BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Hermann Kurz

1813 - 1873

 

Zur Geschichte

des Romans Simplicissimus

und seines Verfassers

 

1865

 

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{3178b}

2.

Die Urschrift.

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Jetzt also fragt es sich: welches ist die Originalausgabe, und welches ist der Nachdruck? {3179a}

Wenn man A und B vor sich hinlegt und nach Titel und Kupfer vergleicht, so wird man nicht lang' anstehen auf diese Frage die entschiedenste Antwort zu geben. Ein schäbiger Nachdrucker, wird man da auf den ersten Anblick sagen müssen, hat das (so ganz in der Art jener Zeit zugleich abgeschmackte und dennoch vom Künstler mit Geist behandelte) allegorische Bild durch einen schlechten Nachstich verhunzt, und sein Publicum auch noch um den so beliebten Rothdruck des Titels betrogen: schon darum muß B das rechte Kind und A der Bastard seyn. Hiezu kam, auf dem betreffenden Stande der Forschung – neben einem zweiten, gleichfalls äußerlichen Grunde, den wir sofort anführen werden – ein dritter, dem Titelinhalt entnommener und beinahe zwingender Grund. Schon Koch, Jördens und Ebert hatten, eben der Aussage der Titel zufolge, B für die erste und A für die zweite Ausgabe angesehen. Nun aber erklärte Holland (dessen Bezeichnungen A, B u.s.w. von den nachfolgenden Herausgebern beibehalten worden sind) A für die frühere, ohne sich über sein Verfahren auszusprechen. Hiegegen machte Keller mit Recht geltend daß eine Ausgabe die sich selbst als „neu eingerichtet“ und „vielverbessert“ einführe, nicht die erste seyn könne, vermied jedoch auch den Irrthum jener früheren Literaturhistoriker, einfach die beiden Ausgaben für eine erste und zweite zu halten, und erkannte daß eine davon der Nachdruck seyn müsse. Da nun A nach eigenem Bekenntniß nicht die erste ist, so blieb für den Verdacht kaum noch eine Wahl.

Anders freilich gestaltet sich die Frage durch die Wahrnehmung daß die Ausgabe D, an deren Echtheit niemand zweifelt, nicht auf B, sondern auf A gebaut ist, und das so ganz und gar, daß Keller vermuthet: D sey aus einem Exemplar von A abgedruckt, in welches nur Zusätze eingeschoben seyen. Hieraus zieht Heinrich Kurz, sicherlich ebenfalls mit Recht, den Schluß: wenn D wirklich vom Verfasser selbst besorgt sey, so wäre es unbegreiflich daß dieser der neuen Ausgabe einen Nachdruck statt der ursprünglichen Edition zum Grunde gelegt hätte. Nun ist aber die Echtheit von D bloß mit Beschränkung auf den Verleger unbestritten. Die Ausgabe wimmelt nämlich von Druckfehlern und Nachlässigkeiten, die gereimten Capitelüberschriften statt der früheren schlichtprosaischen sind, für unsern Geschmack, just kein Fortschritt, und die Zusätze tragen auch nicht gerade alle den Stempel absoluter Nothwendigkeit: daher Keller die Besorgung der Ausgabe durch den Verfasser bezweifelte, und die Erweiterungen und Abänderungen diesem nur äußerlich aufgedrängt glaubte, als Einschiebsel nämlich, die der Buchhändler machte, „nur um sagen zu können er habe etwas neues.“ Daß aber dieser den Nachdruck, der ja keine Textesabweichungen enthält, zu Grunde legte, schien immerhin etwas weniger undenkbar zu seyn, zumal die Bevorzugung der stärkeren Flexionsformen alsdann noch obendrein von Umsicht zeugte. Eine weitere Umsicht von gleicher Art konnte in der Wahl des Bildes erkannt werden: denn das Titelkupfer der Ausgabe D ist keineswegs, wie der Text, von A entnommen, sondern von B, und zwar nicht etwa so daß nur ein gelungener Nachstich vorläge, sondern so daß zu B und D eine und dieselbe Kupferplatte benützt worden ist. 1) Hiedurch schien von der Echtheit der Ausgabe D ein Abglanz auf B zurückzufallen, und dieß ist der zweite vorhin angedeutete Grund der bei Keller zu Gunsten von B entscheiden half. Ihm mußte denn auch die Entlehnung des Kupfers ganz natürlich vorkommen. Von Heinr. Kurz jedoch, der B für unecht erklärt, sollte man erwarten daß er über die Gemeinsamkeit des Kupfers in der echten Ausgabe D und bei der Nachdrucksfamilie BC verwundert wäre: er scheint aber diesen Punkt übersehen zu haben, und zwar wohl darum weil ihm, wie er bemerkt, kein Exemplar von B zu Gesicht gekommen war. Der Umstand ist in der That auch auffallend genug, mag indessen vorderhand hier beruhen, da wir ihn später an seinem Ort wieder aufnehmen werden.

So muß denn in der Streitfrage zwischen A und B die Stellung des Verfassers zu D den Ausschlag geben. Die Vorerinnerung dieser Ausgabe nun verräth, wie die ausgehobenen Stellen zeigen, das individuelle Gepräge Grimmelshausens, und muß von ihm selbst geschrieben seyn. Sodann ist es nicht wahrscheinlich daß der noch lebende Verfasser den Verleger willkürlich mit seinem Text schalten ließ, selbst um den Preis von Verbesserungen; ja nicht einmal sprachlich, denn während die eingerissene Sprachverwilderung die Schriftsteller unsicher machte, zeigt Grimmelshausen auch in dieser Hinsicht so feste Grundsätze 2), daß er schwerlich das Heft aus den Händen gab. Steht er aber hinter dem Text von D, nach Inhalt und Sprache, so ist es wohl am wahrscheinlichsten daß die starken Formen von Anfang an ihm selbst gehören, ihm der im Spessart und Schwarzwald wurzelt, sich mit dem Volksmund aller vaterländischen Gaue berührt hat, und daraus die Bodenkraft seiner Sprache schöpft. Aber auch die Textzusätze, obwohl sie von ungleichem Werth sind, zeigen eine Triebkraft {3179b}die von innen heraus schaffend im Text waltet, und nur vom Verfasser selbst ausgehen kann. Auch wo man über die Zweckmäßigkeit der Neuerung streiten mag, ist das Neue doch nirgends aufgeflickt, sondern immer naturmäßig aus dem alten Körper, aus seinem Fleisch und Bein herausgewachsen. Besonders die kleinen Pinselstriche, die oft nur eine etwas sattere Farbe geben, sind meist von der Art daß ihr Bedürfniß bloß vom Verfasser selbst gefühlt worden seyn kann; der Leser hätte sie nicht vermißt, und doch, so wie sie einmal dastehen, läßt er sie sich gern gefallen. Aber auch an größeren Stellen glauben wir die echte Fährte des Verfassers zu erkennen, und vornehmlich an folgender. Das erste der Mummelsee-Capitel (Simpl. B. V, C. 10) berichtet die Sagen die das Volk von diesem wunderbaren See erzählt. In der neuen Ausgabe nun ist zu den bis dahin gesammelten eine neue Sage gekommen, größeren Umfangs und eigenthümlicheren Inhalts, deren Aufnahme so recht augenscheinlich zeigt wie der Dichter in seine (zwar nicht angeborne) Heimath sich eingelebt hatte, und das Anliegen empfand keine ihrer Ueberlieferungen verloren gehen zu lassen. Da aber so alles zusammenstimmt als Bearbeiter dieser Ausgabe den Verfasser selbst zu kennzeichnen, so werden wir eben die Inhaltsreime dem Zeitgeschmack und die Drucksünden der Entfernung des Verfassers vom Druckort zuzuschreiben haben.

Ist nun D von Grimmelshausen selbst besorgt, so muß man die ihr zu Grunde liegende A mit Heinr. Kurz für die echte der beiden Ausgaben von 1669 erklären. Zugleich bleibt es dabei daß sie, laut eigener Aussage, nicht die erste Edition des Simplicissimus ist. Indessen nicht bloß A, auch B weist mit ihrem Titel auf eine frühere hin; denn ein Simplicissimus Teutsch gibt sich offenbar nicht als den ersten dieses Namens, sondern reagirt vornehmlich gegen einen etwas anders betitelten Simplicissimus. der vor ihm vorhanden war. Ferner beweisen die Druckfehler welche A und B trotz ihrer sonstigen Gegensätzlichkeit gemein haben, daß beide aus einer gemeinschaftlichen Editio princeps, welche die gleichen Druckfehler hatte, abgedruckt sind. Somit erhalten wir, statt der bisher angenommenen Reihefolge AB oder BA, die nachstehende, wie sie dem natürlichen Lauf der Dinge gemäß gedacht werden muß: A1 oder Aa Originalauflage, B Nachdruck, A2 oder Ab (bisherige A) zur Bekämpfung des Nachdrucks veranstaltete zweite rechtmäßige Auflage.

Dieses Ergebniß der Untersuchung, das sich durch sich selbst rechtfertigt, wird durch eine den letzten Zweifel hebende bibliographische Verzeichnung unterstützt. Blankenburg nämlich, ein verdienter Schriftsteller und Literarhistoriker des vorigen Jahrhunderts 3), hat die durch die Untersuchung geforderte Ausgabe Aa gekannt und unter folgendem Titel aufgeführt: „Der abentheuerliche Simplicius Simplicissimus, Nürnberg 1669. 5 Bücher“, wobei er noch einer „Fortsetzung, ebend. 1671“, also der Ausgabe D, erwähnt. Der Zusatz „5 Bücher“ beweist aufs deutlichste daß er oder der Gewährsmann, den er glaubwürdig fand, die Ausgabe vor Augen gehabt hat. Blankenburg selbst besaß eine Sammlung von 6000 Bänden, die ihm verbrannte, und verschaffte sich nachher abermals eine schöne Bibliothek. Mag nun aber das verschwundene Buch je wieder zum Vorschein kommen oder nicht, jedenfalls haben wir in dieser Angabe ein zuverlässiges Zeugniß daß es eine Nürnberger Edition von 1669 gegeben hat.

Bis jetzt ist dieser Ausgabe, welche sowohl Keller als Heinr. Kurz in ihren Verzeichnissen ausführen, wenig Beachtung geschenkt worden, und von Seiten der Textkritik vermuthlich mit allem Recht. Der Text von Ab, stimmt ja, wie Heinr. Kurz bei diesem Anlaß wiederholt bestätigt, mit dem Nachdruck B, also zugleich mit der ursprünglichen, bis jetzt noch nicht wieder aufgefundenen Edition im allgemeinen vollkommen überein. Man könnte hiernach sogar vermuthen daß, nachdem Aa, wie wir vom Verfasser und Verleger wissen, in Folge des Nachdrucks verunglückt ist, Ab keine eigentlich neue Auflage, sondern (nach heutiger Art zu reden) nur eine mit neuem Titel versehene neue Ausgabe der Originalauflage sey; aber die Neuerung der Capitelüberschriften und Columnentitel, die sich der Nachdruck sicherlich nicht hätte entgehen lassen, wenn sie in seiner Vorlage vorhanden gewesen wären (wie sie denn auch C, die neue Auflage des Nachdrucks, sofort aus Ab aufnahm), beweist daß der Verleger wirklich die Kosten eines neuen Drucks aufgewendet hat. Außerdem müssen jedoch Aa und Ab einander wie ein Ei dem andern gleichen, besonders auch in den Sprachformen, in welchen Ab von B abweicht, und soweit kann uns also eine Wiederbringung der Originalauflage allerdings gleichgültig seyn.

Aber es gibt noch andere Gründe die uns wünschen lassen derselben habhaft zu werden: denn sie könnte uns auf eine und die andere Frage, die sich der Leser über den bisherigen Darlegungen wohl von selbst gestellt haben wird, die Antwort wenigstens nicht ganz und gar schuldig bleiben. {3180a}

Versuchen wir inzwischen zu diesem bibliographischen Rumpfe die freilich noch viel mangelhafter zu Gebote stehenden Lebensspuren des Verfassers und Verlegers herbeizuziehen, und aus dem vereinigten Stoff ein Gesammtbild oder wenigstens den Schattenriß eines solchen zu entwerfen.

 

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1) Für diese Ausgabe bürgt das Zeugniß zweier so gewissenhaften und präcisen Beschreiber wie Keller und Heinr. Kurz. 

2) Siehe den „Teutschen Michel“ 

3) Friedrichs von Blankenburg Litterarische Zusätze zu Johann George Sulzers allgemeine Theorie der schönen Künste, III 76b. Leipzig 1798.