BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Hermann Kurz

1813 - 1873

 

Zur Geschichte

des Romans Simplicissimus

und seines Verfassers

 

1865

 

______________________________________________________________________________

 

 

[3161a]

Zur Geschichte des Romans Simplicissimus

und seines Verfassers.

Von Hermann Kurz in Tübingen.

__________________

 

Den Werth des Simplicissimus und der andern Schriften von Grimmelshausen, das Fortleben dieses Romans in unserer Literatur, die Freude die Lessing an ihm hatte, seine Auffrischung durch mehr oder weniger unglückliche Bearbeiter, die endliche Veranstaltung sachgemäß treuer Ausgaben der Simplicianischen Schriften, die derselben vorhergegangene Wiederentdeckung des Verfassers, und besonders die Verdienste die sich W. A. Passow um die Feststellung und Erweiterung dieses Fundes erworben hat – das alles dürfen wir hier als bekannt voraussetzen. Wenn wir nun in die Geschichte dieses Romans und seines Verfassers einiges weitere Licht zu bringen versuchen und zu diesem Behuf mit einer etwas ernsthaften Musterung der ältesten Drucke beginnen, so ist dieß gleich wohl nicht so gemeint, als ob hiedurch die Textkritik und der Werth der kritischen Ausgaben, an welchen die Nation sich erfreuen darf, irgendwie berührt würde. Der Grund wird sich dem Leser sofort von selbst ergeben. Auch das müssen wir gleich hier vorausschicken, daß wir keine neuen Materialien zu den Acten bringen. Die Aufschlüsse die wir dem Gegenstand abgewonnen zu haben glauben, sind rein aus dem vorhandenen Inventar geschöpft. Wir durften es daher nicht verschmähen bekanntes in die Verhandlung hereinzuziehen, denn unter einer neuen Beleuchtung kann auch das Bekannte neu erscheinen. Der Gang der Untersuchung ist nicht so unbeschwerlich wie wir wünschten. Um nämlich zu einer klaren Uebersicht zu gelangen, sind wir genöthigt zunächst die alten Ausgaben in ihrem Verhältniß zu einander bibliographisch bis zum Ursprung rückwärts zu verfolgen, um dann erst {3161b} synthetisch und, soviel möglich, biographisch vorwärts schreiten zu können. Für diesen unvermeidlichen Doppelgang müssen wir die Nachsicht und das Einsehen des Lesers in Anspruch nehmen. Auch können wir ihm Kleinigkeiten, Kleinlichkeiten wenn man will, nicht ganz ersparen. Diese kleineren Züge bezeichnen die geistige Stufe der Nation, um deren Gunst sich die Büchertitel die wir aufführen werden, bewarben sie gehören zu der Geschichte eines Buchs, das, wie unseren Vorfahren vor zweihundert Jahren, so auch uns immer neue Theilnahme abfordert, und gewähren einen Einblick in literarisch-buchhändlerische Zustände, die, obgleich nicht allzu weit zurückliegend, doch gänzlich unbekannt und vergessen sind. Jedenfalls, schmeicheln wir uns, wird der Leser das freilich wenige was wir zur Lebensgeschichte des Verfassers beibringen, nicht unwillkommen heißen. Vielleicht dürfte eine sehr genaue Durchsicht einer jämmtlichen Schriften das Bild noch um einige Striche bereichern, und hier ist auch das Kleinste der sorgsamsten Beachtung werth. Je mehr man sich mit Grimmelshausen beschäftigt, desto mehr wird man sich gedrungen fühlen ihn für einen der bedeutendsten deutschen Schriftsteller bis auf die heutige Zeit herab zu erklären. Seine Gestaltungsgabe ist unvergleichlich, und von einer stets die Augen offenhaltenden Beobachtung unterstützt die Assimilationskraft; womit er den nächsten besten Stoff, sey es aus dem umgebenden Leben, sey es aus einer ihm eben in die Hände gefallenen auswärtigen Novelle, in seine Darstellung verarbeitet, erweckt wegen ihrer Leichtigkeit auch da Erstaunen wo die Verschmelzung nicht so ganz organisch wird; eine derb realistische Auffassung steht mit einem romantisch-phantastischen Flug in der glücklichsten Mischung, die auch seiner Allegorie zu statten kommt; sein mit den härtesten Geschicken spielender Humor erinnert an die unter Beulen und Wunden lachenden Helden des Rosengartens und anderer deutschen Heldensagen, und ein freier Geist ragt hoch aus den Banden seines noch immer mit der alten Dumpfheit kämpfenden Jahrhunderts empor. Seine Fehler gehören seiner Zeit, seine Tugenden ihm ganz allein. Noch heute fühlt man in seinen Schriften die befreiende Wirkung die er auf die Zeitgenossen ausgeübt haben muß. Der Poet wird unbeirrt, durch seine Rohheiten, stets frische Kraft aus ihm schöpfen, und der Culturhistoriker wird nur durch ihn das deutsche Leben des 17. Jahrhunderts ganz anschauend verstehen.