BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Friedrich Hölderlin

1770 - 1843

 

Gedichte

in chronologischer Folge

 

1799

 

Textgrundlage:

Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. 1, Gedichte bis 1800

Hrsg. von Friedrich Beißner, Stuttgart: Cotta, 1953

 

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Abendphantasie

 

Vor seiner Hütte ruhig im Schatten sizt

Der Pflüger, dem Genügsamen raucht sein Heerd.

Gastfreundlich tönt dem Wanderer im

Friedlichen Dorfe die Abendgloke.

 

Wohl kehren izt die Schiffer zum Hafen auch,

In fernen Städten, fröhlich verrauscht des Markts

Geschäfft'ger Lärm; in stiller Laube

Glänzt das gesellige Mahl den Freunden.

 

Wohin denn ich? Es leben die Sterblichen

Von Lohn und Arbeit; wechselnd in Müh' und Ruh'

Ist alles freudig; warum schläft denn

Nimmer nur mir in der Brust der Stachel?

 

Am Abendhimmel blühet ein Frühling auf;

Unzählig blühn die Rosen und ruhig scheint

Die goldne Welt; o dorthin nimmt mich

Purpurne Wolken! und möge droben

 

In Licht und Luft zerrinnen mir Lieb' und Laid! –

Doch, wie verscheucht von thöriger Bitte, flieht

Der Zauber; dunkel wirds und einsam

Unter dem Himmel, wie immer, bin ich –

 

Komm du nun, sanfter Schlummer! zu viel begehrt

Das Herz; doch endlich, Jugend! verglühst du ja,

Du ruhelose, träumerische!

Friedlich und heiter ist dann das Alter.