfasser des „alten und neuen Glaubens“ hatte schon damals klar erkannt, dass alle Seelenthätigkeiten des Menschen, also auch sein Bewusstsein, als Functionen des Central-Nervensystems aus einer Quelle fliessen und vom monistischen Standpunkt aus derselben Beurtheilung unterliegen; dem „exacten“ Berliner Physiologen blieb diese Erkenntniß verschlossen, und mit schwer begreiflicher Kurzsichtigkeit stellte er diese specielle neurologische Frage neben das eine grosse „Welträthsel“, neben die fundamentale Substanzfrage, die generelle Frage von dem „Zusammenhang von Materie und Kraft“  16).

Wie ich schon vor langer Zeit nachgewiesen habe, sind diese beiden grossen Fragen nicht zwei verschiedene „Welträthsel“. Das neurologische Problem des Bewusstseins ist nur ein besonderer Fall von dem allumfassenden kosmologischen Problem, der Substanzfrage. „Wenn wir das Wesen von Materie und Kraft begriffen hätten, so würden wir auch verstehen, wie die ihnen zu Grunde liegende Substanz unter bestimmten Bedingungen empfinden, begehren und denken könne.“ Das Bewusstsein ist in gleicher Weise, wie die Empfindung und der Wille der höheren Thiere, eine mechanische Arbeit der Ganglienzellen, und als solche auf chemische und physikalische Vorgänge im Plasma derselben zurückzuführen. Ausserdem gelangen wir durch Anwendung der genetischen und vergleichenden Methode zu der Ueberzeugung, dass das Bewusstsein – und somit auch die Vernunft – keine dem Menschen ausschliesslich eigenthümliche Gehirnfunction ist; vielmehr findet sich dieselbe auch bei vielen höheren Thieren, nicht nur Wirbelthieren, sondern auch Gliederthieren. Nur stufenweise, durch einen höheren Grad der Ausbildung, ist das Bewusstsein des Menschen von demjenigen der vollkommensten Thiere verschieden, und dasselbe gilt von allen anderen menschlichen Seelenthätigkeiten.

Durch diese und andere Ergebniße der vergleichenden Physiologie wird unsere ganze Psychologie auf eine neue, feste, monistische Basis gestellt. Er wird dadurch jene ältere mystische Vorstellung von der Seele widerlegt, wie sie sich bei den Naturvölkern, aber auch in den Systemen dualistischer Philosophen noch heute findet. Hiernach wäre die „Seele“ des Menschen (– und der höheren Thiere? –) ein besonderes Wesen, welches den Körper nur während seines individuellen Lebens bewohnt und regiert, im Tode aber verlässt. Die sehr verbreitete „Claviertheorie“ vergleicht die „unsterbliche Seele“ mit einem Clavierspieler, welcher auf dem Instrumente des sterblichen Körpers ein interessantes Stück, das individuelle Leben abspielt und beim Tode sich in's Jenseits zurückzieht. Zwar wird diese „unsterbliche Seele“ gewöhnlich für ein immaterielles Wesen ausgegeben; in der That aber wird sie doch eigentlich ganz materiell vorgestellt, nur als ein feineres, unsichtbares Wesen, luftförmig oder gasförmig, oder ähnlich der beweglichen, äusserst leichten und dünnen Substanz des Aethers, wie sie die heutige Physik annimmt. Dasselbe gilt ja auch von den meisten Vorstellungen, die sich die rohen Naturvölker und die ungebildeten Klassen der Culturvölker seit Jahrtausenden von spukenden „Geistern“ und „Göttern“ gebildet haben. Gründliches Nachdenken ergibt, dass es sich auch hier – wie bei dem Schwindel der modernen Spiritisten – nicht um wirkliche immaterielle Wesen handelt, sondern um gasförmige, unsichtbare Körper. Ueberhaupt sind wir ja unfähig, uns wirklich immaterielle Wesen irgend fassbar vorzustellen. Wie schon Goethe klar erkannte, kann „die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiren und wirksam sein“.

Was die Unsterblichkeit betrifft, so unterliegt dieser wichtige Begriff bekanntlich sehr verschiedenen Deutungen und Anwendungen. Man wirft unserem Monismus häufig vor, dass er die Unsterblichkeit überhaupt leugne; indessen ist das nicht richtig. Vielmehr halten wir dieselbe, in streng wissenschaftlichem Sinne, für einen unentbehrlichen Grundbegriff unserer monistischen Naturphilosophie. Unsterblichkeit in wissenschaftlichem Sinne ist Erhaltung der Substanz, also dasselbe, was die Physik als Erhaltung der Kraft, die Chemie als Erhaltung des Stoffes definirt. Der ganze Kosmos ist unsterblich. Ebensowenig als irgend ein anderes Stofftheilchen oder Krafttheilchen jemals aus der Welt verschwindet, ebensowenig ist das von den Atomen unseres Gehirns und von den Kräften unseres Geistes denkbar. Bei unserem Tode verschwindet nur die individuelle Form, in welcher jene Nervensubstanz gestaltet war, und die persönliche „Seele“, welche deren Arbeit darstellte. Die complicirten chemischen Verbindungen jener Nervenmasse gehen in andere Verbindungen durch Zersetzung über, und die von ihr producirten lebendigen Kräfte werden in andere Bewegungsformen umgesetzt.

 

„Der grosse Caesar, todt und Lehm geworden,

Verstopft ein Loch jetzt vor dem rauhen Norden;

Der Staub, dem einst die ganze Welt gebebt,

Vor Wind und Wetter eine Wand verklebt!“

 

Ganz unhaltbar ist dagegen die Vorstellung einer persönlichen Unsterblichkeit. Wenn dieselbe auch heute noch in weiten Kreisen festgehalten wird, so erklärt sich das aus dem physikalischen Gesetze der Trägheit; denn das Beharrungsvermögen übt seine Macht ebenso im Gebiete der Ganglien-Zellen des Gehirns, wie in allen anderen Naturkörpern. Althergebrachte, durch viele Generationen vererbte Vorstellungen werden vom menschlichen Gehirn mit der grössten Zähigkeit festgehalten, besonders dann, wenn sie schon in frühester Jugend dem kindlichen Verstande als unerschütterliche Dogmen eingepflanzt werden. Solche „erbliche Glaubenssätze“ wurzeln um so fester, je mehr sie sich von der vernünftigen Naturerkenntniß entfernen und in das geheimnisvolle Kleid mythologischer Dichtung verstecken. Bei dem Dogma von der persönlichen Unsterblichkeit kommt dazu noch das vermeintliche Interesse, welches der Mensch an seiner individuellen Fortdauer nach dem Tode zu besitzen glaubt, und der vergebliche Anspruch, dass ihm in einem seligen „Jenseits“ Ersatz für die getäuschten Hoffnungen und die vielen Leiden des Erdenlebens gewährt werde.

Irrthümlich wird oft von den zahlreichen Anhängern der persönlichen Unsterblichkeit behauptet, dass dieses Dogma eine angeborene und allen vernünftigen Menschen gemeinsame Vorstellung sei, und dass alle vollkommneren Religionen dieselbe lehren. Das ist unrichtig. Weder der Buddhismus, noch die mosaische Religion enthielten ursprünglich den Glaubenssatz der persönlichen Unsterblichkeit, und ebensowenig glaubten daran die meisten Gebildeten im classischen Alterthum, insbesondere während der höchsten Bltithe Griechenlands. Die monistische Philosophie jener Zeit, welche schon 500 Jahre vor Christus zu so bewunderungswürdiger Höhe der Speculation sich erhob, kannte jenes Dogma nicht. Erst durch Plato und Christus wurde dasselbe weiter ausgebildet und erreichte dann im Mittelalter eine so allgemeine Verbreitung, dass nur selten ein kühner Denker ihm offen zu widersprechen wagte. Die Ansicht, dass die Ueberzeugung von der persönlichen Unsterblichkeit besonders veredelnd auf die sittliche Natur des Menschen einwirke, wird durch die gräuelvolle Sittengeschichte des Mittelalters nicht bestätigt, ebensowenig durch die Psychologie der Naturvölker 17).

Wenn auch heute noch eine veraltete Schule der rein speculativen Psychologie jenes unvernünftige Dogma aufrecht erhält, so liegt darin ein bedauerlicher Anachronismus. Vor sechzig Jahren liess sich das noch entschuldigen; denn damals kannte man weder die feinere Structur des Gehirns genau, noch die physiologische Function seiner einzelnen Theile; die Elementarorgane derselben, die mikroskopischen Ganglien­zellen, waren fast unbekannt, ebenso die Zellseele der Protisten; von der ontogenetischen Entwicklung hatte man nur sehr unvollkommene, von der phylogenetischen noch gar keine Vorstellungen.

Das alles hat sich im Laufe des letzten halben Jahrhunderts gänzlich geändert. Die neuere Physiologie hat schon grossentheils die Localisation der einzelnen Geistesthätigkeiten, ihre Abhängigkeit von bestimmten Gehirntheilen nachgewiesen; die Psychiatrie hat gezeigt, dass jene psychischen Processe gestört oder vernichtet werden, wenn diese Gehirntheile erkranken oder entarten. Die Histologie der Ganglienzellen hat uns deren höchst verwickelte Structur und Lagerung enthüllt. Von entscheidender Bedeutung für diese hochwichtige Frage sind aber die Entdeckungen der letzten Decennien über die feineren Vorgänge bei der Befruchtung geworden. Wir wissen jetzt, dass deren Wesen ausschließlich in der Copulation oder Verschmelzung von zwei mikroskopischen Zellen besteht, der weiblichen Eizelle und der männlichen Spermazelle. Das Moment, in welchem die Kerne dieser beiden Geschlechtszellen verschmelzen, bezeichnet haarscharf den Augenblick, in welchem das neue menschliche Individuum entsteht. Die neugebildete „Stammzelle“ (oder „befruchtete Eizelle“) enthält bereits potentiell – in der Anlage – alle die körperlichen und geistigen Eigenschaften, welche das Kind von beiden Eltern erbt. Offenbar widerspricht es der reinen Vernunft, ein „ewiges Leben ohne Ende“ für eine individuelle Erscheinung anzunehmen, deren zeitlichen Anfang wir durch directe sinnliche Beobachtung haarscharf bestimmen können. Demnach können wir bei vernünftiger Beurtheilung des menschlichen Geisteslebens unsere individuelle Seele vom Gehirn ebensowenig getrennt denken, als die willkürliche Bewegung unseres Arms von der Contraction seiner Muskeln, oder den Kreislauf unseres Blutes von der Thätigkeit des Herzens.

Gegen diese streng physiologische Auffassung wird auch heute noch häufig der Vorwurf des „Materialismus“ erhoben, ebenso wie gegen unsere ganze monistische Ansicht des Verhältnißes von Kraft und Stoff, von Geist und Materie. Ich habe schon früher wiederholt dargethan, dass mit diesem vieldeutigen Schlagworte gar Nichts gesagt ist; man könnte an seine Stelle ebensogut das scheinbare Gegentheil „Spiritualismus“ setzen. Jeder kritische Denker, der die Geschichte der Philosophie kennt, weiss, dass solche Schlagworte in den wechselnden Systemen die verschiedenste Bedeutung annehmen. Bei dem Materialismus kommt noch dazu die beständige Verwechslung der theoretischen und praktischen Bedeutung; beide sind gänzlich verschieden. Klar und unzweideutig ist dagegen unser Begriff des Monismus oder der „Einheits-Philosophie“; für ihn ist ein „immaterieller lebendiger Geist“ ebenso undenkbar, als eine „todte geistlose Materie“; in jedem Atom ist beides untrennbar verbunden. Die entgegengesetzte Vorstellung des Dualismus (– oder in anderen antimonistischen Systemen sogar des Pluralismus –) fasst Geist und Materie, Kraft und Stoff, als zwei wesentlich verschiedene Substanzen auf; dass aber jede von Beiden für sich allein existieren oder uns wahrnehmbar sein könne, dafür gibt es in der That nicht einen einzigen empirischen Beweis.

Indem ich hier kurz auf diese weitreichenden psychologischen Consequenzen der monistischen Entwicklungslehre hindeute, berühre ich zugleich ein hochwichtiges Gebiet, auf welches auch unser Festredner in seinem Vortrage mehrfach angespielt hat, das Gebiet der Religion und des damit verknüpften „Glaubens an Gott“. Gleich ihm halte ich die Bildung klarer, philosophischer Vorstellungen auf diesem fundamentalen Glaubensgebiete für höchst wichtig, und ich möchte daher die hohe Festversammlung um die Erlaubniß bitten, bei dieser feierlichen Gelegenheit ganz kurz ein offenes Glaubensbekenntniß ablegen zu dürfen. Diese „monistische Confession“ dürfte um so mehr Anspruch auf unbefangene Würdigung erheben, als sie nach meiner festen Ueberzeugung von mindestens neun Zehntheilen aller jetzt lebenden Naturforscher getheilt wird; ich glaube sogar, dass dieses monistische Bekenntniß von allen Naturforschern getheilt werden muss, welche folgende vier Bedingungen erfüllen: 1. Genügende Kenntniße im Gesammtgebiete der Naturwissenschaft, vor allem in der modernen Entwicklungslehre. 2. Genügende Schärfe und Klarheit der Urteilskraft, um die logischen Schlüsse aus jenen empirischen Kenntnißen mittelst Induction und Deduction zu ziehen. 3. Genügenden moralischen Muth, um die so gewonnenen monistischen Erkenntniße gegenüber den Angriffen der feindlichen dualistischen und pluralistischen Systeme zu behaupten, und 4. Genügende Geisteskraft, um sich auf Grund eigenen gesunden Denkens von den herrschenden religiösen Vorurtheilen zu befreien, und besonders von jenen vernunftwidrigen Dogmen, die uns seit frühester Jugend als unerschütterliche „religiöse Offenbarungen“ fest eingepflanzt werden.

Wenn wir von diesem freien Denkerstandpunkte aus die zahlreichen Religionen der verschiedenen Völker vergleichend betrachten, so werden wir zunächst genöthigt werden, alle diejenigen Vorstellungen als unhaltbar auszuscheiden, welche mit den klar erkannten und durch die kritische Vernunft festgestellten Lehrsätzen der empirischen Naturerkenntniß in unlösbarem Widerspruche stehen. Wir können hier also ohne Weiteres von allen mythologischen Erzählungen absehen, von allen „Wundern“ und von allen sogenannten „Offenbarungen“, welche auf übernatürlichem Wege zu uns gelangt sein sollen. Alle diese mystischen Lehren sind unvernünftig, weil sie durch keine einzige wirkliche Erfahrung bestätigt werden, vielmehr mit den uns bekannten, durch vernünftige Naturerkenntniß festgestellten Thatsachen unverein­bar sind.

Das gilt ebenso von den Legenden der christlichen und mosaischen, wie von denjenigen der mohammedanischen und indischen Sagenkreise. Wenn wir also hier sämmtliche mystischen Dogmen und übersinnlichen Offenbarungen bei Seite lassen, so bleibt als werthvoller und unschätzbarer Kern der wahren Religion die geläuterte, auf vernünftige Anthropologie gegründete Sittenlehre übrig 19).

Unter den zahlreichen verschiedenen Religionsformen, welche sich aus den rohesten prähistorischen Anfängen seit mehr als zehntausend Jahren entwickelt haben, stehen unzweifelhaft diejenigen beiden Religionen obenan, welche auch heute noch die grösste Verbreitung unter den Culturvölkern besitzen, die ältere buddhistische und die jüngere christliche. Beide haben sehr viele gemeinsame Züge, sowohl in ihrer Mythologie, als in ihrer Ethik; ein bedeutender Theil des Christenthums ist sogar direct aus dem indischen Buddhismus, wie ein anderer Theil aus den mosaischen und platonischen Glaubenslehren herübergenommen. Indessen erscheint uns auf unserem heutigen Culturstandpunkte mit vollem Rechte die christliche Sittenlehre weit vollkommener und reiner, als diejenige aller anderen Religionen. Freilich müssen wir gleich hinzufügen, dass gerade die wichtigsten und edelsten Grundsätze der christlichen Ethik – die Nächstenliebe, die Pflichttreue, die Wahrheitsliebe, der Gehorsam gegen die Gesetze – keineswegs dem christlichen Glauben als solchem eigenthümlich, sondern viel älteren Ursprungs sind. Die vergleichende Völkerpsychologie weist nach, dass diese ethischen Fundamentalsätze bei vielen älteren Culturvölkern schon Jahrtausende vor Christus mehr oder weniger anerkannt und geübt waren.

Das oberste Sittengesetz der vernünftigen Religion bleibt die Menschenliebe, und zwar in dem naturgemässen Gleichgewicht zwischen Egoismus und Altruismus, zwischen Eigenliebe und Nächstenliebe. „Was Du willst, dass Dir die Leute thun sollen, das thue Du ihnen auch!“ Dieses natürliche höchste Gebot wurde gelehrt und befolgt schon Jahrtausende, bevor Christus sprach: „Du sollst Deinen Nächsten lieben als Dich selbst!“ In der menschlichen Familie galt dieser Grundsatz von jeher als selbstverständlich; denn er war von unseren thierischen Vorfahren bereits als „ethischer Instinct“ durch Vererbung übertragen. Er bestand in gleicher Weise und in weiterer Bedeutung auch schon bei den primitivsten Gemeinden und Horden der ältesten Naturvölker, ebenso wie bei den Heerden der Affen und anderer socialer Säugethiere. Die „Nächstenliebe“, d. h. die gegenseitige Unterstützung, Pflege, Beschützung u. s. w., erscheint bei diesen gesellig lebenden Thieren bereits als sociale Pflicht; denn ohne sie ist der dauernde Bestand jener Gesellschaften unmöglich. Wenn nun auch später beim Menschen jene moralischen Fundamente der Gesellschaft sich viel höher entwickelten, so liegt doch ihre älteste prähistorische Quelle, wie Darwin gezeigt hat, in den socialen Instincten der Thiere. Sowohl bei den höheren Wirbelthieren (Hunden, Pferden, Elephanten u. s. w.), als auch bei den höheren Gliederthieren (Ameisen, Bienen, Termiten u. s. w.) bedingt das Zusammenleben in geordneten Gesellschaften die Entwicklung socialer Beziehungen und Pflichten; diese sind auch für den Menschen der wichtigste Hebel des intellectuellen und moralischen Fortschrittes geworden.

Unzweifelhaft verdankt die heutige menschliche Cultur einen grossen Theil ihrer Vollkommenheit der Ausbreitung und Veredlung der christlichen Sittenlehre, trotzdem deren hoher Werth durch Verknüpfung mit unhaltbaren Mythen und sogenannten „Offen­barungen“ oft in bedauerlichster Weise beeinträchtigt worden ist. Wie wenig die letzteren zur Ausbildung der ersteren beitragen, zeigt die bekannte historische Thatsache, dass gerade die Orthodoxie und die auf sie gegründete Hierarchie (– Allen voran der Papismus 18) –) am wenigsten bestrebt ist, die Gebote jener Sittenlehre zu erfüllen; je lauter sie die Theorie der letzteren predigt, desto weniger erfüllt sie selbst ihre Gebote in der Praxis.

Ausserdem ist zu bedenken, dass ein anderer, höchst beträchtlicher Theil unserer modernen Cultur und Ethik ganz unabhängig vom Christenthum sich entwickelt hat, insbesondere durch ununterbrochene Pflege der hochentwickelten Geistesschätze des classischen Alterthums. Das eindringliche Studium der griechischen und römischen Classiker hat jedenfalls viel mehr dazu beigetragen, als dasjenige der christlichen Kirchenväter. Dazu kommt nun in unserem Jahrhundert, in dem mit Recht schon jetzt so genannten „Jahrhundert der Naturwissenschaften“, der ungeheure Fortschritt der höchsten Geistesbildung, welchen wir der geläuterten Naturerkenntniß und der auf sie gegründeten monistischen Philosophie verdanken. Dass diese auch auf unsere Sittenlehre fördernd und veredelnd einwirken muss, ist unzweifelhaft und bereits durch viele treffliche Schriften (von Spencer, Carneri, Vetter u. A.) im Laufe der letzten drei Decennien nachgewiesen 19).

Gegen diese monistische Ethik, die sich auf die vernünftige Naturerkenntniß gründet, ist der Vorwurf erhoben worden, dass sie die bestehende Cultur untergraben und insbesondere die culturfeindlichen Bestrebungen der modernen Socialdemokratie fördern werde. Wir halten diesen Vorwurf für völlig ungerechtfertigt. Die Anwendung philosophischer Grundsätze auf praktische Lebens-Verhältnisse, und insbesondere auf sociale und politische Fragen, kann in der verschiedensten Weise geschehen. Sogenannter politischer „Freisinn“ hat mit dem „Freidenken“ unserer monistischen Naturreligion nichts zu thun. Ausserdem bin ich überzeugt, dass die vernünftige Sittenlehre der letzteren mit dem guten und wirklich werthvollen Theile der christlichen Ethik in keinem Widerspruch steht, und mit ihr vereinigt auch fernerhin dem wahren Fortschritte der Menschheit dienen wird.

Anders freilich verhält es sich mit der christlichen Mythologie und mit der besonderen Form des auf sie gegründeten Gottesglaubens. Insofern dieser letztere die Vorstellung eines sogenannten „persönlichen Gottes“ einschliesst, ist er durch die neueren Fortschritte der monistischen Naturerkenntniß ganz unhaltbar geworden. Uebrigens ist ja schon durch hervorragende Vertreter der monistischen Philosophie seit mehr als zweitausend Jahren der Nachweis geführt worden, dass durch die Vorstellung eines „persönlichen Gottes, Weltschöpfers und Weltregierers“ nicht das Mindeste für eine wirklich vernünftige Weltanschauung gewonnen ist. Denn wenn auch die Frage nach der „Weltschöpfung“ in dem hergebrachten trivialen Sinne durch die wunderbare Wirksamkeit eines zweckmässig bauenden ausser­weltlichen Gottes beantwortet wird, so erhebt sich gleich dahinter die neue Frage: „Wo kommt dieser persönliche Gott her? Und was hat er vor der Weltschöpfung gethan? Wo nahm er dazu das Material her?“ u. s. w. Daher wird im Gebiete der wirklich wissenschaftlichen Philosophie die veraltete Vorstellung eines anthropomorphen „persönlichen Gottes“ noch vor Ablauf dieses Jahrhunderts ihre Geltung verlieren; die entsprechende Vorstellung eines „persönlichen Teufels“ (– noch im vorigen Jahrhundert der ersteren gegenübergestellt und sehr allgemein geglaubt –) ist von unseren heutigen Gebildeten bereits endgiltig aufgegeben.

Beiläufig bemerkt, verträgt sich übrigens der Amphitheismus, der an Gott und Teufel glaubt, viel besser mit einer vernünftigen Welterklärung, als der reine Monotheismus. Am reinsten ausgebildet ist vielleicht der Amphitheismus in der Zendreligion der Perser, welche Zoroaster (oder Zarathustra, der „Goldstern“) schon 2000 Jahre vor Christus begründete. Hier steht überall Ormudz, der Gott des Lichtes und des Guten, im Kampfe gegen Ahriman, den Gott der Finsterniß und des Bösen. In ähnlicher Weise wird der beständige Kampf eines guten und bösen Princips auch in der Mythologie vieler anderen amphitheistischen Religionen personificirt; im alten Aegypten kämpfte der gute Osiris mit dem bösen Typhon, im alten Indien steht Wischnu, der Erhalter, Schiwa, dem Zerstörer, gegenüber u. s. w.

Will man wirklich die Vorstellung des „persönlichen Gottes“ als Grundlage der Weltanschauung festhalten, so erklärt dieser Amphitheismus die Leiden und Mängel dieser Welt sehr einfach als Wirkung des bösen Princips oder des „Teufels“ Der reine Monotheismus hingegen, wie er der ursprünglichen Religion von Moses und ebenso von Mohammed zu Grunde liegt, vermag eine vernünftige Erklärung dafür nicht zu geben. Wenn der Eine Gott derselben wirklich ein absolut gutes, vollkommenes Wesen ist, so musste er auch seine Welt vollkommen schaffen. Eine so unvollkommene und leidenvolle organische Welt, wie sie auf der Erde besteht, konnte er überhaupt nicht erfinden.

Diese Betrachtungen gewinnen an Gewicht, wenn wir uns in die tiefere Naturerkenntniß der neueren Biologie versenken; hier hat uns vor allem Darwin durch seine Lehre vom Kampf um's Dasein und die darauf gegründete Selectionstheorie vor 40 Jahren die Augen geöffnet. Wir wissen seitdem, dass die ganze organische Natur auf unserem Planeten nur durch einen schonungslosen Kampf Aller gegen Alle besteht. Tausende von Thieren und Pflanzen müssen an jedem Orte der Erde alltäglich zu Grunde gehen, damit einzelne auserlesene Individuen bestehen bleiben und sich des Lebens freuen. Aber auch die Existenz dieser wenigen Bevorzugten ist ein beständiger Kampf gegen bedrohliche Gefahren aller Art. Tausende von hoffnungsvollen Keimen gehen in jeder Minute nutzlos zu Grunde. Der wüthende Interessenkampf in der menschlichen Gesellschaft ist nur ein schwaches Bild des unaufhörlichen und grausamen Existenzkampfes, der in der ganzen lebendigen Welt herrscht. Die schöne Dichtung von „Gottes Güte und Weisheit in der Natur“, die wir als Kinder noch vor fünfzig Jahren mit Andacht anhörten, findet heute keine Gläubigen mehr, wenigstens unter den denkenden Gebildeten! Sie ist vernichtet durch unsere tiefere Erkenntniß der Wechselbeziehungen zwischen den Organismen, durch die fortgeschrittene Oekologie und Sociologie, durch die Parasitenkunde und Pathologie.

Alle diese trostlosen und unabänderlichen Thatsachen – die wahre „Nachtseite der Natur“ – werden für den religiösen Glauben verständlich durch den Amphitheismus; sie erscheinen als „Werke des Teufels“, der die vollkommene, sittliche Weltordnung des „guten Gottes“ bekämpft und stört. Sie bleiben unverständlich für den reinen Monotheismus, der nur Einen Gott, nur Ein vollkommenes höchstes Wesen kennt Wenn man dabei beständig die „sittliche Weltordnung“ im Munde führt, so verschliesst man die Augen vor den unleugbaren Thatsachen der Völkergeschichte und der Naturgeschichte.

Auf Grund dieser Erwägungen können wir schwer begreifen, wie die grosse Mehrheit der sogenannten „Gebildeten“ noch heute einerseits den Glauben an einen persönlichen Gott für einen unentbehrlichen Grundsatz der Religion erklärt, und andererseits gleichzeitig den Glauben an einen persönlichen Teufel als einen überwundenen Aberglauben des Mittelalters zurückweist. Bei „gebildeten Christen“ ist diese Inconsequenz um so unbegreiflicher und tadelnswerther, als beide Dogmen gleicherweise wesentliche Bestandteile jedes echt christlichen Glaubensbekenntnißes bilden. Bekanntlich spielt der persönliche Teufel als „Satanas, Versucher, Verführer, Fürst der Hölle, Herr der Finsterniß“ u. s. w. im neuen Testamente eine sehr wichtige Rolle, während er in den älteren Schriften des alten Testamentes nicht vorhanden ist. Selbst unser grosser Reformator Martin Luther, der so vielen veralteten Dogmenkram „zum Teufel warf“, konnte die Ueberzeugung von der realen Existenz und der persönlichen Gegnerschaft des Beelzebub nicht los werden; man denke nur an den historischen Tintenfleck auf der Wartburg! Ausserdem hat unsere christliche bildende Kunst in vielen Tausenden von Gemälden und anderen bildlichen Darstellungen den Satanas ebenso leibhaftig vorgestellt, wie die drei persönlichen guten Götter, mit deren Vereinigung in einer „dreieinigen Person“ sich die menschliche Vernunft seit achtzehnhundert Jahren umsonst abquält. Der tiefe Eindruck, den solche millionenfach wiederholte concrete Darstellungen besonders auf kindliche Gemüther ausüben, wird in seiner colossalen Wirkung gewöhnlich unterschätzt; er trägt sicher einen sehr grossen Theil der Schuld daran, dass solche unvernünftige Mythen unter der Maske von „Glaubenswahrheiten“ sich beständig forterhalten, allen Einwänden der Vernunft zum Trotz.

Freisinnige christliche Theologen haben allerdings vielfach versucht, den „persönlichen Teufel“ aus der christlichen Glaubenslehre zu entfernen und nur als die personificirte Idee der Lüge, als den „Geist des Bösen“ hinzustellen. Allein mit demselben Rechte müssen wir dann auch an die Stelle des persönlichen Gottes die personificirte Idee der Wahrheit, den „Geist des Guten“, setzen. Gegen diese Vorstellung haben wir nicht das Mindeste einzuwenden; vielmehr erblicken wir in ihr eine werthvolle Brücke, welche das Wunderland religiöser Dichtung mit dem Lichtreiche wissenschaftlicher Naturerkenntniß verbindet.

Unsere „monistische Gottesidee“, welche allein mit der geläuterten Naturerkenntniß der Gegenwart sich verträgt, erkennt „Gottes Geist in allen Dingen“. Sie kann nimmermehr in Gott ein „persönliches Wesen“ sehen, d. h. mit anderen Worten, ein Individuum von beschränkter räumlicher Ausdehnung oder gar von menschlicher Gestalt. „Gott“ ist vielmehr überall. Wie schon Giordano Bruno sagte: „Ein Geist findet sich in allen Dingen, und es ist kein Körper so klein, der nicht einen Theil der göttlichen Substanz in sich enthielte, wodurch er beseelt wird.“ Jedes „Atom“ ist dergestalt beseelt, und ebenso der „Weltäther“; man kann demnach „Gott“ auch als die unendliche Summe aller Naturkräfte bezeichnen, als die Summe aller Atomkräfte und aller Aetherschwingungen. Es kommt im Wesentlichen auf dasselbe hinaus, wenn der geehrte Herr Vorredner Gott als „das oberste Weltgesetz“ definirt und dieses als „Wirken des allgemeinen Raumes“ darstellt. Nicht auf den Namen kommt es bei diesem höchsten Glaubenssatze an, sondern auf die Einheit der Grundvorstellung, auf die Einheit von Gott und Welt, von Geist und Natur. Hingegen erniedrigt der „Homotheismus“, die anthropomorphe Vorstellung von Gott, diesen erhabensten kosmischen Begriff zu einem „gasförmigen Wirbelthier“ 20).

Unter den verschiedenen Systemen des Pantheismus, welche die monistische Gottesvorstellung schon seit langer Zeit mehr oder weniger klar ausgebildet haben, ist wohl das vollkommenste dasjenige von Spinoza. Diesem System hat bekanntlich auch Goethe seine höchste Bewunderung und Zustimmung gezollt. Von anderen hervorragenden Männern, welche ihre natürliche Religion in diesem Sinne pantheistisch gestalteten, wollen wir hier nur noch zwei der grössten Dichter und Menschenkenner nennen: Shakespeare und Lessing, zwei der grössten deutschen Fürsten: Friedrich II. von Hohenstaufen und Friedrich II. von Hohenzollern; zwei der grössten Naturforscher: Laplace und Darwin. Indem wir unser eigenes pantheistisches Glaubensbekenntniß demjenigen dieser hervorragenden freien Geister anschliessen, wollen wir nur noch betonen, dass dasselbe durch die erstaunlichen Fortschritte der Naturerkenntniß in den letzten drei Decennien eine früher nicht geahnte empirische Begründung erfahren hat.

Der Vorwurf des Atheismus, den man auch heute noch gegen unseren Pantheismus und gegen den ihm zu Grunde liegenden Monismus erhebt, findet in den wirklich gebildeten Kreisen der Gegenwart keinen Widerhall mehr. Freilich konnte noch im Anfang des Jahres 1892 der damalige deutsche Reichskanzler im preussischen Abgeordnetenhause die seltsame Alternative aufstellen: „Entweder christliche oder atheistische Weltanschauung“; es geschah dies bei der Verteidigung jenes berüchtigten Volksschulgesetzes, das bestimmt war, unsere Schulbildung mit gebundenen Händen der papistischen Hierarchie zu überliefern 18). Die weite Entfernung, welche diesen entarteten Auswuchs der christlichen Religion von dem ursprünglichen reinen Urchristenthum trennt, ist nicht grösser, als diejenige, welche jene mittelalterliche Alternative von dem gebildeten religiösen Bewusstsein der Gegenwart scheidet. Wer freilich die Anbetung von alten Kleidungsstücken und Wachspuppen, oder das gedankenlose Ableiern von Messen und Rosenkränzen für wahre christliche Religionsübung hält; wer an wunderthätige Reliquien glaubt und Verzeihung seiner Sünden durch Ablassgelder und Peterspfennige erkauft, dem überlassen wir gern seine Ansprüche auf „allein selig machende Religion“; diesen Fetischdienern gegenüber wollen wir gern als „Atheisten“ gelten. Aehnlich wie mit den Beschuldigungen des Atheismus und der Irreligion verhält es sich mit dem oft gehörten Vorwurfe, dass unser Monismus die Poesie zerstöre und die Gemüthsbedürfniße des Menschen nicht befriedige; insbesondere soll die Aesthetik – sicher ein höchst werthvolles Gebiet, ebenso in der theoretischen Philosophie als im praktischen Leben – durch die monistische Naturphilosophie beeinträchtigt werden. Schon David Friedrich Strauss, einer unserer feinsinnigsten Aesthetiker und edelsten Schriftsteller, hat jenen Vorwurf widerlegt und gezeigt, wie gerade umgekehrt die Pflege der Poesie und der Cultus des Schönen zu einer viel grösseren Rolle in unserem „neuen Glauben“ berufen ist. Ihnen, hochgeehrte Anwesende, als Naturforschern und Naturfreunden, brauche ich nicht auseinander zu setzen, wie sehr jedes tiefere Eindringen unseres Verstandes in die Erkenntniß der Natur-Geheimniße gleichzeitig auch unser Gemüth erwärmt, unserer Phantasie neue Nahrung zuführt und unsere Schönheitsanschauung erweitert. Um sich zu überzeugen, wie eng alle diese Gebiete der edelsten menschlichen Geistesthätigkeit zusammenhängen, wie unmittelbar die Erkenntniß der Wahrheit mit der Liebe zum Guten und der Verehrung des Schönen verknüpft ist, genügt es, einen einzigen Namen zu nennen, den grössten deutschen Genius: Wolfgang Goethe.

Wenn bisher die ästhetische Bedeutung unserer monistischen Naturreligion, ebenso wie ihr ethischer Werth, noch wenig in das Bewusstsein der Gebildeten eingedrungen ist, so liegt das wohl hauptsächlich an unserem mangelhaften Schulunterricht Zwar ist in den letzten Decennien über Schulreform und Erziehungs-Principien unendlich viel geredet und geschrieben worden; aber von einem wesentlichen Fortschritt ist noch wenig zu spüren. Auch hier herrscht das physikalische Gesetz der Trägheit; auch hier – und ganz besonders in den deutschen Schulen – bethätigt die Scholastik des Mittelalters ein Beharrungsvermögen, dem gegenüber die vernünftige Unterrichts­reform jedes Bodenstück Schritt für Schritt mühsam erkämpfen muss. Auch auf diesem hochwichtigen Gebiete, von dem Wohl und Wehe der künftigen Generationen abhängt, wird es nicht eher besser werden, als bis die monistische Naturerkenntniß als unentbehrliche feste Grundlage anerkannt ist.

Die Schule des zwanzigsten Jahrhunderts, auf diesem festen Grunde neu erblühend, wird nicht allein die wundervollen Wahrheiten der Weltentwickelung der aufwachsenden Jugend zu entschleiern haben, sondern auch die unerschöpflichen Schätze der Schönheiten, die überall in derselben verborgen liegen. Mögen wir die Pracht des Hochgebirges oder die Zauberwelt des Meeres bewundern, mögen wir mit dem Fernrohr die unendlich grossen Wunder des gestirnten Himmels, oder mit dem Mikroskop die noch überraschenderen Wunder des unendlich kleinen Lebens betrachten, überall öffnet uns die Gott-Natur eine unerschöpfliche Quelle ästhetischer Genüsse. Blind und stumpf ist bisher der weitaus grösste Theil der Menschheit durch diese herrliche irdische Wunderwelt gewandelt; eine kranke und unnatürliche Theologie hat ihr dieselbe als „Jammerthal“ verleidet. Jetzt gilt es, dem mächtig fortschreitenden Menschengeiste endlich die Augen zu öffnen; es gilt ihm zu zeigen, dass die wahre Naturerkenntniß nicht allein seinem grübelnden Verstande, sondern auch seinem sehnenden Gemüthe volle Befriedigung und unversiegliche Nahrung zuführt.

Die monistische Naturforschung als Erkenntniß des Wahren, die monistische Ethik als Erziehung zum Guten, die monistische Aesthetik als Pflege des Schönen – das sind die drei Hauptgebiete unseres Monismus; durch ihre harmonische und zusammenhängende Ausbildung gewinnen wir jenes wahrhaft beglückende Band zwischen Religion und Wissenschaft, das heute noch von so Vielen schmerzlich vermisst wird. Das Wahre, das Gute und das Schöne, das sind die drei hehren Gottheiten, vor denen wir anbetend unser Knie beugen; in ihrer naturgemässen Vereinigung und gegenseitigen Ergänzung gewinnen wir den reinen Gottesbegriff 21). Diesem „dreieinigen Gottes-Ideale“, dieser naturwahren Trinität des Monismus wird das herannahende zwanzigste Jahrhundert seine Altäre bauen!

Im August 1882 wohnte, ich der dreihundertjährigen Jubelfeier der Universität Würzburg bei, an der ich selbst im Jahre 1852 meine medicinischen Studien begonnen und sechs Semester hindurch fortgesetzt hatte. Die treffliche Festrede in der Universitätskirche hielt der damalige Rector, der ausgezeichnete Chemiker Johannes Wislicenus. Er schloss seine Segenswünsche mit den Worten: „Das walte Gott, der Geist des Guten und der Wahrheit“. Ich füge hinzu: „Und der Geist der Schönheit“. In diesem Sinne widme auch ich Ihrer Naturforschenden Gesellschaft des Osterlandes bei dieser festlichen Gelegenheit meine besten Glückwünsche. Möge die Erforschung der Naturgeheimniße auch in dieser nordöstlichen Ecke unseres Thüringer Landes blühen und gedeihen, und mögen ihre hier in Altenburg reifenden Erkenntnißfrüchte nicht weniger zur Geistescultur und zur Förderung wahrer Religion beitragen, als diejenigen, welche vor 370 Jahren der grosse Reformator Martin Luthes an der nordwestlichen Ecke Thüringens, auf der Wartburg bei Eisenach, zu Tage förderte.

Mitten inne zwischen der Wartburg und Altenburg liegt an der Thüringer Nordgrenze die classische Musenstadt Weimar, und nahe dabei unsere Landesuniversität Jena. Ich betrachte es als ein gutes Omen, dass gerade in diesem Augenblicke in Weimar eine seltene Festfeier die durchlauchtigsten Erhalter der Universität Jena, die Beschützer der freien Forschung und freien Lehre zusammengeführt hat 22). In der Hoffnung, dass der Schutz und die Förderung derselben uns auch ferner erhalten bleibe, schliesse ich mein monistisches Glaubensbekenntniß mit den Worten: „Das walte Gott, der Geist des Guten, des Schönen und der Wahrheit!“

 

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1) Naturwissenschaftliche Glaubenssätze (S. 9). In der Festrede, welche Professor Schlesinger am 9. October über dieses Thema in Altenburg hielt, wies derselbe mit Recht (im Sinne von Kant) auf die Grenzen des Naturerkennens hin, welche uns durch die Unvollkommenheit unserer Erkenntnißorgane gesetzt sind. Die Lücken, welche die empirische Naturforschung im Gebäude der Wissenschaft offen lassen muss, können wir aber durch Hypothesen ausfüllen, durch mehr oder weniger wahrscheinliche.Vermuthungen. Diese können wir zwar zur Zeit noch nicht sicher beweisen; aber wir dürfen sie zur Erklärung der Erscheinungen verwerthen, sofern sie der vernünftigen Naturerkenntniß nicht widersprechen. Solche vernünftige Hypothesen sind wissenschaftliche Glaubenssätze, und somit sehr verschieden von sogenannten „kirchlichen Glaubenssätzen oder religiösen Dogmen“. Diese letzteren sind entweder reine Dichtungen – ohne jeden empirischen Beweis –) oder einfach unvernünftig (– dem Causalgesetze widersprechend –). Eine vernünftige Hypothese von fundamentaler Bedeutung ist z. B. der Glaube an die Einheit der Materie (die Zusammensetzung der Elemente aus Uratomen, S. 17), der Glaube an die Urzeugung (S. 38), der Glaube an die principielle Einheit aller Naturerscheinungen, wie sie unser Monismus vertritt (vgl. darüber meine generelle Morphologie, I. Bd. S. 105, 164 u. s. w., sowie die Natürl. Schöpfungsgeschichte, IX. Aufl., 1898, S. 21, 360, 812). Da sowohl die einfacheren Vorgänge in der anorganischen Natur, wie die verwickeiteren Erscheinungen im organischen Leben auf dieselben Naturkräfte zurückführbar sind; da ferner diese wieder ihren gemeinsamen Grund in einem einheitlichen, den allgemeinen unendlichen Weltraum erfüllenden Urprincip besitzen, so kann man dieses letztere (den Weltäther) als allumfassende Gottheit betrachten und darauf den Satz gründen: „der Gottesglaube ist mit der Naturwissenschaft vereinbar“. In dieser pantheistischen Auffassung, wie in der Kritik des einseitigen Materialismus stimme ich mit Professor Schlesinger überein, während ich dagegen einem Theile seiner biologischen – und insbesondere anthropologischen – Folgerungen nicht zustimmen kann. Vgl. dessen Aufsatz: Thatsachen und Folgerungen aus dem Wirken des allgemeinen Raumes (Mittheilungen aus dem Osterlande, V. Bd., Altenburg 1892). 

 

2) Einheit der Natur (S. 9). Die principielle Einheit der anorganischen und organischen Natur, sowie ihren genetischen Zusammenhang, halte ich für einen fundamentalen Hauptsatz unseres Monismus. Ich betone diesen „Glaubenssatz“ hier ausdrücklich, weil immer noch angesehene Naturforscher bisweilen ihn bestreiten. Nicht allein wird die alte mystische „Lebenskraft“ immer wieder von Zeit zu Zeit aufgewärmt, sondern auch der natürlichen Entwicklungslehre wird noch oft die „wunderbare“ Entstehung des organischen Lebens aus der „todten“ anorganischen Natur als ein unlösbares Räthsel entgegengestellt, als eines der „sieben Welträthsel“ von Du Bois-Reymond (vgl. dessen Leibnitz-Rede 1880). Die Lösung dieses „transcendenten“ Welträthsels und der damit zusammenhängenden Frage von der Archigonie (– der „Urzeugung“ in einem ganz bestimmten Sinne! –) kann nur gefunden werden durch eine kritische Analyse und unbefangene Vergleichung der Stoffe, Formen und Kräfte in der anorganischen und organischen Natur. Eine solche habe ich schon 1866 im zweiten Buche meiner „Generellen Morphologie“ gegeben (Bd. I, S. 109 - 238: „Allgemeine Untersuchungen über die Natur und erste Entstehung der Organismen, ihr Verhältniß zu den Anorganen und ihre Eintheilung in Thiere und Pflanzen“). Einen kurzen Auszug derselben enthält der XV. Vortrag meiner „Natürl. Schöpfungsgesch.“ (IX. Aufl., S. 340 - 368). Die grössten Schwierigkeiten, welche der dort dargelegten monistischen Auffassung früher entgegenstanden, können jetzt als beseitigt gelten durch die neueren Aufschlüsse über das Wesen des Plasma, die Entdeckung der Moneren, das genaue Studium der nächstverwandten einzelligen Protisten, ihren Vergleich mit der Stammzeile (oder der befruchteten Eizelle), sowie durch die chemische Kohlenstofftheorie. (Vgl. meine „Studien über Moneren und andere Protisten“ in der Jenaischen Zeitschrift für Naturwissenschaft, Bd. IV, V, 1868 - 1870. Vgl. ferner: Carl Nargeli, 1884, Mechanisch-physiologische Begründung der Abstammungs­lehre). 

 

3) Religion der Thiere (S. 11). Die ersten Anfange jener höheren Gehirnfunctionen, welche wir als Vernunft und Bewusstsein, Religion und Sittlichkeit bezeichnen, sind bei den höchst entwickelten Hausthieren (– vor allen Hunden, Pferden, Elephanten –) bereits unverkennbar; sie sind nur graduell (nicht qualitativ) von den entsprechenden Seelenthätigkeiten der niedersten Menschenrassen verschieden. Wenn die Affen, und vor allen die Anthropoiden, seit Jahrtausenden gleich den Hunden domesticirt und in engster Berührung mit den Culturmenschen gezüchtet worden wären, so würde unzweifelhaft ihre Annäherung an die menschliche Seelenthätigkeit noch viel auffallender sein. Die anscheinend tiefe Kluft, welche den Menschen noch von diesen höchst entwickelten Säugethieren trennt, „ist vorzugsweise darin begründet, dass der Mensch in sich mehrere hervorragende Eigenschaften vereinigt, welche bei den übrigen Thieren nur getrennt vorkommen, nämlich 1. die höhere Differenzirungsstufe des Kehlkopfs (Sprache), 2. des Gehirns (Seele), und 3. der Extremitäten; 4. endlich den aufrechten Gang. Lediglich die glückliche Combination eines höheren Entwicklungsgrades von diesen wichtigen thierischen Organen und Functionen erhebt die meisten Menschen so hoch über alle Thiere“ (Generelle Morphologie, 1866, Bd. II, S. 430). 

 

4) Vererbung erworbener Eigenschaften (S. 11). Da der Streit über diese wichtige Frage immer noch nicht geschlichtet ist, sei bei dieser Gelegenheit besonders darauf hingewiesen, welche werthvollen Gründe zu seiner Entscheidung gerade die Entwicklung der Instincte bei den höheren Thieren, der Sprache und der Vernunft beim Menschen liefert. „Die Vererbung der im individuellen Leben erworbenen Eigenschaften ist eine unerlässliche Annahme der monistischen Entwicklungslehre.“ „Wenn man mit Weismann und Galton dieselbe leugnet, so schliesst man damit den umbildenden Einfluss der Aussenwelt auf die organische Form überhaupt aus.“ (Anthropogenie, IV. Aufl., S. XXIII, 836. Vgl. ferner die dort citirten Schriften von Eimer, Weismann, Herbert Spencer, Ray-Lankester etc., sowie meine Abhandlung „Zur Phylogenie der Australischen Fauna“ (1893) und Ludwig Wilske, Die Vererbung der geistigen Eigenschaften (Heidelberg 1892). 

 

5) Theosophisches Natur System (S. 12). Unter allen neueren Versuchen der dualistischen Philosophie, die Naturerkenntniß theologisch (– und zwar auf der Basis des christlichen Monotheismus –) zu begründen, ist der Essay on Classification von Louis Agassiz der weitaus bedeutendste, ja eigentlich der einzige nennenswerthe. (Vgl. hierüber meine Natürl. Schöpfungsgesch. III. Vortrag, sowie die „Ziele und Wege der heutigen Entwicklungsgeschichte“ 1875, Jena, Zeitschr. für Naturw., Bd. X. Supplement.) Dass die dogmatische Auffassung des Speciesbegriffes bei Agassiz rein teleologisch und wissenschaftlich völlig unhaltbar war, habe ich eingehend im 22. Kapitel meiner generellen Morphologie nachgewiesen (Bd. II. S. 323 - 364). 

 

6) Darwin und Copernicus (S. 13). Unter diesem Titel hat Herr Geh. Rath Emil Du Bois-Reymond im II. Bande seiner „Gesammelten Reden“ (1887, S. 496) einen Nachruf wieder abgedruckt, welchen er am 25. Januar 1883 in der Berliner Akademie der Wissenschaften gehalten hatte. Da dieser Nachruf, wie der Redner selbst in einer Anmerkung (S. 500) sagt, grosses Aufsehen „sehr unverdienter Weise erregte“, und ihm von Seiten der klerikalen Presse heftige Angriffe zuzog, wird es mir gestattet sein, hier darauf hinzuweisen, dass derselbe keinen neuen Gedanken enthält. Denn ich selbst hatte den Vergleich zwischen Darwin und Copernicus, sowie die Verdienste beider Heroen um die Vernichtung der anthropocentrischen und geocentrischen Weltanschauung bereits eingehender fünfzehn Jahre früher ausgeführt in meinen Vorträgen „über die Entstehung und den Stammbaum des Menschengeschlechts“ (in der III. Serie der Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge von Virchow und Holtzendorff, No. 53 und 54, 1868; IV. Aufl. 1881) Wenn Herr Du Bois-Reymond sagt: „Für mich ist Darwin der Copernicus der organischen Welt,“ so freue ich mich um so mehr, meinen Gedankengang (– zum Theil mit denselben Worten –) von ihm akceptirt zu sehen, als er selbst sich dabei unnöthiger Weise zu mir in Gegensatz bringt. Ebenso verhält es sich mit der Erklärung der „angeborenen Ideen“ durch den Darwinismus, welche Herr Du Bois 1870 in seiner Rede über „Leibnizische Gedanken in der neueren Naturwissenschaft“ versucht (I. Bd. der gesammelten Reden). Auch hier stimmt sein Gedankengang in erfreulicher Weise mit demjenigen über ein, den ich vier Jahre früher in meiner Generellen Morphologie (Bd. H, S. 446) und in der Natürlichen Schöpfungsgeschichte entwickelt hatte (1868, I. Vortrag S. 26, letzter Vortrag S. 530): „Die Gesetze der Vererbung und Anpassung erklären uns, wie die Erkenntniße a priori ursprünglich aus Erkenntnißen a posteriori sich entwickelt haben“ etc. Es kann mir nur sehr schmeichelhaft sein, den berühmten Rhetor der Berliner Akademie neuerdings als Freund und Gönner der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ zu begrüssen, welche derselbe früher als einen schlechten Roman bezeichnet hatte. Man sollte aber deshalb doch nicht sein geflügeltes Wort vergessen, dass die wissenschaftlich begründeten Stammbäume der Phylogenie „etwa so viel Werth sind, wie in den Augen der historischen Kritik die Stammbäume homerischer Helden“ (Darwin versus Galiani, 1876).  

 

7) Das Gesetz von der Erhaltung der Substanz (S. 14) gehört streng genommen auch zu den „naturwissenschaftlichen Glaubenssätzen“ und könnte als § 1 unserer „monistischen Religion“ gelten. Allerdings betrachten die Physiker der Gegenwart allgemein und mit Recht ihr „Gesetz von der Erhaltung der Kraft“ als die unerschütterliche Grundlage ihrer wissenschaftlichen Naturerkenntniß (Robert Mayer, Helmholtz), und ebenso die Chemiker ihr Grundgesetz „von der Erhaltung des Stoffes“ (Lavoisier). Allein skeptische Philosophen könnten mit Erfolg sowohl gegen jedes einzelne dieser beiden Grundgesetze gewisse Einwände erheben, als gegen ihre Zusammenfassung in dem einen obersten Grundgesetz „von der Erhaltung der Substanz“. Thatsächlich werden dergleichen Einwände von Seiten der dualistischen Philosophie noch fortwährend versucht, oft unter dem Scheine der vorsichtigen Kritik. Diese skeptischen (zum Theil auch rein dogmatischen) Einwände haben nur insofern einen Schein der Berechtigung, als sie das fundamentale Substanzproblem betreffen, die Grundfrage von dem „Zusammenhang von Materie und Kraft“. Wenn wir aber diese eine, noch wirklich vorhandene „Grenze des Naturerkennens“ bereitwillig anerkennen, so vermögen wir innerhalb derselben das „mechanische Causalgesetz“ ganz allgemein zur Anwendung zu bringen. Die verwickelten sogenannten „geistigen Vorgänge“ (insbesondere auch das Bewusstsein) sind dem „Gesetze von der Erhaltung der Substanz“ genau ebenso unterworfen, wie die einfacheren mechanischen Naturprocesse, als Objecte der anorganischen Physik und Chemie. Vgl. Anmerkung 16. 

 

8) Kant und der Monismus (S. 16). Da die neuere deutsche Philosophie grösstenteils auf Immanuel Kant zurückgeht und zum Theil den grossen Königsberger Philosophen in übertriebener Weise (– selbst als „unfehlbar“! –) vergöttert, sei es gestattet, hier wiederholt darauf hinzuweisen, dass sein System der kritischen Philosophie aus monistischen und dualistischen Bestandteilen gemischt ist. Von fundamentaler Bedeutung werden stets seine kritischen Principien der Erkenntnißtheorie bleiben, der Nachweis, dass wir das eigentliche tiefste Wesen der Substanz, das „Ding an sich“ (– oder den „Zusammenhang von Materie und Kraft“ –) nicht zu erkennen vermögen; unsere Erkenntniß bleibt subjectiver Natur; sie ist bedingt durch die Organisation unseres Gehirns und unserer Sinneswerkzeuge und vermag daher bloss die Erscheinungen zu begreifen, welche uns die Erfahrung von der Aussenwelt übermittelt. Aber innerhalb dieser „menschlichen Erkenntniß-Grenzen“ ist ein positives monistisches Naturerkennen sehr wohl möglich, im Gegensatze zu allen dualistischen und metaphysischen Phantastereien. Eine solche grosse monistische Erkenntnißthat war die mechanische Kosmogenie von Kant und Laplace, der „Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudcs, nach Newton'schen Grundsätzen abgehandelt“ (1755). Ueberhaupt hielt Kant im Gebiete der anorganischen Naturerkenntniß den monistischen Standpunkt streng ein, indem er den Mechanismus allein als wirkliche Erklärung der Erscheinungen gelten liess. Im Gebiete der organischen Naturerkenntniß hingegen hielt er denselben zwar auch für berechtigt, aber nicht für ausreichend; hier glaubte er ausser den Werkursachen (Causae efficientes) nothwendig auch Zweckursachen (Causae finales) zu Hülfe nehmen zu müssen. (Vgl. den V. Vortrag meiner Natürl. Schöpfungsgeschichte: Entwicklungstheorie von Kant und Lamarck. Vgl. ferner Albrecht Rau, Kant und die Naturforschung. Eine Prüfung der Resultate des idealistischen Kriticismus durch den realistischen. Kosmos, II. Bd. 1886.) Dadurch gelangte Kant auf die schiefe Ebene der dualistischen Teleologie und später zu seinen unhaltbaren metaphysischen Ansichten von „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“. Wahrscheinlich wären diese Irrthümer vermieden worden, wenn Kant eine gründliche anatomisch-physiologische Bildung besessen hätte. Freilich lagen damals die Naturwissenschaften noch in der Wiege. Ich bin fest überzeugt, dass Kant's System der kritischen Philosophie ganz anders und rein monistisch ausgefallen wäre, wenn ihm die ungeahnten Schätze empirischer Naturkenntniß zu Gebote gestanden hätten, über welche wir heute verfügen. 

 

9) Der Weltäther (S. 16) In einem geistreichen Vortrage „über die Beziehungen zwischen Licht und Elektricität“ hat Heinrich Hertz auf der (62.) Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in Heidelberg 1889 die Tragweite seiner glänzenden Entdeckung erläutert: „So verbreitet sich das Gebiet der Elektricität über die ganze Natur. Es rückt auch uns selbst näher; wir erfahren, dass wir in Wahrheit ein elektrisches Organ haben, das Auge. – Da liegt nahe vor uns die Frage nach den unvermittelten Fernwirkungen überhaupt. Giebt es solche? – In anderer Richtung nicht ferne liegt die Frage vom Wesen der Elektricität. Und unmittelbar an diese anschliessend erhebt sich die gewaltige Hauptfrage nach dem Wesen des Aethers, nach den Eigenschaften des raumerfüllenden Mittels, nach seiner Structur, seiner Ruhe oder Bewegung, seiner Unendlichkeit oder Begrenztheit. Immer mehr gewinnt es den Anschein, als überrage diese Frage alle übrigen, als müsse die Kenntniß des Aethers uns nicht allein das Wesen der ehemaligen Imponderabilien offenbaren, sondern auch das Wesen der alten Materie selbst und ihrer innersten Eigenschaften, der Schwere und Trägheit. – Der heutigen Physik liegt die Frage nicht mehr ferne, ob nicht etwa Alles, was ist, aus dem Aether geschaffen sei?“ – Diese Frage wird bereits von einigen monistischen Naturphilosophen bejaht, so von J. G. Vogt in seinem gedankenreichen Werke über „das Wesen der Elektricität und des Magnetismus auf Grund eines einheitlichen Substanzbegriffes“ (Leipzig 1891). Er betrachtet die Massenatome (oder die Uratome des kinetischen Materie-Begriffes) als individualisirte Verdichtungscentren der continuirlichen, den ganzen Weltraum lückenlos erfüllenden Substanz: der bewegliche elastische Theil dieser Substanz zwischen den Atomen und im ganzen Weltraum ist eben der Aether. Zu ähnlichen Anschauungen gelangte schon früher auf Grund mathematisch-physikalischer Untersuchungen Georg Helm in Dresden; in seinem Aufsatze „über die Vermittelung der Fernwirkungen durch den Aether“ (Annalen der Physik und Chemie, 1881, Bd. XIV) zeigt er, „dass zur Erklärung der Fernwirkungen und der Strahlung nur die Annahme eines einzigen Stoffes, des Aethers, erforderlich ist, d. h. dass für diese Erscheinungen alle Qualitäten, die man einem Stoffe zuschreiben kann, einflusslos sind, ausser der einen, dass er sich bewegt; oder dass im Begriffe Aether nichts Anderes gedacht zu werden braucht, als „das Bewegliche“. 

 

10) Atome und Elemente (S. 17). Die zahlreichen und wichtigen Gründe, welche für die zusammengesetzte Natur unserer empirischen Elemente sprechen, hat kürzlich Gustav Wendt erörtert in seiner Abhandlung über „die Entwicklung der Elemente, Entwurf zu einer biogenetischen Grundlage für Chemie und Physik“ (Berlin 1891). Vgl. auch Wilhelm Preyer: „Die organischen Elemente und ihre Stellung im System“ (Wiesbaden 1891), Victor Meyer: Chemische Probleme der Gegenwart (Heidelberg 1890) und W. Crookes: „Die Genesis der Elemente“ (Braunschweig 1888). Ueber die verschiedenartige Auffassung des Atombegriffes vgl. Philipp Spiller, Die Atomlehre, in: Die Urkraft des Weltalls nach ihrem Wesen und Wirken auf allen Naturgebieten (Berlin 1886): I. Naturphilosophie. II. Die Weltätherlehre. III. Die ethische Seite der Naturbetrachtung. Ueber den Aufbau der Masse aus den Atomen. Vgl. A. Turner, Die Kraft und Materie im Raume (Leipzig 1886, III. Aufl.). I. Ueber die Natur des Stoffes und seine Relationsverhältniße. II. Atomverbindungen. III. Die Natur der Moleküle und ihre Verbindungen. Theorie der Krystallisation. 

 

11) Die Weltsubstanz (S. 18). Das Verhältniß der beiden Urbestandtheile des Kosmos, Aether und Masse, lässt sich vielleicht in der nachstehenden Gegenüberstellung (nach einer der vielen verschiedenen Hypothesen) einigermaassen vorläufig anschaulich machen:

 

Welt (= Substanz = Kosmos).

Weltäther (= bewegliche, schwingende oder active Substanz).

Hauptfunctionen: Elektricität, Magnetismus, Licht, Wärme.

Structur: dynamisch; continuirliche, elastische Substanz, nicht aus Atomen zusammengesetzt (?)

Weltmasse (= träge, beharrende oder passive Substanz).

Hauptfunctionen: Schwere, Trägheit, chemische Wahlverwandtschaft.

Structur: atomistisch; discontinuirliche, unelastische Substanz, aus Atomen zusammengesetzt (!).

 

Das räthselhafte Wesen des Aethers bietet gegenwärtig noch, im Gegensatze zu dem besser bekannten Wesen der Masse, unserer theoretischen Auffassung ausserordentliche Schwierigkeiten. Diese sind so gross, dass die meisten Physiker – und noch mehr die Chemiker – die Frage nach dem Wesen des Aethers ganz bei Seite lassen, oder nur oberflächlich streifen. Und doch liegt es auf der Hand, dass diese „gewaltige Hauptfrage“ zunächst alle anderen kosmologischen Grundfragen an Bedeutung überragt. In Bezug auf die Structur des Aethers neigen wohl die meisten Physiker zu der Annahme, dass er ebenso wie die Masse aus discreten Theilchen – d. h. also aus Atomen – zusammengesetzt sei. Allein bei dieser Annahme müssen wir weiterhin uns vorstellen, dass zwischen den Aether-Atomen noch ein anderes raumerfüllendes Medium existire, also ausser Aether und Masse noch ein dritter (ganz unbekannter!) Urbestandtheil des Kosmos; denn die altehrwürdige Vorstellung des wirklich „leeren Raumes“ und der damit verknüpften „Fernwirkung der Körper“, verliert immer mehr jeden Boden, je tiefer die monistische Speculation in das wahre Wesen der Substanz auf Grund der neueren Erfahrungs-Fortschritte eindringt. Wenn wir nun wirklich ausser Aether und Masse noch einen solchen dritten, zwischen den Atomen dieser Beiden befindlichen Urbestandtheil der Substanz annehmen wollten, so wäre damit nicht das geringste gewonnen; denn bei der Frage nach seiner Structur würden wir wieder auf dieselben Schwierigkeiten und Antinomien stossen, und so „in infinitum“! Es scheint mir daher die entgegengesetzte Hypothese den Vorzug zu verdienen, dass der Weltäther nicht aus Atomen zusammengesetzt ist, vielmehr eine „continuirliche elastische Substanz“ darstellt, dass er eine „dynamische Structur“ besitzt, keine atomistische (wie die „Masse“). Ohnehin wird von den Physikern schon jetzt zugegeben, dass die Dichtigkeit oder der Aggregatzustand des Aethers ein ganz eigentümlicher und mit den bekannten drei Zuständen der Masse nicht vergleichbar ist. Dieser „ätherische Aggregatzustand“ ist weder fest, noch tropfbar flüssig, noch gasförmig. Er ist auch nicht „festflüssig“, wie das gequollene wasserreiche Plasma organischer Gewebe. Dennoch könnte man, um überhaupt irgend eine fassbare Vorstellung vom Aether-Wesen zu gewinnen, vielleicht ein grobes Bild aus der Massenwelt entlehnen, und ihn einer äusserst weichen und höchst elastischen Gallerte vergleichen, wie sie in der Umbrella-Substanz mancher Medusen und Chenophoren uns bekannt ist. Bisweilen sind in einer solchen „festflüssigen“ Gallerte Milliarden von feinsten, nur bei stärkster Vergrösserung erkennbaren Körnchen vertheilt. In ähnlicher Weise könnte man sich die Massen-Atome in der continuirlichen Aether-„Grundsubstanz“ vertheilt vorstellen. Die Dichtigkeit des Aethers hat Sir William Thomson dahin berechnet, dass eine Aether-Kugel vom Volumen unserer Erde mindestens 250 Pfund wiege. – Die Chemiker pflegen bei ihren Untersuchungen über die „Wahlverwandtschaft“ der empirischen Element-Atome, bei der Analyse und Synthese ihrer chemischen Verbindungen, gewöhnlich weder an die Uratome der Masse zu denken, noch an ihre Beziehungen zu dem zwischem ihnen befindlichen Aether. Und doch ist es klar, dass diese letzteren nothwendig mit in Betracht gezogen werden müssen, wenn man in das Wesen der ersteren tiefer eindringen will. – Elektricität, Magnetismus, Licht, strahlende Wärme – also „Aether-Functionen“! – spielen bekanntlich auch bei chemischen Processen eine hochwichtige Rolle, und müssen also auch für den Chemiker ebenso Gegenstand tieferer Forschung sein, wie die „Massen-Functionen“ der Schwere, des Gewichtes, der „chemischen Wahlverwandtschaft“. 

 

12) Universale Entwicklungslehre (S. 18). Die wichtigsten Schriften darüber habe ich in der neuen (IX.) Aufl. meiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ (1898) aufgeführt. Vgl. insbesondere: Carus Sterne (Ernst Krause): Werden und Vergehen. Eine Entwickelungsgeschichte des Naturganzen in gemeinverständlicher Fassung (III. Aufl., mit 500 Abbildungen, Berlin 1886). – Wilhelm Bölsche, Entwickelungsgeschichte der Natur (Band I und II vom Hausschatz des Wissens), Berlin 1894. – Hugo Spitzer, Beiträge zur Descendenztheorie und zur Methodologie der Naturwissenschaft (Graz 1886). 

 

13) Stammesgeschichte (S. 19). Begriff und Aufgabe der Phylogenie oder Stammesgeschichte habe ich zuerst 1866 deffnirt, im sechsten Buche meiner „Generellen Morphologie“ (Bd. II, S. 301 - 422). Den wesentlichen Inhalt derselben, sowie ihre Beziehung zur Ontogenie oder Keimesgeschichte entwickelt in populärer Form der II. Theil meiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ (IX. Aufl. mit 30 Tafeln, Berlin 1898). Die besondere Anwendung beider Zweige der Entwickelungsgeschichte auf den Menschen versucht meine Anthropogenie (Leipzig 1874. IV. umgearbeitete und vermehrte Aufl. 1891, I. Theil: Keimesgeschichte. II. Theil: Stammesgeschichte). – Neuerdings habe ich in einem grösseren dreibändigen Werke die strenge fachwissenschaftliche Begründung meiner biogenetischen Ansichten zu geben versucht: „Systematische Phylogenie, Entwurf eines natürlichen Systems der Organismen auf Grund ihrer Stammesgeschichte“ (I. Theil: Protisten und Pflanzen; II. Theil: Wirbellose Thiere; III. Theil: Wirbelthiere), Berlin 1896. 

 

14) Gegner der Abstammungslehre (S. 21). Seit dem Tode von Louis Agassiz (1873) wird als einziger namhafter Gegner des Darwinismus und der Descendenztheorie Rudolf Virchow betrachtet; bei jeder Gelegenheit hat er dieselben als „unbewiesene Hypothesen“ bekämpft, jedoch niemals den geringsten Versuch einer eingehenden wissenschaftlichen Widerlegung derselben gemacht. Vgl. hierüber meine Schrift über „Freie Wissenschaft und freie Lehre“. Eine Entgegnung auf Rudolph Virchow's Münchener Rede über „die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat“, 1878. 

 

15) Cellular-Psychologie (S. 21). Vergl. hierüber meinen Aufsatz über „Zellseelen und Seelenzellen“ in der „Deutschen Rundschau“ (Juli-Heft 1878), abgedruckt im I. Hefte meiner „Gesammelten populären Vorträge“ ; ferner: Zellseele und Cellular-Psychologie, in meiner Abhandlung über „Freie Wissenschaft und freie Lehre“, Stuttgart 1878, S. 83; – Natürliche Schöpfungsgeschichte (IX. Aufl., S. 446, 793) und Anthropogenie (IV. Aufl., S. 128, 147). Vergl. ferner Max Verwohn, Psycho-physiologische Protisten-Studien, Jena 1889, sowie dessen ausgezeichnete „Allgemeine Physiologie“ (II. Aufl. Jena 1897); Paul Carus, The Soul of Man, an investigation of the facta of physiological and experimental Psychology (Chicago 1891). Unter den neueren Versuchen, die Psychologie auf Grund der Entwicklungslehre in monistischem Sinne zu reformiren, ist besonders hervorzuheben: Georg Heinrich Schneider, Der thierische Wille, Systematische Darstellung und Erklärung der thierischen Triebe und deren Entstehung, Entwicklung und Verbreitung im Thierreiche, als Grundlage zu einer vergleichenden Willenslehre (Leipzig 1880). Vergl. auch Desselben ergänzendes Werk: Der menschliche Wille vom Standpunkte der neuen Entwicklungstheorie (1882). 

 

16) Das Bewusstsein (S. 23). Noch immer wird in zahlreichen Schriften die veraltete Ansicht von Du Bois-Reymond (1872) festgehalten, dass das menschliche Bewusstsein ein unlösbares „Welträthsel“ für sich sei, eine transcendente Erscheinung, die zu allen übrigen Naturerscheinungen in principiellem Gegensatze stehe. Gerade auf diese Ansicht in erster Linie gründet die dualistische Weltanschauung ihre Behauptung, dass der Mensch ein ganz besonderes Wesen und seine persönliche Seele unsterblich sei. Gerade deshalb wird seit 26 Jahren die „Leipziger Ignorabimus-Rede“ von Du Bois-Reymond von allen Vertretern mythologischer Weltanschauung zur Stütze verwerthet und als Widerlegung des „monistischen Dogma“ gerühmt. Das Schlusswort „Ignorabimus“ wurde aus dem Futurum in das Praesens übersetzt, und dieses „Ignoramus“ bedeutet, dass wir „Ueberhaupt nichts wissen“ – und noch schlimmer, dass „wir überhaupt nicht zur Klarheit kommen und alles weitere Reden müssig bleibt“. Gewiss bleibt die berühmte Ignorabimus-Rede ein bedeutungsvolles rhetorisches Kunstwerk; sie ist eine „schöne Predigt“ von hoher Vollendung der Form und überraschendem Wechsel naturphilosophischer Bilder. Bekanntlich beurtheilt aber die Mehrheit (– und besonders das „schöne Geschlecht“ –) eine „schöne Predigt“ nicht nach dem wahren Ideen-Gehalte, sondern nach dem ästhetischen Unterhaltungswerthe. Während Du Bois sein Auditorium ausführlich mit den unglaublichen Leistungen des Laplace'schen Geistes unterhält, schlüpft er am Schlüsse über den wichtigsten Theil seines Thema in elf kurzen Zeilen hinweg und versucht gar nicht weiter die Lösung seiner Hauptfrage, ob die Welt wirklich „doppelt unbegreiflich“ sei? Ich habe dagegen schon wiederholt zu zeigen versucht, dass die beiden Grenzen unseres Naturerkennens in der That eine und dieselbe sind; die Thatsache des Bewusstseins und sein Verhältniß zum Gehirn sind uns nicht minder, aber auch nicht mehr räthselhaft, als die Thatsache des Sehens und Hörens, als die Tatsache der Gravitation, als der Zusammenhang von Materie und Kraft. (Vergl. meine Abhandlung über „Freie Wissenschaft und freie Lehre“, Stuttgart 1878, S. 78, 82 etc.) 

 

17) Unsterblichkeit (S. 25). Vielleicht bei keinem Glaubensatze der Kirche liegt die grobmaterialistische Vorstellung des christlichen Dogma so klar zu Tage, wie bei der hochgehaltenen Lehre von der „persönlichen Unsterblichkeit“ und der damit verknüpften „Auferstehung des Fleisches“. Sehr gut bemerkt darüber Savage in seinem vortrefflichen Werke über „Die Religion im Lichte der Darwinschen Lehre“ (Deutsch von Schramm, Leipzig 1886, S. 180): „Eine der stehenden Anklagen der Kirche gegen die Wissenschaft lautet, das letztere materialistisch sei. Ich möchte im Vorbeigehen darauf aufmerksam machen, dass die ganze kirchliche Vorstellung vom zukünftigen Leben von jeher und noch jetzt der reinste Materialismus war und ist. Der materielle Leib soll auferstehen und in einem materiellen Himmel wohnen.“ Vgl. darüber auch Ludwig Büchner, Das zukünftige Leben und die moderne Wissenschaft (Leipzig 1889), Lester Ward: Causes of Belief in Immortality („The Forum“, Vol. VIII, Sept. 1889), Paul Carus, The Soul of Man, An Investigation oft the Facts of physiological and experimental Psychology (Chicago 1891). Carus weist sehr treffend auf die Analogie zwischen den älteren und neueren Vorstellungen über Licht und über Seele hin. Wie man früher die leuchtende Flamme durch einen besonderen Feuerstoff, das Phlogiston, erklärte, so die denkende Seele durch eine besondere gasförmige Seelensubstanz. Jetzt wissen wir, dass das Flammenlicht eine Summe von elektrischen Aether-Schwingungen ist, und die Seele eine Summe von Plasma-Bewegungen in den Ganglienzellen. Dieser wissenschaftlichen Auffassung gegenüber besitzt die Unsterblichkeitslehre der scholastischen Psychologie ungefähr denselben Werth, wie die materialistischen Vorstellungen der Rothhäute über das jenseitige Leben, welchen Schiller in der Nadowessischen Todtenklage Ausdruck giebt. 

 

18) Papismus (S. 29, 34). Zu den merkwürdigsten und für die menschliche Vernunft beschämendsten Thatsachen des neunzehnten Jahrhunderts gehört der fortdauernde Einfluss jener mächtigen Hierarchie des Vaticans, welche wir kurz als Papismus bezeichnen. Bekanntlich steht dieses moderne Zerrbild der katholischen Religion zu der ursprünglichen reinen Form derselben in ausgesprochenem Gegensatze. Die Gelübde der Entsagung und Nächstenliebe, der Armuth und Keuschheit sind längst in ihr Gegentheil verkehrt. Die ethischen Segnungen des reinen Christenthums, dessen einzige feste Basis das Evangelium des Neuen Testaments bildet, sind durch den Papismus zum Fluche der Culturvölker geworden. Nichts ist beschämender und unheilvoller für das neu gegründete deutsche Kaiserreich, als dass schon 20 Jahre nach seiner Gründung die Minorität des ultramontanen Centrums einen bestimmenden Einfluss auf dessen Geschicke gewonnen hat. Eine kurzsichtige Regierung und ein zerklüfteter, von Partei-Interessen verblendeter Reichstag buhlen um seine Gunst. Die Religion dient diesem Centrum nur als Deckmantel für politische Zwecke; aber durch die Vollkommenheit der hierarchischen Organisation und den Unverstand der blinden gehorsamen Massen wird der Papismus selbst heute noch zu einer furchtbaren Macht. 

 

19) Monistische Ethik (S. 28, 30). Alle Ethik, sowohl die theoretische als die praktische Sittenlehre, steht als „Normwissenschaft“ in unmittelbarem Zusammenhange mit der Weltanschauung und demnach auch mit der Religion. Diesen Grundsatz halte ich für sehr wichtig und habe ihn in einem Aufsatze über „Ethik und Weltanschauung“ gegenüber der in Berlin gegründeten „Deutschen Gesellschaft für ethische Cultur“ vertreten; diese letztere will die Ethik lehren und fördern, ohne die Weltanschauung und Religion zu berühren. (Vergl. darüber die Wochenschrift: Die Zukunft, herausgegeben von Maximilian Harden, Berlin 1892, Nr. 5 - 7). Ebenso wie ich für die gesammte Wissenschaft die monistische Basis allein als vernünftige anerkenne, ebenso verlange ich dieselbe auch für die Ethik. Vergl. hierüber vor Allem die ethischen Schriften von Herbert Spencer und B. von Carneri, besonders dessen vortreffliche neueste Schrift „Der moderne Mensch“ (Bonn 1891); Sittlichkeit und Darwinismus (1871); Entwicklung und Glückseligkeit(1886). Vergl. ferner die sechs ausgezeichneten Vorträge von Benjamin Vetter: „Die moderne Weltanschauung und der Mensch“ (II. Aufl. Jena 1896); Wilhelm Strecker, Welt und Menschheit (Leipzig 1892); Harald Höffding, Die Grundlage der humanen Ethik (Bonn 1880), sowie das grosse Werk von Wilhelm Wundt: Ethik, eine Untersuchung der Thatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens (Stuttgart 1892, II. Aufl.). 

 

20) Homotheismus (S. 33). Alle die mannichfaltigen Vorstellungen des religiösen Glaubens, welche dem persönlichen Gotte rein menschliche Eigenschaften zuschreiben, lassen sich unter dem Begriffe des Homotheismus (oder „Anthropotheismus“) zusammenfassen. Wie verschieden auch diese anthropomorphen Vorstellungen sich in den dualistischen und pluralistischen Religionen gestaltet haben, so bleibt doch allen gemeinsam die unwürdige Auffassung, dass Gott (Theos) dem Menschen (Homo) ähnlich und gleichartig (homotyp) organisiert ist. Im Gebiete der Dichtung sind solche Personifikationen ebenso beliebt als erlaubt. Im Gebiete der Wissenschaft sind sie durchaus unzulässig; sie sind doppelt verwerflich, seitdem wir wissen, dass der Mensch erst in später Tertiärzeit aus pithecoiden Säugethieren sich entwickelt hat. Jedes religiöse Dogma, welches Gott als einen „Geist“ in Menschengestalt darstellt, erniedrigt denselben zu einem „gasförmigen Wirbelthier“ (Generelle Morphologie 1866, Cap. 80: Gott in der Natur). Der Begriff „Homotheismus“ ist doppelsinnig und etymologisch bedenklich, aber praktischer als der schleppende Ausdruck „Anthropotheismus“. 

 

21) Monistische Religion (S. 36). Unter den zahlreichen Versuchen, welche im Laufe der letzten dreissig Jahre gemacht wurden, die Religion auf Grundlage der fortgeschrittenen Naturerkenntniß in monistischem Sinne zu reformiren, bleibt weitaus der bedeutendste das epochemachende Werk von David Friedrich Strauss, Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß. XI. Aufl., Bonn 1881, (Gesammelte Schriften, 12 Bände 1878). Vergl. ferner M. J. Savage, Die Religion im Lichte der Darwinschen Lehre (Deutsch von R. Schramm, Domprediger in Bremen; Leipzig 1886). – John William Draper, Geschichte der Conflicte zwischen Religion und Wissenschaft (Leipzig 1875). – Carl Friedrich Retzer, Die naturwissenschaftliche Weltanschauung und ihre Ideale, ein Ersatz für das religiöse Dogma (Leipzig 1890). – R. Koch, Natur- und Menschengeist im Lichte der Entwicklungslehre (Berlin 1891). – Ueber die Phylogenie der Religion vergl. das Werk von U. Van Ende : Histoire naturelle de la Croyance (Paris 1887). – Eine sehr scharfe und treffende „kritische Untersuchung des jüdisch-christlichen Religions-Gebäudes, auf Grund der Bibelforschung“, giebt die geistreiche Schrift von Saladin (– Stewart Ross in London –): „Jehova's Gesammelte Werke“ (Schaumburg, Zürich 1897). 

 

22) Die freie Lehre (S. 36). Das Jubiläum der naturforschenden Gesellschaft des Osterlandes wurde am 9. October 1892 in Altenburg gefeiert, während gleichzeitig in Weimar das Grossherzogliche Fürstenpaar die glänzende Feier seiner goldenen Hochzeit beging. Der Grossherzog Carl Alexander hat während einer reichgesegneten fünfundvierzigjährigen Regierung sich stets als hervorragender Förderer der Wissenschaft und Kunst bewährt; als Rector Magnificentissimus unserer Thüringer Landes-Universität Jena hat er deren heiligstes Palladium, das Recht der freien Wahrheitsforschung und der freien Wahrheitslehre, stets mit seinem fürstlichen Schutze gedeckt. Ohne dieses kostbare Recht giebt es keine wahre Wissenschaft.