BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Hermann Kurz

1813 - 1873

 

Die beiden Tubus

 

1859

 

Textgrundlage:

Hermann Kurz, Erzählungen

Band 2. Neun Bücher Denk- und Glaubwürdigkeiten

Stuttgart: Franckh'sche Verlagshandlung, 1859

Faksimile: GoogleBook, S. 126 - 293

 

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Zwischen dem sechsten

und siebenten Buch.

Ein Roman. 1)

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Es war ein wunderschöner Aprilmorgen.

Kein Wölkchen ließ sich am ultramarinblauen Himmel blicken.

Ein leichter frischer Morgenwind hauchte zephyrisch am Gebirge hin, und die erwachende Natur dehnte gleichsam alle Glieder aus, um neubelebt und gestärkt an ihr Tagewerk zu gehen.

Die beneidenswerthe Mission, diese heitere Stimmung in einem Morgenliede auszusprechen, war auf dem Schauplatze, den wir nun sogleich eröffnen werden, einem kleinen Naturdichter zugefallen, nämlich einer frühen Lerche, die sich aus der Ebene einige tausend Fuß hoch eigens zu der Bergplatte in der Region des Steingerölls heraufbemüht hatte, um dem Pfarrer von A...berg eine musikalische Matinee zu geben.

Dieser jedoch, obwohl die freundlichste Menschenseele von der Welt, hatte diesmal für seinen Lieblingssänger, seinen Haus- und Hoflyriker, kein Ohr. Und doch stand er am Fenster, und die arme Lerche, das genus irritabile vatum repräsentirend, schrie ihm in ihrem durch Empfindlichkeit gesteigerten Eifer beide Ohren so voll, daß er hätte taub werden sollen. Allein dieses war er bereits, nicht im buchstäblichen Sinn des Worts, sondern im uneigentlichen. Er gab sich nämlich, gleichfalls in großem Eifer, einer Beschäftigung hin, die ihn ganz Auge sein ließ, so daß er vor lauter Sehen gar nicht zum Hören kam. Die Beschäftigung des Pfarrers von A...berg war die gewohnte, wir möchten sagen obligate, der er seit zwanzig Jahren jeden Morgen oblag. Er sah nämlich spazieren, indem er einen langen Tubus vor das Auge hielt und über die Ferne hin und her bewegte. Derselbe war weder ein Dollond noch ein Frauenhofer, sondern ein selbstverfertigtes Rohr aus steifem Papier, worin er die teleskopischen Gläser nach freundschaftlicher Anleitung des berühmten Mechanikus Butzengeiger in T..., der sein Vetter war, eingesetzt hatte. Dieses Sparfernrohr bildete neben seinem Sohne Wilhelm, von dessen Entwicklung er sich Wunderdinge versprach, seinen größten Stolz und, wie schon gesagt, seine tägliche Morgenergötzlichkeit. Es trug wohl zwanzig Stunden weit, und ließ in der Landschaft die wellenförmigen Hügelreihen, die dichtgesäeten Dörfer mit den blinkenden Kirchenthürmen, in den Bergen aber, die sich links und rechts in langer Front an den hohen Standpunkt unseres Beobachters anschloßen, die verstecktesten Thaleinschnitte, die abgelegensten Felsenzacken und die verborgensten Ruinen sehr deutlich vor das Auge treten.

Um das Bild, das wir dem Leser aufgerollt haben, flüchtig zu ergänzen, fügen wir nur noch bei, daß das Gebirgsdörfchen, dessen Pfarrer wir mit dem Tubus in den Händen am Fenster erblicken, eben so reich an landschaftlichen Schönheiten als arm an den materiellen Erfordernissen des Lebens ist. Beide Ausstattungen ergeben sich jedoch nach ihren verschiedenen Seiten hin aus der bereits angedeuteten Lage dieses ländlichen Hochsitzes von selbst, daher wir auf ihre umständlichere Ausmalung verzichten zu können glauben. Doch wird der wasserkarge Ziehbrunnen unter dem Fenster festzuhalten sein, benebst dem bäuerlichen Liebespaare, das, im Schöpfen begriffen, unter höhnisch verneinendem Wortwechsel eine rauhe Werbung und ein noch abstoßender eingekleidetes Ja verhandelt. Zwar bedürfen wir des Brunnens in der Folge nicht weiter, und „Bub“ und „Mädle“ sind uns noch überflüssiger, weil der kleine Roman, den wir hier beginnen, ausschließlich in den „besseren Classen“ spielt; wir wissen aber, was wir einem gebildeten Publicum der Gegenwart schuldig sind, und haben es daher nur um so mehr für unsere Pflicht erachtet, wenigstens den Anfang unseres Gemäldes mit einigen volksthümlichen Pinselstrichen abzurunden.

Was jedoch das bewaffnete Auge des Pfarrers von A...berg so gänzlich gefangen nahm und ihn selbst gleichsam zur Statue entgeisterte, war nicht der längst gewohnte Anblick der Morgenlandschaft, obwohl er sich demselben stets mit Liebe hinzugeben pflegte. Es war etwas Neues, Ueberraschendes, und, wie wir wohl vorausschicken mögen, eine verhängnißvolle Epoche in seinem Leben heraufzuführen Bestimmtes.

Während er nämlich von Morgen gegen Abend gerichtet zwischen den am Fuße des Gebirges nach dem untern Lande hinziehenden Hügeln, die schon vom jungen Grün des Lenzes überflogen glänzten, ein sonderbar schiefes Thürmchen aufsuchte, nach welchem er jeden Morgen theilnehmend sah, ob es noch nicht eingefallen sei, trat eine Erscheinung in sein Sehfeld, die ihn beinahe erschreckt hätte, bald aber mit einer fast närrischen Freude erfüllte.

Er hatte bei seinen bisherigen Beobachtungen ein kleines Haus übersehen, dessen Obertheil in einiger Entfernung von dem wehmüthig geneigten Thürmchen über eine von Bäumen halb versteckte Mauer hervorragte. Erst heute machte er dessen Entdeckung. Aber eine noch größere war ihm vorbehalten: er entdeckte nämlich am Fenster des Häuschens einen Mann, der genau wie er selbst ein Fernrohr handhabte und, so schien es ihm wenigstens, gerade jetzt seine eigene Person recognoscirte. Er glaubte in einen entfernten Spiegel zu blicken oder gar einen Doppelgänger wahrzunehmen. Bei näherer Untersuchung jedoch fand er, daß dieses „zweite Gesicht“, das ihm aufgestoßen, in Wirklichkeit ein zweites war, das heißt ein anderes. Wenn ihn nämlich sein Butzengeiger, wie er das Instrument zu nennen pflegte, nicht trog, so erkannte er ziemlich deutlich eine schwärzliche Complexion und einen eckigen Knochenbau mit harten düstern Zügen, während er selbst blond und glatt wie Hamlet, dabei aber freundlich und gemüthlich wie der liebe Vollmond aussah.

Kein Zweifel, das Wunder löste sich in Natur, der Doppelgänger sich in einen Kunst- oder vielmehr Liebhabereigenossen auf. Und dennoch blieb es wunderbar, daß diese verwandten Seelen, wer weiß nach wie langem unbewußten Umhersuchen, sich in so seltener, vielleicht noch nie dagewesener Weise begegnen und eine optische Schäferstunde feiern sollten! Indessen verschob der Pfarrer von A...berg das Nachdenken auf eine gelegenere Minute, da es ihm für den Augenblick vor Allem darum zu thun sein mußte, die so unerwartet gefundene teleskopische Freundschaft hand-, oder, wenn man will, augenfest zu machen und sich ihrer dauernd zu versichern. Er holte daher, den schwerfälligen Tubus für eine Weile einhändig regierend und vor Mühe keuchend, sein Taschentuch aus dem Schlafrocke hervor und schwenkte es wiederholt, wobei es ihm nicht wenig Schweiß kostete, den Gegenstand seiner Beobachtung vor dem Glase zu behalten, oder, wenn er ihn von Zeit zu Zeit verlor, schnell wieder vor dasselbe zurückzuführen.

Doch aller seiner Bemühungen schien ein neidisches Geschick spotten zu wollen, denn der Unbekannte gab kein Zeichen der Erkennung, obgleich in seiner Stellung und der Richtung seines Fernrohrs keine Veränderung sichtbar geworden war. Sein Entdecker knieete auf den Boden, legte die angeschlagene Augenwaffe auf das Fenstergesims und begann das Taschentuch mit Macht zu schwingen; da er aber bedachte, daß durch dieses Verfahren gerade das breiteste Object des Gesehenwerdenkönnens, nämlich sein wohlgerundetes Selbst, dem Bereiche einer gegenseitigen Wiederentdeckung entrückt sei, so band er, mit eben so viel Kunst als Anstrengung, die Signalflagge um den unausgesetzt in Arbeit begriffenen Tubus fest, ließ das freie Ende flattern und nahm seinen früheren Standpunkt in dem Fenster, das er vollkommen ausfüllte, wieder ein.

Das Fernrohr jetzt mit beiden Händen, wie vorher, zu bequemeren Evolutionen beherrschend, schüttelte er es von Zeit zu Zeit, um die daran befestigte Flagge tanzen zu lassen. Allein dies war gleichfalls ein mißliches Manöver, worin er jeden Augenblick inne halten mußte, um den durch die Schwankungen gestörten Gesichtswinkel herzustellen, ehe die in demselben befindliche Erscheinung unwiederbringlich verschwinden konnte. Da kam ihm endlich der steifer werdende Morgenwind zu Hilfe und blähte das Taschentuch auf, so daß es lustig zu wehen und ordentlich zu rauschen begann. Der Pfarrer beugte sich jetzt mit dem beflaggten Tubus weit aus dem Fenster, um sich so bemerklich als möglich zu machen, und suchte seinen Doppelgänger gleichsam im Geist auf die Nase zu stoßen, die, weil dessen Sehrohr in die Höhe gerichtet war, ganz merklich unter demselben zum Vorschein kam.

Vergebens jedoch! Der Andere rührte sich nicht, und er hielt ihn nachgerade für einen Gliedermann, den irgend ein Spaßvogel aus unbekannter Absicht dort an's Fenster gestellt habe. Etwa gar um ihn selbst und seine unschuldige Liebhaberei, die man dort bemerkt haben mochte, zu parodiren? Dieser Gedanke, der nahezu an eine Regung von bösem Gewissen hinstreifte, fuhr unserem Beobachter einen Augenblick durch den Kopf; aber der Gedanke war zu wenig wahrscheinlich und der Pfarrer zu gutmüthig, als daß er bei ihm verweilt hätte. Auch unterbrach ihn ein plötzlicher Scenenwechsel auf dem Schauplatze seiner Forschungen; der Doppelgänger setzte das Fernrohr ab, zog sich zurück, und gleich darauf war das Fenster geschlossen. Er war also kein Gliedermann gewesen. Dafür war er aber jetzt weg, vielleicht auf Nimmerwiedersehen, und der Pfarrer von A...berg hatte Zeit und Mühe umsonst verschwendet.

„Reisen Sie glücklich nacher Asia und empfehlen Sie mich Ihrer Frau Gemahlin!“ sagte er ärgerlich hinter ihm drein. Dieses aus dem Leben gegriffene Citat wurzelte mit dem Ursprung seines Daseins im Complimentirbuch eines coulanten Posthalters der Umgegend. Derselbe hatte einst einen türkischen Gesandten, der, den nächsten Weg von Paris nach Konstantinopel über den Aalbuch einschlagend, bei ihm vorfuhr, Relais für seinen Wagen, für sich selbst aber, als Surrogat für den Scherbet, ein Glas Zuckerwasser zu nehmen, beim Wegfahren mit abgezogener seidener Zipfelmütze und unter einem tiefen Bückling die angeführten goldenen Beurlaubungsworte nachgerufen. Sie waren, von seinen Gästen verbreitet, nach und nach landläufig geworden, und wurden, wo nur „Geist, Gemüth und Publicität“ ihre Flügel regten, von allen geistreichen Leuten, mit anderem Wort also von allen „Honoratioren“, bei mehr oder weniger passenden Gelegenheiten unfehlbar angewendet.

Der Pfarrer hatte inzwischen eine vorübergehende gemäßigte Verzweiflung über den unbefriedigenden Ausgang seines Abenteuers bald verdaut, und stieg nun ziemlich selig zu seiner getreuen Gattin in das Wohnzimmer hinab, um derselben die unerhörte Ueberraschung, die ihm so eben geworden war, mitzutheilen.

Will man sich hier im Vorübergehen einen allgemeinen Begriff von den Zuständen des Pfarrhauses in A...berg bilden, so versetze man sich einfach in die Geschichte des Landpredigers von Wakefield, nur daß man sich Allerlei wegzudenken hat, zum Beispiel die beiden Mädchen mit ihren Liebhabern, den pedantischen Nestkegel, so wie auch den wackern musikalischen Vagabunden nebst seiner musterhaften Liebe, vor Allem aber den theologischen Tractat. Von Arbeiten letzterer Art war unser Pfarrer nun ganz und gar kein Freund, und schon bei der Wahl seiner magern Pfarrstelle hatte ihn neben dem Wunsche, die Erkorne seines Herzens schnell heirathen zu können, der weitere Lebensplan bestimmt, auf dem ersten besten Anfangsdienste das Ziel seiner Tage heranzusitzen und jedem Beförderungsanspruche zu entsagen, der ihn nur genöthigt haben würde, seine dogmatischen Bücher abzustäuben und sich als alter Knabe noch einmal zum Examen zu melden.

Dieser Lebensplan beruhte auf der breiten Grundlage eines ganz stattlichen Vermögens, das beide Eheleute zusammengebracht hatten und das ihnen ihr Gericht Kraut nicht bloß mit Liebe, sondern mit jedem beliebigen Genuß des Lebens zu würzen gestattete. Und zu all dem Behagen kam noch, daß der gefürchtete Oekonomiebeamte des Bezirks, der Cameralverwalter, der die Aufsicht über die öffentlichen Gebäude zu führen hatte, mit dem Pfarrer im dritten und mit der Pfarrerin sogar im zweiten Grade verwandt war, welches Verhältniß die angenehme Folge hatte, daß das Pfarrhaus von A...berg nicht nur unter den Pfarrhäusern des Landes als eines der schönsten gepriesen wurde, sondern auch mit Recht ein allerliebstes Häuschen hieß, in der dürftigsten Umgebung der artigste und comfortabelste Felsensitz für ein wohlhäbiges Paar, das Hände genug zur Verfügung hatte, um sich die Nützlichkeiten und Süßigkeiten einer wohlbestellten Haushaltung von allen Seiten die schroffen Bergwege heraustragen zu lassen.

Fällt hienach mit so manchen andern Vergleichungspunkten zwischen A...berg und Wakefield auch noch der der Armuth hinweg, so bleiben doch immerhin Mr. und Mrs. Primrose übrig, denn das waren die beiden liebenswürdigen Pfarrhälften durch und durch, ein wenig vielleicht schon darum, weil sie sich in ihrer Jugend mit Vorliebe in diese Rolle hineingelesen hatten. Ihr Wilhelm sodann, der ihnen Aeltester und Jüngster, Sohn und Tochter, nämlich das einzige Kind war, mochte den braven George und den bedächtigen Moses, ja gar die schwärmerische Olivia und die praktische Sophia alle in Einer Person vereinigen; doch ist uns zur Stunde seine nähere Bekanntschaft noch vorenthalten, da er sich auswärts in einer lateinischen Kostschule befindet.

Das Behagen, in welchem unsre Primrose's schwammen, theilte sich Allen mit, die sie berührten, und da sie sehr mittheilend waren, so erstreckten sich diese Berührungen in ziemlich weite Kreise. Ihre Gastfreundschaft war so groß, daß Niemand ihr steiles Schwalbennest unzugänglich fand, und die Gemeinde selbst, obgleich sie nicht erwarten durfte, einen Steinriegel in eine Kornkammer und Dornsträuche in Feigenbäume verwandelt zu sehen, befand sich doch wenigstens bei dem Wohlstand ihres Pfarrers weit besser, als wenn sie, wie es in ähnlicher Lage meist der Fall ist, zu ihrem eigenen Mangel an Wolle auch noch einen kahlen Hirten gehabt hätte.

Sonach, wenn der geneigte Leser den Pfarrer von A...berg vielleicht auf den ersten Anblick wegen seines Papierfernrohrs für einen armen Schlucker oder gar für einen Filz gehalten hat, so ist dies nur einer von den vielen Beweisen für die Wahrheit des Sprichworts, daß der Schein zu Zeiten trügt. Der Spartubus stellte bloß ein Stückchen Robinsonade im Studirzimmer, ein Symbol für das „Selbst ist der Mann“ und ein Füllhorn des aus der Unabhängigkeit der Selbstfabrication fließenden gesteigerten Genusses, zugleich aber auch eine Art Ablaß zur Abkaufung aller anderen Unbequemlichkeiten des Lebens vor. Da unter diesen der Anblick fremden Elends eine der störenderen ist, da ferner unserem Pfarrer seine Mittel gestatteten, solcher Störung vorzubeugen, da er endlich den Grundsatz, zu leben und leben zu lassen, rings umher an Arm und Reich bethätigte, so wird man der Versicherung, mit der wir sein Charakterbild abschließen, Glauben schenken, daß er einer der wenigen Menschen war, die keinen Feind haben.

Mit unbeschreiblicher Ueberraschung und grenzenlosem Vergnügen vernahm die Pfarrerin, was sich so eben zwischen Morgen und Abend zugetragen hatte. Als eine Frau, die eine Freude des Gatten wie ihre eigene Freude freute, interessirte sie sich höchlich für den unbekannten Seelenverwandten ihres Mannes und sprach mit Hochachtung und Freundschaft von ihm, jedoch nicht ohne zugleich ihrem Verdrusse Luft zu machen, daß der „dumme Kerl“, wie ihr im Eifer entfuhr, „keine Augen im Kopf gehabt“ habe. Sofort eröffnete sich eine lebhafte Berathung über die Fragen, wer derselbe sein möge, wo er wohne, und wie es komme, daß er dem regelmäßigsten aller Beobachter bisher entgangen sei. Die letztere Frage zerfiel wieder in mehrere Unterfragen: war der Fremde vielleicht erst seit gestern oder heute in der Gegend seßhaft, in der er sich hatte entdecken lassen? oder, mochte er nun ständig oder vorübergehend seinen Aufenthalt dort unten haben, entstammte seine heutige Recognoscirung bloß einer flüchtigen Laune oder einer soliden Gewohnheit? konnte man also darauf rechnen, ihm künftig abermals auf dem heutigen Wege zu begegnen, oder nicht? Oder aber, hatte er vielleicht schon längere Zeit, wohl gar Jahre lang, jeden Morgen und nur zu einer andern Stunde, als der Fernseher von A...berg, aus jenem Fenster heraufgeschaut? Denn „die Menschen lieben sich zu ungleichen Stunden“, sagt ein grundwahrer Spruch, der dadurch, daß er an jenem Tage noch nicht gedruckt war, gar nichts von seiner Wahrheit verliert.

Eine geheime Ahnung flüsterte der Pfarrerin zu, daß die letztere Hypothese die richtige sei, und mit gewohntem Scharfsinn machte sie ihren Mann auf die Fügung aufmerksam, durch welche ein Moment, das bis jetzt nur in der abstracten, sich noch nicht objectiv gewordenen Idee gelebt habe, in die von sich wissende und ihrer selbst gewisse Wirklichkeit umgeschlagen sei. Wenn sie sich zur Entwicklung ihrer Ansicht vielleicht auch nicht gerade unsrer streng wissenschaftlichen Kategorieen bediente, so hoffen wir doch den Sinn ihrer Worte annähernd genau wiedergegeben zu haben. Der Pfarrer hatte nämlich seine gewohnte Morgenandacht heute zur ungewohnten Zeit verrichtet, und zwar eine ganze Stunde später als sonst. Da die Ursache dieser Verspätung auch vom spitzfindigsten Leser wohl schwerlich errathen werden würde, so dürfte es nicht unpassend sein, einen kurzen Bericht darüber hier einzuflechten.

Das Pfarrhaus von A...berg hatte gestern die Ehre gehabt, den neuen Decan auf seiner ersten Parochialvisitationsrundreise zu bewirthen. Ein Wechsel im Amte des Obergeistlichen einer Diöcese war und ist für sämmtliche Pfarrhäuser derselben von höchster Wichtigkeit; denn kaum gibt es in der Welt ein diplomatischeres Verhältnis; als das zwischen diesem Vormann und seiner ehrwürdigen Schaar, die zugleich seine Pairs sind, ein Verhältniß, in welchem, wenn beiderseits ein harmonischer Gleichklang herrschen soll, er sich als Primus inter Pares accentuiren, von ihnen aber als inter Pares Primus accentuirt werden muß. Man urtheile hienach, wie schwierig es ist, dieses gegenseitige Modificationsthema durch die vielen, oft so unmerklich kleinen Nuancen und Coloraturen des persönlichen Verkehrs hindurch zu variiren, und wie entscheidend es wirkt, wenn man gleich bei dem ersten Zusammensein den richtigen Ton zu treffen und mit jener anmuthigen Leichtigkeit der Modulirung anzugeben versteht, die nur an einer einzigen Universität des protestantisch-gelehrten Europa erworben werden kann oder, damals wenigstens, erworben werden konnte.

Unser Pfarrer, dem außerordentlich viel daran lag, mit dem neuen Decan von Anfang an in dasselbe herzliche Einvernehmen zu kommen, worin er mit dessen Amtsvorgänger gestanden war, schrieb gleich nach Empfang der Ankündigung des Visitationsbesuches einen Brief an seinen Nachbar, den Pfarrer von Sch....ingen, von dem er wußte, daß er ein Jugendfreund der noch unbekannten Größe war, und lud ihn dringend ein, dem Erwarteten Gesellschaft zu leisten, mit dem Ersuchen, wo möglich etwas früher einzutreffen und ihm selbst über Charakter, Temperamentsqualitäten, Gemüthsneigungen, Angewöh­nungen, besonders jedoch über etwaige Eigenheiten des Fraglichen diensame Auskunft zu geben, oder, im Fall einer bedauerlichen Verhinderung, ihn über diese tusculanischen Quästionen mit Wendung des Boten schriftlich aufzuklären.

Der Abgesandte kam mit einem Briefe zurück, worin der Nachbar unter Entschuldigung, daß er durch Familienangelegenheiten abgehalten sei, an dem bestimmten Tage zu kommen, den gewünschten Bescheid ertheilte. Decanus, schrieb er, sei ein sehr humaner Mann, unter Umständen sogar ein cordiales, ja, wenn desipere in loco statthaft, ein kreuzfideles Haus. Besondere Kennzeichen wisse er Decano keine beizulegen, maßen Selbiger in Amtssachen mit Gewissenhaftigkeit facil, in allen andern Dingen aber absolut tractabel und demgemäß beim Tractament im eigentlichen Sinne des Worts, je nachdem Gott es beschieden, mit Wenigem und auch mit Vielem content sei. Uebrigens habe er allerdings eine individuelle Eigenheit, eine sehr sonderbare, jedoch eine solche, mit deren Hilfe man sein ganzes Herz erobern könne. Er putze nämlich für sein Leben gern Lichter. Könne man daher, was ja in Betracht der schlechten Wege leicht zu bewerkstelligen, Decanum über Nacht festhalten, und wolle man ihm Gelegenheit geben, Abends das Licht oder vielmehr die Lichter fleißig zu putzen, so werde er ganz in seinem Esse 2) sein.

Unser Pfarrer war nicht so einfältig, sich zum Opfer dieser plumpen Lüge zu machen, da er, wie alle Welt, seinen Amtsbruder von Sch....ingen als losen Vogel und Erzmystificator kannte. Er wunderte sich nur, daß dem versatilen Kopfe in der Geschwindigkeit nichts Besseres eingefallen sei. Aber gerade darum hieß er die Eulenspiegelei, von der er eine Probe halb und halb erwartet hatte, höchlich willkommen; denn sie bot ihm die gewünschte Form für die Begründung jener bereits bezeichneten höheren Umgangsweise, nämlich, in der Kunstsprache eines hierseits specisischen Esprit zu reden, einen ausgezeichnet „schlechten Witz“, dessen Schuld und etwaiger Stachel sich von selbst auf einen Andern ablud, und einen um so unschädlicheren, weil die jedenfalls lustige Lösung des Mißverständnisses nicht lang auf sich warten lassen konnte. Der Pfarrer ging also mit Vergnügen in die Falle. Er stellte sich, als ob er die Mystification von ganzem Herzen und von ganzer Seele glaubte, hielt es jedoch für gerathen, die Pfarrerin, deren er sich zu seiner Operation zu bedienen gedachte, nicht in die Tiefe der Verwicklung und auf den Boden seines Planes blicken zu lassen. Indem er ihr daher die theophrastische Charakteristik des Decans mittheilte, verschwieg er, daß der Urheber derselben ein Dutzfreund des Geschilderten sei, der sich etwas gegen Diesen erlauben konnte, und brachte so die sonst gescheide Frau dahin, daß sie seinen scheinbaren Glauben in Wirklichkeit theilte. Hiedurch gewann er einerseits, daß sie ihre Rolle, die nicht durch heimliche Zweifel oder gar Gewissensbisse beeinträchtigt sein durfte, mit natürlichster Unbefangenheit spielte, und andererseits hielt er sich selbst für alle Fälle einigermaßen rückenfrei.

Die Visitation ging zur Zufriedenheit beider Theile vorüber. Nachdem die geschäftliche Seite des Besuchs erledigt war, legte der Decan seine Amtsmiene ab, um der Frau Pfarrerin die Aufwartung zu machen. Trotz seiner Versicherung, daß er nur die Kirche und Schule, nicht aber die Küche zu visitiren gekommen sei, mußte er einem altehrwürdigen Brauch zu Folge ihre Einladung zu Tische annehmen, und wie er sich in der Erfüllung dieser amtlichen Nebenpflicht befunden, das würde von dem ganzen Amtsbezirke für eine müßige Frage erklärt worden sein. Mit Gewandtheit wurde sodann die Tafelzeit verlängert, bis man erklären konnte, daß es einem Morde gleich zu achten wäre, wenn man den verehrten Gast bei schon sinkendem Abend die halsbrechende Felsensteige hinabfahren ließe. Nach langer und lebhafter Weigerung mußte er sich endlich in das Unvermeidliche fügen, und der Anblick des damastenen Tischtuches, das einen Schluß auf comfortables Bettzeug gestattete, stellte ihm sein Schicksal als ein höchst erträgliches dar. Der Pfarrer schlug zur Ausfüllung der Zwischenzeit einen kleinen romantischen Spaziergang vor, und führte dann den Gast zum Abendimbiß zurück.

Der Decan starrte verwundert in das Lichtermeer, das ihn hier empfing. Die Pfarrerin hatte aber auch nicht bloß ihren eigenen Leuchterschatz, der nicht klein war, in voller Heerschau aufgestellt, sondern auch sämmtliche disponible Prachtstücke der Revierförsterin, ja selbst ein paar Antiquitäten von der Schulmeisterin – im Hause des Ortsvorstehers gab es nur autochthonische Ampeln – in's Feuer geführt. Zur Entfaltung aller dieser Schlachtreihen war es nöthig gewesen, mehrere Tische zusammenzurücken.

Der Decan unterdrückte ein Lächeln über die vermeintliche Geschmacklosigkeit, und man setzte sich. Während der Hauptschüsseln gönnte man ihm Ruhe; doch hatte er auch da schon in seinem angeblichen Lieblingsfache genug zu arbeiten, weil Niemand der Kerzen in den beiden größten, fast Candelabern zu vergleichenden Leuchtern, die vor seinem Platze standen, sich annahm, und er als Mann von Erziehung sie fort und fort allein bedienen mußte. Die kurzen, scharfen, sichern Bewegungen, womit er in dieser Verrichtung die Lichtputze handhabte, verriethen übrigens in der That eine gewisse Virtuosität, und der Pfarrer, der beständig in sich hineinlächelte, begann zu ahnen, daß der Charakteristiker denn doch vielleicht eine Art von schwacher Seite auf's Korn genommen haben könnte.

Mit dem Nachtisch eröffnete sich ein ganzer Sternenhimmel voll Beglückung für den Decan. Die Pfarrerin manövrirte sehr geschickt, indem sie mitten in der lebhaftesten Unterhaltung zwischen die beiden Riesenleuchter die kleineren Contingente einzudirigiren, die von dem dienstfertigen Gaste abgefertigten hinter die Schlachtordnung zu bringen und, Alles in größter Geräuschlosigkeit, frische Truppen nachzuschieben verstand. Der Decan hatte eine Zeit lang gar nichts zu thun, als Lichter zu putzen. Endlich aber wurde ihm das Ding zu arg, und da er nicht auf den Kopf gefallen war, so merkte er nachgerade, daß irgend eine verborgene Absicht dabei mit im Spiele sein müsse.

Verbindlich, doch mit etwas spitzem Tone, wendete er sich an den Pfarrer und bemerkte, die Frau Pfarrerin scheine ihm in symbolischer Weise über die Kirchenlichter der Diöcese eine regulative Gewalt einräumen zu wollen, der er, sich keineswegs gewachsen fühle. Der Pfarrer, in gutgespielter Verlegenheit und Unschuld, aber nicht ohne schlaues Augenzwinkern, erwiderte, seine Frau befasse sich sonst nicht mit Symbolik, im gegenwärtigen Falle aber, als Rationalist zu reden, dürfte sie vielleicht ihre Vernunft etwas zu sehr unter den Glauben an den Herrn Collega in Sch....ingen gefangen genommen haben. So, der Vocativus? rief der Decan, bereits einer Enthüllung gewärtig: was hat Der wieder für einen Trumpf ausgespielt? Der Pfarrer setzte mit Glück seine Rolle als Unparteiischer fort, und berichtete, wie seine Frau, angeblich ganz ohne sein Zuthun und gegen seine bessere Ueberzeugung, von dem Erzschelm in den April geschickt worden sei.

Der Decan brach in ein homerisches Gelächter aus, das er erst mäßigte, als er den Todesschrecken der Pfarrerin gewahrte, die sich zum ersten Mal von ihrem Manne verlassen und verrathen sah. Sie war wie vom Donner gerührt. Da sie jedoch, durch einen geheimen Wink des Pfarrers verständigt, den klugen Ausweg ergriff, plötzlich in das Lachen der beiden Herren einzustimmen, so nahm solches einen neuen Aufschwung, und in glücklicher Stimmenmischung wurde ein rauschendes Lachterzett aufgeführt. Als die erschöpften Kräfte eine Pause forderten, erzählte der Decan eine Reihe lustiger Streiche ähnlichen Schlages, die sein Freund während ihrer gemeinsamen Jugendjahre ausgeheckt hatte, und für jeden gab der Pfarrer ein Seitenstück aus dem neueren Leben desselben zum Besten, so daß die Munterkeit immer wieder frische Nahrung erhielt. Alsdann bedurfte es nur von Zeit zu Zeit eines Blicks auf die Lichter, eines gegenseitigen Anschauens, und die Lachmusik ging mit erneuter Stärke fort. Der Pfarrer machte endlich den Vorschlag, noch zu dieser späten Stunde an den Missethäter ein Citatur ad Magnificum zu erlassen, und der Decan ertheilte wohlgelaunt der Maßregel seine Genehmigung.

Kaum war jedoch der Bote zum Haus hinaus, so klopfte es an der Thüre, und der Delinquent trat herein. Er hatte den vermuthlichen Erfolg seiner Anstifterei erlauert, sich schon von ferne an dem Lichterglanz des Pfarrhauses innigst erfreut, und kam nun der vorausgesehenen Citation zuvor. Sein Erscheinen erregte ungeheure Heiterkeit. Die Pfarrerin stellte sofort den Antrag, ihn für die ganze Dauer des Abends zum ausschließlich alleinigen Lichterputzen zu verurtheilen, und der Decan trat diesem Strafantrage bei, doch erst nachdem er eine ansehnliche Reduction der aufgestellten Heeresmassen beantragt und durchgesetzt hatte. Hierauf bereitete die Pfarrerin einen Punsch, als in welchem Artikel sie weit und breit berühmt war.

Zuletzt, als dem Lachen der Nachlaß der Natur ein Ziel steckte, wurde der lustige Abend durch ein Tarok zu Drei, das Feinste für exquisite geistliche Spieler, gekrönt. Dieses Spiel wollte jedoch nicht ganz regelrecht zu Ende kommen; es scheiterte noch vor der gesetzten Zeit an vielfachen und allseitigen Verstößen, als da sind „Vergeben“, „Verzählen“ und dergleichen mehr, und man brach es daher ab in freundlichem Einverständniß und mit der Verabredung, sich an einem gelegeneren Tage Revanche zu geben. Die Lichtputze war zuletzt in die Hand der Pfarrerin gewandert, nachdem der Decan, der dem Sträfling bei dessen zunehmender Ungeschicklichkeit den Dienst abgenommen, einmal um das andere mit allzu knapper Präcision das Licht, dem er seine Kunst widmen wollte, ausgelöscht hatte. Indessen verschmähte der Pfarrer von Sch....ingen das angebotene Nachtlager; er wollte sich nicht nachsagen lassen, daß er sich nicht habe nach Hause finden können. „Mit ihm oder auf ihm!“ rief er mit einem spartanischen Gesichtsausdruck und donnerndem Gelächter. Um jedoch nur die erstere der beiden heroischen Chancen zuzulassen, beorderte die Pfarrerin den vorhin schnell zurückgerufenen Boten zu seiner Begleitung, und die Sage meldet nicht, daß ihm auf dem Heimwege irgend ein Abenteuer zugestoßen sei.

So harmlos gemüthlich lebte die geistliche Welt in jener mythischen Zeit, da der Lebensmuth noch nicht durch Ablösungsgesetze gedämpft und das theologische Bewußtsein noch nicht durch Kirchentage, Pfarrgemeinderäthe und so manches andere vom Zeitgeist getragene Compelle geschärft war. Und dies war der Grund, warum der Pfarrer von A...berg heute seinen Posten am Fenster eine ganze Stunde später als gewöhnlich eingenommen hatte. Wie leicht zu erachten, war der Decan nicht so früh aus den Federn gekommen und zur Abreise fertig geworden, als er gestern bestellt; sodann hatte man beim Scheiden der wiederholten Zwerchfellerschütterung über den „köstlichen Spaß“ noch eine gute Zeitfrist einräumen müssen, so daß es acht Uhr längst vorüber war, als der Gast endlich in sein Chaischen gelangte. Der Pfarrer begleitete ihn sorgfältig mit dem Tubus vom Fenster aus den Berg hinab, um wenigstens mitfühlender Augenzeuge zu sein, falls dem gebrechlichen Fuhrwerk auf der Via mala etwas Menschliches widerführe, und erst, als er es glücklich unten angelangt sah, ließ er seinen Butzengeiger die gewohnten luftigen Pfade wandeln, bei welcher Gelegenheit er die große Entdeckung machte, zu der wir nunmehr zurückkehren.

Ob die Pfarrerin, welche die erlittene Scharte durch einen Triumph ihres Scharfsinns auszuwetzen strebte, diese Gabe Gottes richtig angewendet hatte oder nicht, das mußte der folgende Tag entscheiden.

In der Nacht, die diesem Tage vorausging, thaten Pfarrer und Pfarrerin vor Erwartung kein Auge zu.

Endlich graute der Morgen.

Punkt acht Uhr stand der Pfarrer, der auch das Ueberflüssige nicht versäumen wollte, auf seinem Posten, und zwar, wie er emphatisch bemerkte, „harrend ohne Schmerz und Klage, bis das Fenster klang.“ Auch war ihm in der That Geduld vonnöthen, denn er mußte die ganze Stunde vergebens harren. Die Lerche, die auch an diesem Tage ihren Besuch wiederholte, blieb abermals unbeachtet, und verschwebte endlich mißmuthig im unendlichen Blau.

Erst um neun Uhr gesellte sich die Pfarrerin, ihrer Theorie gemäß, zu ihrem Manne, um seinen schon etwas erlahmenden Eifer wieder zu befeuern.

Und siehe da, nach kurzer Weile that er einen hellen Freudenschrei.

Er sah den Unbekannten, wie gestern, an dem Fenster in der Gegend des baufälligen Thürmchens erscheinen. Er sah, wie derselbe ein wenig mit seinem Tubus, in der Welt umherschweifte, dann aber ihn gerade herauf richtete und, so zu sagen, gegen das Pfarrhaus von A...berg im Anschlage liegen blieb.

Wedle, wedle! rief er der Pfarrerin zu. Diese legte sich, weil sie keinen Raum neben ihm im Fenster hatte, mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers auf seine rechte Schulter, und wedelte mit dem bereit gehaltenen Schnupftuch, so weit sie nur konnte, in die Lüfte hinaus.

Vergebens, der Unbekannte nahm keine Notiz von dem Signal.

Der Pfarrer gab der Pfarrerin den Tubus, um ihn auf seiner Schulter aufzulegen und die Beobachtungsrolle zu übernehmen, während er selbst mit Hand und Tuch alle seine verfügbaren Kräfte aufbot, um endlich die Aufmerksamkeit des hartnäckigen Blinden zu erobern. Da diese heftigen Bewegungen die Obliegenheit der Pfarrerin wesentlich beeinträchtigten und zum Theil völlig paralysirten, so lief der Versuch nicht ohne kleine Ehedissidien ab, die sich jedoch immer friedlich lösten. Die beiden Gatten tauschten die Rollen wieder, aber was sie auch vornehmen mochten, um ihren Zweck zu erreichen, es blieb Alles fruchtlos, und eine saure Stunde war verstrichen, als der Pfarrer mit einem tiefen Seufzer seinen Doppelgänger vom Fenster verschwinden sah.

Wo möglich noch unzufriedener als er war sie, die ihre Hypothese in dem Augenblicke, da sie so glänzend bestätigt werden sollte, für zwecklos und jedes praktischen Werthes entkleidet erkennen mußte.

Daß dieser Tag im Pfarrhause von A...berg nicht so heiter wie der vorgestrige und nicht so bewegt wie der gestrige verlief, kann unter den angegebenen Umständen wohl keinem Zweifel unterliegen.

Am dritten Morgen, diesmal aber erst um neun Uhr, machte der Pfarrer seinen letzten Versuch. Den letzten: denn nicht bloß hatte er geschworen, sich kein einziges Mal ferner narren zu lassen – o daß ein freundlich Geschick dieses Gelübde begünstigt hätte! – sondern auch die Witterung schien, für einige Zeit wenigstens, mit seinem Vorsatz im Einverständniß zu sein, und der April begann ein so launisches Gesicht zu machen, daß man dem Fernrohr kaum für heute, geschweige noch für morgen, eine ungestörte Entfaltung seiner Thätigkeit prophezeien konnte. Auch hatte sich ein ungestümer Wind erhoben, der jedoch die von dem Pfarrer trotz seiner Hoffnungslosigkeit getroffenen Anstalten kräftig unterstützte. Denn als der sonderbare Gegenäugler auch heute wieder der Pfarrerin die Ehre erwies, die habituelle Leidenschaft zu zeigen, die sie von Anfang an bei ihm vermuthet hatte, so flogen zwölf an einander gebundene Taschentücher in die Lüfte, einen flatternden Baldachin über dem Pfarrer und seinem Tubus bildend, und ein Stockwerk höher wehte ein großes Leintuch, mit welchem die Pfarrmagd an das Dachfenster postirt worden war. Die Lerche glänzte an diesem Morgen durch ihre Abwesenheit: ob aus gekränkter Freundschaft oder Windes und Wetters halber, wagen wir nicht zu entscheiden.

Victoria! rief da der Pfarrer auf einmal aus; denn er glaubte bei dem Unbekannten eine kleine Wendung des Instrumentes und dann in seinem Gesicht einen Ausdruck des Stutzens und der Neugier wahrgenommen zu haben. Mit geflügelten Worten hieß er die Magd ihr Topsegel reffen und die Frau ihre Thränenflagge einziehen, die jedoch, von dem umspringenden Winde wie eine Schlange umhergewirbelt, sich an einem Haken verfangen hatte und vorderhand in der Geschwindigkeit ihrem Schicksal überlassen werden mußte. Die Pfarrerin gebrauchte ihre nunmehr frei gewordenen Hände, um rechts und links vom Pfarrer nach der Richtung seines Tubus hin zu winken. Ueber diesem Bestreben wurde er bedeutend gequetscht, und vermochte nicht alles und jegliches Stöhnen zu unterdrücken, aber als standhafter Märtyrer ermahnte er sie, seiner Ungemächlichkeit nicht zu achten und mit ihren Signalen fortzufahren. Er selbst, so oft und so lang er eine Hand vom Tubus entfernen konnte, bediente sich derselben, um gleichfalls zu winken, auch mit dem Finger abwechselnd bald auf das Werkzeug, bald auf den Gegenstand der Entdeckung zu zeigen, und letzterem hiedurch anzudeuten, wen und was dieses vehemente Salutiren betreffe.

Solcher Aufwand von Zeichen und Kundgebungen durfte nicht unbelohnt bleiben, und es ereignete sich, was der Pfarrer während des Schauens in raschen Mittheilungen seiner Frau berichtete. Der Doppelgänger erkannte, daß die endlich zu seiner Wahrnehmung gelangten Ferngrüße ihm galten. Ueberrascht erwiderte er die Aufmerksamkeit mit einer Verbeugung, wobei er zugleich in nicht uneleganter Manier den Tubus senkte, gerade wie der Offizier den Degen oder der Wagenlenker von Welt die Peitsche salutirend senkt. Aber gleichbald schien er eingesehen zu haben, daß diese Courtoisie die eingegangenen optischen Beziehungen aufrecht zu erhalten nicht besonders geeignet sei. Er erhob daher schnell sein Instrument zu der früheren Lage, indem er sich bemühte, gleich seinem Entdecker den Händen eine Arbeitstheilung anzuweisen und mit der einen zu winken, während die andere den Tubus hielt.

O weh! rief der Pfarrer von A...berg, und unterrichtete sofort seine Frau über die Ursache dieser schmerzlichen Interjection. Dem Andern war, sei es nun, daß das Instrument zu schwer oder die Hand zu schwach war, der Tubus entfallen! Mitten in der besten Freude alle Freude, für immer vielleicht, verdorben! Die Pfarrerin schrie laut vor Schreck und Jammer auf.

Der Pfarrer war unwillkürlich mit weit auslangendem Blick dem verunglückten Instrumente gefolgt, als ob er es im Sturz aufhalten müßte und könnte. Auch schien er in der That mit seiner Sympathie dem Tubus ein guter Engel gewesen zu sein; denn er sah den Obertheil desselben über das schon geschilderte Mäuerchen hervorragen und sogar, wunderbarer Weise! sich weiter bewegen. Die Bewegung ging sodann aufwärts, indem mit dem Tubus ein Kübel und unter dem Kübel eine weibliche Figur zum Vorschein kam. Alle Drei schwebten an der Seite des Hauses eine von dem Beobachter bis jetzt übersehene dunkle Linie empor, in welcher er nun mit der äußersten Anstrengung seiner Sehkraft eine Stiege erkannte, dergleichen an den Bauernhäusern außen angebracht sind. Aus dem Schwanken des nur theilweise sichtbaren Tubus war mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zu errathen, daß derselbe zum Glück in einen eben vorbeigetragenen Kübel Wasser gefallen und hiedurch dem Verderben, dem gänzlichen wenigstens, entgangen war.

Aber war er auch völlig unbeschädigt geblieben? Hatte er nicht so weit Noth gelitten, um die unverzügliche Fortsetzung des so glücklich eröffneten Augendialogs zu vereiteln? Die Spannung des Pfarrers und der Pfarrerin wuchs von Secunde zu Secunde.

Jetzt trat auch der Inhaber des Tubus in den Schatten der dunkeln Linie, und nahm sein Instrument aus dem Kübel in Empfang. Bald stand er wieder am Fenster, mit Putzen, Untersuchen, Herstellen und Richten des Fernrohrs beschäftigt. Darauf griff er weit hinaus, zog einen Gegenstand herbei, worin sich eine an der Wand des Hauses lehnende, bis in das Fenster ragende Baumstütze zu erkennen gab, legte den Tubus bequem in die Gabel derselben, und nahm die unterbrochene Zwiesprache wieder auf.

Der Pfarrer von A...berg ahmte das gegebene Beispiel nach, sofern er sich von seiner Frau im Halten des Fernrohrs unterstützen ließ, und machte mit der ledigen Hand allerlei phantastische Gesticulationen, durch welche er anzufragen beabsichtigte, ob die Gefahr ohne Schaden abgelaufen sei. Sein Gegenüber schien die Frage zu verstehen, denn er sah eine Weile neben dem Tubus hervor, deutete durch vergnügtes Nicken an, daß derselbe keine Noth gelitten habe, und schaute dann wieder eifrig hinein. Ein gegenseitiges jubelvolles Händeschütteln erfolgte, zum Zeichen und zur Feier, daß die raumbeherrschende Verbindung der beiden Fenster nunmehr vollständig in's Leben gerufen sei.

Im gleichen Augenblicke jedoch begann es durch die Luft zu flirren und zu rieseln, der Himmel verdunkelte sich, und ein schwerer Wolkenvorhang schied den Doppelschauplatz des noch im ersten Act begriffenen vielversprechenden Drama's in seine entlegenen, einander plötzlich unsichtbaren Hälften.

Indessen fühlte sich unser Pfarrer durch diese etwas unzeitige Störung keineswegs entmuthigt. Die Bahn war ja gebrochen, und am nächsten hellen Morgen konnte, darüber gab es keinen Zweifel mehr, der zweite Act des optischen Dioskurenspiels in Scene gehen. Heiter gestimmt setzte er sich an den Schreibtisch und schrieb seinem in Pension gegebenen Sohne Wilhelm einen langen Brief, worin er ihm die so eben erlebte wunderbare Begebenheit berichtete, mit dem Versprechen, ihm, sobald die Stillung seiner eigenen brennenden Neugier es gestatte, mitzutheilen, wer der Mann sei, der, mit der gewiß nicht bäurischen Liebhaberei des Fernesehens behaftet, in einem Bauernhause wohne.

Am folgenden Tage, der Regen und Schnee in lebhafter, dem todten Einerlei vorzuziehender Abwechslung brachte, griff er abermals zur Feder, um den Pfarrer des muthmaßlichen Orts, das er erspäht hatte, um die gewünschte Aufklärung anzugehen. An dem hängenden Thurme von Pisa, schrieb er, und seinen „narbenvollen Zügen“ (Phrase aus einer bekannten Elegie) glaube er unwiderleglich das Dorf Y...burg erkannt zu haben. Das fragliche Häuschen selbst, setzte er vorsichtig für alle Fälle hinzu, befinde sich in einer der Beobachtung nicht ganz günstigen Lage, indem es durch verschiedene Gegenstände dem Fernrohr etwas minder zugänglich gemacht sei; indessen sei der Bewohner desselben durch den Charakter der wahrgenommenen Beschäftigung als Mann von wissenschaftlicher Bildung nachgewiesen und festgestellt. Da nun, schloß er, ein Pastor loci in geistlichen nicht nur, sondern überhaupt in allen geistigen Angelegenheiten das Factotum seiner Gemeinde sei, so richte er an den Herrn Collega die vertrauensvolle Bitte, den interessanten Unbekannten zu erkunden und seiner herzinnigen Freude über die auf so beispiellose Weise gemachte Bekanntschaft zu versichern, für sich selbst aber die wahre amtsbrüderliche Hochachtung zu genehmigen, womit er im Voraus dankend verharre u. s. f.

Schon den nächsten Abend brachte der Bote, den die Pfarrerin zu Vervollständigung ihrer Hausapotheke abgesendet hatte, nebst dem bestellten Melissenöl einen Brief, der, als er eröffnet wurde, die Unterschrift des Pfarrers von Y...burg trug. Dieser Brief war und konnte noch keine Antwort auf das so eben erst erlassene Schreiben sein, sondern er führte, man denke sich zu welcher Ueberraschung des Empfängers! den genannten Pfarrer selbst als den gesuchten Doppelgänger ein, der seinerseits gleichfalls und gleichzeitig die Initiative ergriffen hatte. Auch er drückte großes Vergnügen über das optische Pas de deux, wie er es nannte, aus. Mit wem er dasselbe aufzuführen die Ehre gehabt habe, schrieb er, brauche er nicht zu fragen, denn Jedermann wisse ja, daß das in die Lande glänzende Schlößchen neben dem mit blauen Ziegeln ausgelegten Kirchthurme das Pfarrhaus von A...berg sei. Er müsse eigentlich um Verzeihung bitten, daß er seit fünfzehn Jahren, denn so weit datiren seine täglichen Ocularreisen zurück, an diesem der Beachtung so würdigen Hause gewissermaßen vorbeigesehen habe. Allein seine Aufmerksamkeit sei stets durch einen nahgelegenen Felsen in Anspruch genommen worden, dessen höchst singulare Formation, darstellend einen Kopf mit vorspringender Nase von scharfem Schnitt und einen aus dem Rumpfe der Gesteinsmasse hervorwachsenden, aufwärts wider die Nase anstrebenden Finger, auffallend eine alte Universitätserinnerung, deren der Herr Collega wohl auch noch eingedenk sein werde, vergegenwärtige. Er schloß mit dem Wunsche, zu erfahren, ob das plastische Gebilde in der Nähe den gleichen naturwahren Eindruck mache, der ihn jeden Morgen aus der Entfernung labe.

Die beiden Briefe hatten sich gekreuzt.

Der Pfarrer von A...berg verfügte sich zur Stunde, ungeachtet des strömenden Regens, zu dem nach allen Anforderungen der Ortsbestimmung genau bezeichneten Felsen, und antwortete umgehend, so lebhaft auch in ihm die angedeutete Erinnerung schon bei dem ersten Worte wieder aufgegangen sei, so habe er doch in der Nähe keine Idee von einer Aehnlichkeit finden können, freue sich aber nur um so mehr, zu vernehmen, daß er unter seiner Felsengarde eine so unvergeßliche Gestalt besitze. Indem er jedoch fortfahren wollte, empfand er eine nicht geringe Verlegenheit im Gedanken, daß das Häuschen, das er der ganzen Sachlage nach jetzt als das Pfarrhaus von Y...burg anerkennen mußte, in seinem gestrigen Briefe, wenn auch mit vieler Schonung berührt, so doch mehr mit Schatten- als Lichttönen behandelt war. Er entschuldigte sich mit der weiten Entfernung desselben von dem Thürmchen, die ihn nicht habe ahnen lassen, daß es mit der Kirche in näherem und nächstem Grade verwandt sei. Um jedoch über diesen kitzlichen und ihm vorerst unerklärlichen Punkt rasch wegzukommen, unterbrach er die Erörterung durch die in seinem ersten Briefe zu stellen vergessene Frage, ob der Tubus wirklich in einen Kübel mit Wasser gefallen sei, und verweilte zum Schlusse auf dem Ausdruck seines freudigen Hochgefühls, in den beiden Individuen, zwischen welchen er gestern seine Gesinnungen theilen zu müssen geglaubt, ein einziges gefunden zu haben, dazu einen Standesgenossen, der somit gebeten werde, dieselben doppelt für einfach gutzuschreiben. Ein kaufmännischer Zug, der in Familienverbindungen des Briefschreibers begründet war.

Die Briefe kreuzten sich abermals.

Der Pfarrer von Y...burg antwortete dem Pfarrer von A...berg auf dessen erste Anfrage, die Identität seines Ich und Nicht-Ich, die dem Herrn Collega eine Neuigkeit gewesen sein werde, wolle freilich auch ihm selbst mitunter beinahe zweifelhaft erscheinen. Derselbe würde ihn mit bloßen Augen noch ungünstiger situirt finden als durch das Fernglas; denn seine Behausung (dies auf den Fühler) sei eine Hütte „still und ländlich“,

nämlich ein veritables Bauernhaus. Seit seinem Amtsantritt lasse ihn die Oberkirchenbehörde in dieser Baracke schmachten, deren Umgebung zudem so beschaffen sei, daß er bei schlechtem Wetter den weiten Weg zur Kirche nur in hohen Stiefeln, einer Art von Kothgondeln, durchsegeln könne. Folgten bittere Bemerkungen und Ausfälle, bei deren Lesung den Pfarrer von A...berg eine Gänsehaut überlief, jedoch nicht ohne einen gewissen Wonneschauer; denn welcher Pfarrer hätte nicht zuweilen eine Klage über das Consistorium auf dem Herzen, und fühlte nicht bei dem Naturlaut einer, gleichgestimmten Seele dieses in solchem Falle von Mitverantwortlichkeit freie Herz erleichtert?

Er schrieb einen theilnehmenden und zugleich begütigenden Brief, in so durchdachten Wendungen, daß derselbe ein Kunstwerk genannt werden durfte. Gleich darauf kam aus Y...burg die Antwort auf sein zweites Schreiben, mit der Bestätigung, daß der geschmeidige Tubus richtig in einen dem Hause zuwandelnden Wasserkübel gefallen sei und, eine leichte Verstauchung am Metall abgerechnet, keine Verletzung davongetragen habe. „Ein merkwürdiges Beispiel von Rettung durch Schwimmen!“ hatte der Pfarrer von Y...burg hinzugefügt.

Zum dritten Mal hatten die Briefe sich gekreuzt.

Glücklicherweise fiel jetzt bessere Witterung ein, und es schlug die Stunde des Wiedersehens. Da bezog der Pfarrer von A...berg seinen Posten mit einem mächtigen Briefe in der Hand, auf den ein beinahe tellergroßes Siegel gedruckt war. Er hielt ihn hoch und holte mit einer kühnen Bewegung aus, als ob er ihn geradewegs in Einem Schwung über Hügel und Thäler dem ebenfalls präsenten Gegenseher zuschleudern wollte, der auch alsbald die Hand ausstreckte, wie um den Brief aufzufangen. Er aber zog den Brief zurück und steckte ihn in die Botentasche, die seine Frau neben ihm zum Fenster herausbot, worauf er mit einer Handbewegung andeutete, daß der Brief nunmehr ungesäumt seiner Bestimmung entgegengehen werde.

Der Pfarrer von Y...burg telegraphirte sogleich zurück, daß ihm der Rebus vollkommen klar gewesen sei. Er verließ das Fenster auf einen Augenblick, und kam sofort wieder mit einem symbolischen Blatt Papier, das er, nachdem er es gleichfalls in die Höhe gehalten hatte, langsam in seiner Brusttasche begrub. Hiedurch versinnlichte er die Erwiderung, daß er seinerseits mit Absendung eines Briefes zuwarten wolle, bis er den so eben signalisirten in Empfang genommen haben würde.

Der auf diese Weise telegrammatisch geregelte Briefwechsel wurde nunmehr mit großer Lebhaftigkeit fortgeführt, und die zierlichen Einfälle des Pfarrers von A...berg wie die kaustischen Auslassungen des Pfarrers von Y...burg gaben auf beiden Seiten eine immer frisch sprudelnde Quelle des Vergnügens ab. Man derabredete nach und nach eine Zeichensprache, in der man sich an jedem günstigen Morgen unterhielt und deren Lücken nachher durch den schriftlichen Verkehr ausgefüllt wurden. Eine lange Controverse entspann sich von Anfang an über die Entfernung der beiden Standpunkte, Wobei es sich zugleich um die Güte der beiden Fernröhren handelte. Bei der Hartnäckigkeit des Pfarrers von A...berg, der in majorem gloriam seines Butzengeigers die gerade Linie so viel als möglich zu verlängern suchte, konnte man sich nicht völlig vereinigen; doch näherten sich die Ansichten einander zuletzt bis auf die Distanz einer halben Stunde.

Die Freundschaft, die sich auf so ungewöhnlichem Wege entsponnen hatte, wurde immer inniger, und besonders der Pfarrer von A...berg hätte nicht mehr ohne dieses Verhältniß leben zu können geglaubt. Die Vertraulichkeit seiner Mittheilungen stieg von Brief zu Briefe. Er versäumte nicht, seine Frau „als unbekannt“ sich empfehlen zu lassen, worauf auch die Pfarrerin von Y...burg, der er sich selbst in gleicher Eigenschaft zu Füßen legte, in den Austausch der freundschaftlichen Gefühle und Gesinnungen gezogen wurde.

Im Verfolge seiner Herzensergüsse vertraute er dem Freunde, sein aus mehrjährig kinderloser Ehe geborner einziger Sohn Wilhelm, dem geistlichen Stande gewidmet, werde auf den Herbst das Landexamen in dritter Instanz mitmachen; und obgleich er sich anstellte, als ob er wegen des Ausgangs der Prüfung in tausend Aengsten wäre, so that er dies doch in so scherzhaften Ausdrücken, daß deutlich der Vaterstolz durchschimmerte, der alle diese Besorgnisse nichtig hieß. Der Pfarrer von Y...burg antwortete darauf, vermöge einer sonderbaren Verkettung der Umstände werde sein Schlingel Eduard zu gleicher Zeit auf derselben Wage gewogen und in demselben Siebe gesiebt werden, des einer wohlberechneten Sonnenfinsterniß gleichenden Schicksals gewärtig, zu leicht erfunden zu werden und dennoch trotz dieses Gewichtsmangels mit einer Geschwindigkeit von fünfzehn Pariser Fuß auf die Secunde durchzufallen. „Bei Philippi also sehen wir uns wieder,“ schloß der Brief.

Welche Wonne für den Pfarrer von A...berg, der die sinistre Prophezeiung für eben so wenig ernstlich gemeint hielt, wie die seinige! Und wie wenig ahnte er, daß er mit der Eröffnung der Aussicht auf ein persönliches Zusammentreffen – denn gingen die Söhne in's Landexamen, so verstand es sich von selbst, daß die Väter sie begleiteten – den ersten Nagel in den Sarg der neuen Freundschaft geschlagen hatte! Um uns über dieses psychologische Geheimniß klar zu werden, müssen wir uns, nicht eben gerne, von A...berg nach Y...burg hinab versetzen.

Der Pfarrer von Y... burg war ein dunkler Charakter.

Nach einer heiter verlebten Universitätszeit, während welcher er den Musen und Grazien geopfert, und einem beneidenswerthen Bildungsjahre, das er als Hofmeister in den günstigsten Verhältnissen und zum Theil auf Reisen zugebracht, hatte er, da sich eine seinen höheren Ansprüchen genügende Versorgung für den Augenblick nicht finden wollte, einen Winkel der Heimath, den ihm nicht leicht Jemand streitig machte, zu seinem Herde gewählt, um eine jener frühen Brautschaften, die der theologischen Laufbahn vorzugsweise anzukleben scheinen, wenn auch längst nicht mehr im ersten Grün, so doch nicht ganz als dürres Heu unter Dach und Fach zu bringen.

„Bumps, da hat der Herr eine Pfarre!“ sagte Friedrich Wilhelm I., wie erzählt wird, zu dem Candidaten, der ihm mit den Worten „Bumps, da hat der Herr Feuer!“ die Tabakspfeife angezündet hatte. Fast eben so prompt ging es bei der Vergebung des Pfarrdienstes von Y...burg her, aber er war auch darnach. Eine vormals adelige Niederlassung, aus zusammengelaufenen Leuten gebildet, um die Einkünfte der Grundherrschaft durch Schutzgelder zu erhöhen, war das zerstreut liegende Dörfchen in den Besitz des Staates gekommen, der es unter strengere Aufsicht nahm, ohne seinen Zustand fühlbar verbessern zu können. Die Markung war die kleinste, die sich von einer Gemeinde denken läßt, dazu schlechter Grund und Boden, meist in Einbuchtungen von Hügelzügen eingeklemmt.

Wohl konnte man diesen Aufenthalt einen abgelegenen Winkel nennen, denn keine Straße berührte ihn, und die Wege waren trostlos. In geringer Entfernung freilich umgab ihn lachende Ebene, blühender Wohlstand, „rings umher schöne grüne Weide,“ wodurch indessen, wie begreiflich, die Traurigkeit der Einöde nur verstärkt wurde. Daß die Besoldung mit der ganzen Beschaffenheit dieses Pfarrdienstes in Einklang war, braucht wohl kaum bemerkt zu werden.

Die beiden Pfarrer von A...berg und Y...burg – daß Familienrücksichten uns von einer deutlicheren Nennung der Namen abhalten, wird der Leser längst ein- und nachgesehen haben – waren somit ziemlich ähnlich gestellt, nur mit dem großen Unterschiede, daß Jener etwas zuzusetzen hatte und Dieser nicht. Doch fühlte er in den Honigmonaten der Ehe den Druck der Armuth wenig; er lebte seiner Liebe, und fand, wie der Jüngling am Bache, daß für ein glücklich liebend Paar Raum in der kleinsten Hütte sei. Denn viel mehr als eine solche war das Pfarrhaus von Y...burg nicht, und nicht mit Unrecht mochte man es einem Bauernhause vergleichen, obwohl, wenn man der Wahrheit die Ehre geben wollte, die Freitreppe etwas breiter war und im Innern noch eine zweite, allerdings enge Stiege nach einem kleinen Oberstübchen führte.

Die Geburt eines Sohnes, den er auf die Bitte seiner Gattin nach seinem eigenen Namen Eduard taufte, erhöhte für einen Augenblick sein Glück; aber mit ihr zugleich begann auch eine Reihe von Enttäuschungen und Ernüchterungen, die, wie immer sie auch gestaltet sein mochten, doch alle von der Grundlage ausgingen, daß das Einkommen nicht mehr reichte. Schon bei der Geburt des zweiten Kindes, einer Tochter, ließ sich der Humor des Pfarrers so scharf und schartig an, daß er sie Kunigunde taufte, bloß um das Spottlied „Eduard und Kunigunde“ in seiner Familie verkörpert zu besitzen.

Die Hoffnung, seinen Anfangsdienst mit einem besseren zu vertauschen, schlug zu wiederholten Malen fehl, so daß er ihr zuletzt entsagte. Finsterer Mißmuth bemächtigte sich seiner Seele, er zerfiel mit der ganzen Welt wie mit sich selbst, die Quellen seines Gemüths versiegten. Innerlich versauert, äußerlich verbauert, hatte er nur seinen Humor noch übrig behalten, der aber über der Vergleichung einstiger Lebensaussichten und jetzigen Entbehrens bis zur Ungenießbarkeit herb geworden war.

Wenn die physiologische Lehre Grund hat, daß von dem, was der Mensch zu sich nimmt, seine geistigen Ausflüsse bis zu einem nicht unbedeutenden Grade bedingt sind, so kann uns diese Ungenießbarkeit nicht Wunder nehmen. Der Pfarrer von Y...burg pflegte sich sein Bier selbst zu brauen. Er verwendete hiezu den schlechtesten Theil vom Fruchtzehnten, nämlich eine mit Schwindelhafer sehr reichlich vermischte magere Gerste, die ihm seine Frau gerne überließ, weil die Kinder schon mehrmals davon erkrankt waren, und statt des Hopfens nahm er die Spitzen von Weidenschößlingen. Diesen Trank, dem es weder an Narkose noch an Bitterkeit gebrach, nannte er mit schneidendem Hohne, auf die Worte des Tacitus anspielend, welchem das Bier der Deutschen ein „humor in quandam similitudinem vini oorruptus“ ist, sein „Corruptionsgesöff.“

Noch abschreckender als die flüssige Einfuhr war der feste Import, der, wenn ein sonst nur im uneigentlichen Sinn gebrauchter Ausdruck hier zulässig ist, seinen Hauptnahrungszweig ausmachte. Einige Familien des Orts, die nur Wiesen und keine Aecker besaßen, verfertigten eine Art Backsteinkäse von sehr untergeordneter Qualität, womit sie in der Nachbarschaft Handel trieben, und wovon sie, in Ermanglung des Getreides, den Zehnten an das Pfarrhaus ablieferten. Diesen Käsezehnten hatte der Pfarrer, der mit der Küche seiner Frau auf gespanntem Fuße stand, für sich in Beschlag genommen und das Product zu einer Veredlung, wie er behauptete, gebracht, die aber von Tacitus sicherlich mit einer abschätzigeren Bezeichnung belegt worden wäre, als das braukünstlerische Verfahren unserer germanischen Vorvordern.

Seiner düsteren Sinnesart gemäß liebte er es vor Allem, dunkle Thaten und peinliche Seelengemälde zu lesen, wie sie vornehmlich in Criminalgeschichten sich finden. In einer derselben stieß ihm ein casus tragicus von sonderbarer Gattung auf, darin bestehend, daß in einer großen norddeutschen Stadt ein Freund den andern, ohne ihm gram geworden zu sein, in bloßer Trunkenheit, mit einem Häringsbratspieß erstach.

Ueber dieser Lectüre erwachte in ihm die Erinnerung, daß er selbst jeweils im Norden unseres Vaterlandes, wo diese Speise beliebt ist, gebratene Häringe gegessen und nicht eben unschmackhaft befunden hatte. In seinen damaligen Verhältnissen hatte er auf dieses populäre Gericht vornehm herabsehen können: in seinen jetzigen wäre es ein Leckerbissen, ein Luxusartikel für ihn gewesen. Da ihm nun aber diese nicht erlaubten, Häringe überhaupt und irgendwie, im gewöhnlichen oder marinirten oder gebratenen Zustande, zu genießen, so erfand er für die letztere Bereitungsweise ein Surrogat, indem er auf den Einfall gerieth, seine Käse zu braten. Zu diesem Ende machte er sich eine alte abgebrochene Klinge vom Universitätsfechtboden her zurecht, gebrauchte sie als Bratspieß, und sprach fortan die unerschütterliche Ueberzeugung aus, daß der Käse durch diese norddeutsche Behandlung nicht bloß wohlschmeckender, sondern auch nahrhafter werde. Jedenfalls erreichte er dadurch Zweierlei: einmal gönnten Frau und Kinder, die das Kunsterzeugniß zu pikant fanden, um es hinunterzubringen, ihm den ganzen Vorrath unverkürzt, und dann hielt der entsetzlich muffige Geruch, der Jahr aus Jahr ein im Hause herrschte, alle und jede Besuche fern.

Mit seinem corrumpirten Schwindelhaferweine begehrte gleichfalls Niemand bewirthet zu werden; und so saß er Abend für Abend im oberen Stübchen, seinen Käsebraten verdauend, einsam hinter seinem Kruge, und rauchte dazu seine gleichfalls selbstbereitete Hanfcigarre, mit Lesen von Criminalgeschichten beschäftigt, oder auch in dumpfem Brüten, das er nur zuweilen durch ein grimmiges Auflachen unterbrach.

Aus diesen wenigen Conturen mag man sich das Charakterbild des Mannes vervollständigen, das in ausgeführter Schilderung wohl kaum zu erschöpfen sein möchte. Denn leider, wo viel Schatten, da drängt sich eine effectvollere Färbung dem Pinsel entgegen, während, wo das Licht vorherrscht, das Gemälde freundlich, aber eintönig wird. Nichts desto weniger sehnen wir uns hinweg von der düsteren Skizze, auf die wir uns beschränken zu müssen geglaubt haben. Tag muß es sein, wo uns're Sterne strahlen – so würden wir gerne ausrufen, wenn diese Erscheinung anders als bei einer totalen Sonnenfinsterniß möglich wäre. Wir aber lieben das Helle und gehen, so viel an uns ist, den sonnigeren Spuren des menschlichen Gemüths und Daseins nach, auch auf die Gefahr hin, daß dürftigere Farben unserer Palette entfließen.

Allein uns leitet noch ein anderes Motiv bei der Verzichtleistung, die wir uns auferlegt haben: das Gefühl, berufeneren Federn nicht vorgreifen zu sollen. Wir vernehmen aus sicherer Quelle, daß einer berühmten Sammlung merkwürdiger Pfarrhäuser eine zweite von anderer Hand demnächst zur Seite, ja mit ihr in die Arena treten, und daß darin der Charakter, an dessen Schattenriß wir uns nur schüchtern gewagt haben, unter dem Titel: „Der gebratene Backsteinkäsepfarrer“, lebensgroß und lebenswahr gezeichnet, vorgeführt werden wird. Auf dieses Werk, vor welchem wir nach Gebür zurücktreten, wollen wir hiemit voraus verwiesen haben.

Inzwischen sehen wir uns gleichwohl genöthigt, bei dem unerfreulichen Bilde, von dem wir so sehr uns loszureißen wünschten, noch ein wenig zu verweilen. Haben wir uns ja doch noch nicht der Pflicht entledigt, zu erklären, wie der Pfarrer von Y...burg, Angesichts der Umstände, in denen wir ihn gefunden haben, zum Besitze eines Tubus gekommen war, der nicht bloß, was wir bereits wissen, aus edlerem Stoffe bestand als der schlichte Butzengeiger seines bemittelten Entdeckers, sondern, wie wir hinzufügen können, in der That und Wirklichkeit zu den schönsten und ausgezeichnetsten seiner Art gehörte. Ach, und auch dies war eine, ja es war die letzte und höchste von den Bitterkeiten des Schicksals gewesen, das ihn noch einmal mit einer tauben Blüthe der Hoffnung gehöhnt, und dann ohne Hoffnung, ohne Glauben, ohne Liebe, auf kahlem Lebenspfade weiter gestoßen hatte.

Der niederschlagenden Begebenheit, auf die wir hier anspielen, gerecht zu werden, schreiten wir um fünfzehn Jahre rückwärts, wobei wir jedoch, unserem Plane treu, die Form des flüchtigen Umrisses nicht zu verlassen gedenken.

Es war an einem stürmischen, nachtrabenschwarzen Herbstabend zu später Stunde, daß das Pfarrhaus von Y...burg in der Person des Erbprinzen von ***, der, aus Italien an das Krankenbette seines Vaters heimeilend, durch einen ungeschickten Postillon von der gebahnten Straße auf die verhängnißvolle Y...burger Markung abgeführt und in einem nahen Hohlweg umgeworfen worden war, einen höchst unerwarteten Gast erhielt. Der Pfarrer, der damals bereits jeden Gedanken an ein Vorwärtskommen auf gewöhnlichem Wege aufgegeben hatte, begrüßte in dem hohen Obdachsuchenden eine himmlische Erscheinung, ein Werkzeug des Glücks. Er bot seine halbe Gemeinde auf und verpfändete seinen ganzen Zehnten, um aus einem Umkreise von mehreren Stunden die ausgesuchtesten Speisen und Getränke nebst andern zweckmäßigen Bewirthungsrequisiten jeder Art herbeischaffen zu lassen.

Mittlerweile stellte er alle noch vorräthigen Schätze seines Geistes aus, um den fürstlichen Gast würdig zu unterhalten. Durch seinen Aufenthalt in den nördlichen Staaten Deutschlands mit der Residenz desselben und ihren Verhältnissen einigermaßen bekannt, zog er die dortigen Beziehungen, wie sie ihm beifielen, eine nach der andern in's Gespräch, und die Gewandtheit, mit der er dies that, erfüllte ihn selbst, den so lange von der Welt Abgeschiedenen, innerlich mit Erstaunen, besonders im Gegensatze zu seiner Frau, die gleichsam nur in halber Lebensgröße umherging, da sie vor ehrfurchtsvollem Schrecken beständig wie in den Boden gesunken war.

Er sah sich bereits in *** auf weithin sichtbarem Posten angestellt, ein Monument der Blindheit seiner engeren Heimath, die eine ihrer besten Kräfte nicht zu schätzen gewußt. Die schon halb eingerostete Technik seines einst so beweglichen Kopfes kam immer besser in Gang – er sprühte – sprühte vielleicht etwas zu stark für einen ermüdeten und von dem erlittenen Unfall noch angegriffenen Reisenden, der nicht bloß Fürst, sondern auch Mensch war, und zuletzt mit melancholischer Energie zu Bette verlangte, so daß das Geistesfeuerwerk seines Wirthes, der ihn nicht länger aufzuhalten vermochte, noch vor Anwendung der zündendsten Effecte unterbrochen wurde. Die Verzweiflung desselben, dem hohen Gaste ein schlechtes Nachtlager anweisen zu müssen, während modernste Matratzen, gesteppte Decken, französische Teppiche, um schweres Geld und die besten Worte aus einem berühmten Gasthofe der Umgegend gemiethet, im Anzuge waren – ihn ungegessen zu Bett zu schicken, während ein pfarrhäuslicher Nahrungsstand für Monate zu einem einzigen Souper homöopathisirt herangeflogen kam – mit Worten ist diese Verzweiflung nicht zu schildern.

Aber auch dem Prinzen, dem ohnehin nicht auf Rosen gebettet war, folgte die Strafe für seine Ungeduld auf dem Fuße nach; denn kaum mochte Se. Hoheit eine Stunde zu ruhen geruht haben, so war es mit der Nachtruhe gänzlich vorbei. Der erste Vortrab der Lieferungsemissäre erschien, von Viertelstunde zu Viertelstunde langten andere an, je nach den Entfernungen und den Gesetzen ihrer eigenen Bewegung, und das Getrappel und Getrampel hörte die ganze Nacht nicht auf. Die Pfarrfamilie war aufgeblieben, um die bestellten Gegenstände, man denke sich mit welchen Gefühlen! nach und nach in Empfang zu nehmen. Mit dem frühsten Morgen traf das fürstliche Gefolge auf dem Schauplatz ein. Es hatte seinen Herrn die Nacht hindurch nach allen Richtungen gesucht, mancherlei Abenteuer bestanden, und erst im Dämmerungsgrauen, durch einen mit leeren Händen heimkehrenden Nachzügler zurechtgewiesen, die Fährte des edlen Wildes aufgespürt. Der Prinz, froh, aus den Federn oder vielmehr aus der Spreu und dem Seegras zu kommen, eilte zu den Seinigen hinab, die ihn mit Begeisterung umringten, so daß er die Wohnstube, in der eine ganze Christbescherung ihm erzählt haben würde, wie hoch man ihn zu ehren bestrebt gewesen sei, gar nicht mehr zu sehen bekam. Er bedeutete dem nachstürzenden Pfarrer, daß er jetzt doppelte Eile nöthig habe, um die versäumte Zeit einzubringen, und da er zugleich in der Weise der Großen, die das Wort sehr geschickt von der That abzuschälen wissen, den größten Eifer bezeigte, die Dame des Hauses aufzusuchen, ohne jedoch einen Fuß zu rühren, so blieb dem Pfarrer nichts übrig, als seine Frau herabzurufen.

Der Abschied wurde am Fuße der uns schon bekannten Freitreppe genommen. Der Prinz ging zu seinem Wagen und winkte seinen Reisemarschall heran, der nach kurzer Unterredung zu dem Pfarrer kam und ihm einige Goldstücke „für die Dienerschaft“ einhändigen wollte. Der Pfarrer verbeugte sich ablehnend, indem er mit anständiger Freimüthigkeit erklärte, daß er weder Knecht noch Magd habe, und daß die Bedienung in seinem Hause rein patriarchalisch sei. Excellenz zog sich mit Apprehension zurück und erstattete dem Gebieter Rapport, worauf der Pfarrer an den fürstlichen Wagen gerufen wurde. Der Prinz drückte ihm wiederholt seinen Dank in den gnädigsten Worten aus, und reichte ihm sodann nach einem verlegenen Zaudern von einp aar Secunden aus einer Nische des Wagens sein kostbares Reisefernrohr mit der Bitte, es zum Andenken zu behalten, dar. Eine graziöse Handbewegung, die Pferde zogen an, die andern Wagen folgten, und der Pfarrer sah, den Tubus in der Hand, jedoch mit bloßem Auge, der Erscheinung nach, die trotz der Grundlosigkeit des Weges bald wie ein Traum entschwunden war.

Darauf kehrte er zu dem unterbrochenen Opferfeste der Gastfreundschaft zurück. Da lagen sie nun, die Kostbarkeiten alle; das Meiste war gekauft und bezahlt, das Wenigste konnte zurückgegeben werden. Ein Theil der Eßwaaren forderte schleunigst in Angriff genommen zu werden, wenn er nicht verderben sollte. So war denn im Pfarrhause von Y...burg der Luxus eingezogen, freilich für ein paar Tage bloß, und in den paar theuer erkauften Tagen gedachte der Pfarrer alter unnennbarer Stunden, und ging der Frau und den Kindern ein Begriff vom Paradies der Reichen auf.

Wie aber die feinen Genüsse auch auf die Verfeinerung der Seelenvermögen, besonders der Vorstellungskraft, einwirken, so kam den Pfarrer bei Gänseleberpastete und Bordeaux, bei Rehbraten und Champagner, plötzlich ein Gedanke an, der glücklich genannt zu werden verdiente, falls er nämlich begründet war.

Der Erbprinz von *** galt für einen Fürsten von Geist, idealer Richtung und duftig zartem Gemüth. Die beiden letzteren Eigenschaften hatte er sicherlich bewiesen, als er feinem Wirth, anstatt einer Erkenntlichkeit substantiellerer zugleich aber auch gemeinerer Art, seinen Tubus zum Geschenk gemacht hatte. Wie aber, wenn man auch die erstere der drei Eigenschaften mit in Rechnung nahm, war dann nicht noch eine weitere Deutung des Geschenks erlaubt, ja geboten? War's nicht möglich, war's nicht wahrscheinlich, daß der hohe Geber, der ja gegenwärtig selbst noch nicht freie Hand hatte, dem Pfarrer durch diese Hieroglyphe ganz leise sagen wollte, er solle in die Ferne blicken, er solle sich als auf die Zukunft angewiesen betrachten? Je länger er dem Gedanken nachhing, desto mehr wurde ihm derselbe zur Gewißheit, und durfte daher auf alle Fälle mit Recht ein glücklicher heißen, weil er seinen Urheber glücklich machte, aber auch freilich nur so lang er dies that.

Leider jedoch wurde der Pfarrer schon nach wenigen Tagen aus seinen Himmeln herabgestürzt. Die Zeitungen brachten aus jenem nördlichen Staate die Nachricht vom Hintritt des regierenden Fürsten, vom Regierungsantritt des Erbprinzen und einem zugleich damit eingetretenen großen Systemwechsel, wobei die neuen Ernennungen, sowohl in geistlichen als weltlichen Aemtern, dem Pfarrer sogleich klar machten, daß jetzt oder nie die Anweisung auf die Zukunft, wenn er sie richtig verstanden habe, sich verwirklichen müsse. Während er aber stündlich auf eine Vocation wartete, kam ein Schreiben vom Privatsccretär des auf den Thron gelangten Prinzen, das in verbindlichen, jedoch kahlen Ausdrücken noch einmal den nunmehr allerhöchsten Dank seines gnädigsten Herrn für die freundliche Beherbergung aussprach. Der Blick in dieses Schreiben glich dem Blicke in ein Fernrohr, dessen anderes Ende mit einem Deckel versehen ist.

„Durlach!“ sagte der Pfarrer von Y...burg, und leerte mit Einem trotzigen Zuge sein letztes Glas Bordeaux. Der Name der vormaligen markgräflichen Haupt- und Residenzstadt, den er bei diesem Anlaß und seitdem häufig im Munde führte, trug für ihn eine sprichwörtliche Bedeutung. Er hatte in seinen Universitätsjahren einen alten blödsinnigen Spitaliten gekannt, der sich auf den Gassen herumtrieb und besonders den Studenten zu ihrer Belustigung diente. Diesem hatte vor unzählig vielen Jahren einmal ein Student versprochen, ihn in den Ferien auf eine Reise nach der genannten Stadt mitzunehmen, eine Aussicht, die fortan die Wonne seines Lebens blieb. Was dem liebenden Herzen die Erfüllung des schönsten Traumes, dem ringenden Forscher die Entdeckung der höchsten transscendenten Wahrheit ist, Alles was das Leben schmückt, was werth ist ein Ziel des Wünschens und Hoffens zu sein, stellte sich diesem kindlichen Gemüthe in dem Einen Worte „Durlach“ dar. Er rief es jedem Begegnenden zu, wobei er den Mund bis zu den Ohren verzog. Daß der Traum nie zur Wirklichkeit wurde, kümmerte ihn nicht; ihm genügte, ihn beseligte der bloße Gedanke, und er lebte und webte darin sein ganzes, an die achtzig Jahre füllendes Leben lang, bis er zur ewigen Ruhe und, wie ein frommer Student in der Leichenrede hinzufügte, in das himmlische Durlach einging.

Die Erinnerung an diesen glücklichen Idioten war es, bei welcher der Pfarrer den Ausdruck borgte, um in bitterster Selbstverhöhnung eine zerplatzte Seifenblase und seinen Glauben an sie zu bezeichnen.

Das Haus erholte sich niemals wieder von dem ökonomischen Schlage, den es durch jene Seifenblase erlitten hatte. War es ja doch schon vorher in einer Verfassung gewesen, von der man sich nur schwer erholt! Der Pfarrer hatte sich mit der ihm eigenen finstern Entschlossenheit gleich von der letzten Nagelprobe des französischen Weines weg auf die Bereitung der corrupten Consumtionsmittel geworfen, die wir bereits geschildert haben. Wovon Frau und Kinder sich nährten, ist uns ein Geheimniß geblieben. Wir wissen nur, daß Letztere im Sommer einen großen Theil des Tages im nahen Walde verbrachten, wo der liebe Gott – oder, nach anderer Ansicht, die gütige Natur – verschiedenerlei Beeren wachsen ließ.

Das sonderbare Geschenk des norddeutschen Prinzen hatte unser seit diesem Erlebniß vollendeter Timon erst unwillig in eine Ecke geworfen, und als es ihm wieder in die Augen fiel, so fehlte wenig, daß er es an dem nächsten besten harten Gegenstand zerschmetterte. Indessen besann er sich doch eines Besseren; er begnadigte den Erinnerungszeugen getäuschter Hoffnung und bediente sich desselben fortan zu den Excursionen seiner selbstpeinigenden weltverachtenden Ironie, indem er jeden Morgen, sobald er aufgestanden war, was, wie wir bereits wissen, etwas spät geschah, sich darin gefiel, mit dem Tubus spöttisch durch die leere Luft nach den „besseren künftigen Tagen,“ nach dem „glücklichen goldenen Ziele“ auszuspähen, sodann aber alle Mängel, die ihm die Erde darbot, schiefgewachsene Bäume, schlechtgestellte Zweige und Blätter, plumpgeformte Berge und häßlich knopfige Thürme aufzusuchen, kurz, die ganze Schöpfung recht erbärmlich und besonders die Gegenwart ganz und gar schuftig zu finden. Eine Art Universalrecension, der er, wie gesagt, täglich oblag, und nach deren Beendigung er sich jedesmal mit herabgezogenen Mundwinkeln vom Fenster abwandte, gleich wie man einem mißrathenen Poem, das man so eben gelesen hat, den Rücken kehrt.

Wie sich dieses Recensirhandwerk mit seiner dem Preise des Schöpfers gewidmeten Lebensstellung vertrug, ist eine wohl aufzuwerfende Frage, die wir aber leider nicht zu beantworten vermögen. Von den Predigten dieses mit Gott und der Welt zerfallenen Pfarrers hat sich keine einzige erhalten. Schade, daß sie nicht aufgezeichnet worden sind, sie würden vielleicht einen beachtenswerthen Beitrag zur Geschichte der Kanzelberedsamkeit geliefert haben. Vielleicht auch nicht; denn nicht immer ist der Zwiespalt sichtbar, der zwischen dem inneren Leben und der äußern Berufstreue eines Mannes klaffen kann, und es mag wohl auch vorkommen, daß Sauer und Süß aus Einem Brunnen quillt.

Eine tägliche Gewohnheit, und wäre es auch die des Hasses, prägt gleichwohl der Seele des Menschen eine gewisse Spur von Liebe ein. Der Tubus war dem Pfarrer, trotz der gallenbitteren Eindrücke, die am Ursprung seines Besitzes hafteten, bald unentbehrlich geworden, und das Vergnügen, das er jeden Morgen empfand, wenn er, mit Blicken der Verachtung zwar, die Welt musterte, hatte sich, obwohl er dies standhaft abgeleugnet haben würde, zu einem integrirenden Theile seines Wesens ausgebildet. „Etwas muß der Mensch haben,“ sagt die Weisheit der Völker, und wir sehen an dem vor Augen liegenden Beispiel, daß sie die Wahrheit sagt.

Die unbewußte Befriedigung unseres schwarzsichtigen Fernsehers erreichte jedoch noch einen höheren Grad, als er eines Tages, von Abend nach Morgen schauend, jene Felsennase in der Nähe von A...berg entdeckte, von welcher bereits die Rede gewesen ist. Er erkannte in diesem Naturgebilde das entschiedene Conterfei eines einstigen Universitätsvorgesetzten, von dem er seiner Zeit der Nasen manche erhalten hatte, und gegen den er aus diesem Grunde eine übrigens ungerechte Abneigung bewahrte. In diesem plastischen Portrait concentrirte sich nun Alles, was ihm die Erde Hassenswerthes enthielt. In rauhe Bergesöde gebannt, entsprach dieses Phantasma für ihn einigermaßen dem Sündenbocke, den das auserwählte Volk Gottes zu den Zeiten des alten Bundes, mit allen Missethaten Israels beschwert, dem Asasel in die Wüste jagte. Die übrige Welt konnte jetzt gleichsam von dem Alpdruck seiner täglichen Strafblicke aufathmen – gleichviel ob sie sich diese Vergünstigung zu Nutzen machte oder nicht – während er die ganze Last seines Grolles gegen das steinerne Gesicht entlud. Jeden Morgen zog er es künstlich zu sich heran, gab ihm die Allocutionen zurück, die der wohlmeinende Vorsteher einst an ihn gehalten hatte, wobei er dessen Stimme und Mienenspiel nachahmte, und überhäufte die arme wehrlose Felsenbüste mit Schmähreden ohne Zahl und Ende.

Auf diese Weise war es gekommen, daß er die ganze Zeit über täglich das Pfarrhaus von A...berg mit dem Tubus hart gestreift hatte, ohne von demselben nähere Notiz zu nehmen, bis endlich die bei heftigem Winde weitflatternden Signalflaggen, die wir in Thätigkeit gesehen haben, an dem beobachteten Gegenstande eine leichte Eklipse bewirkten, wodurch die Aufmerksamkeit des Beobachters auf deren Ursache gelenkt und so jener Blick-, Zeichen- und Briefwechsel zweier Deutschen herbeigeführt wurde, der wohl in der Zeitgeschichte kaum seines Gleichen finden dürfte.

Das menschliche Herz ist und bleibt ein unergründliches Räthsel. Der Pfarrer von Y...burg, dieser verbissene Einsiedler, dieser eingefleischte Hypochondrist, dieser unheilbare Misanthrop, war durch die lachende Erscheinung des ihm in A...berg aufgegangenen Vollmondes hingerissen und, für einige Zeit wenigstens, völlig umgewandelt. Der deutlichste Beweis hiefür war, daß er sich entschließen konnte, oder vielmehr sich gedrungen fühlte, sein vertrocknetes Dintenfaß aufzufrischen und aus eigenem Antriebe von der entfernteren Bekanntschaft durch das Sehrohr zu der näheren Befreundung durch die Schreibfeder überzugehen. Der frischen Dinte bedurfte er nämlich, weil er seine Predigten aus dem Stegreif zu halten und auch sonst, amtliche Anlässe ausgenommen, die ihn von Zeit zu Zeit Berichte, Disputationsthesen u. dgl. zu Papier zu bringen nöthigten, von der Erfindung des Thot keinen Gebrauch zu machen pflegte, so daß sein Dintenfaß anhaltenden periodischen Trocknissen unterworfen war 3).

Diese vorübergehende Umwandlung war indessen mehr eine innere als eine äußere; denn auch das Briefschreiben, mit so gutem Recht es in gewissem Sinn ein Herausgehen aus unserem Selbst genannt werden kann, gehört doch immer noch, wenn man es mit dem Reden und mündlich-persönlichen Gebahren vergleicht, den mehr innerlichen Handlungen an, und brachte daher in der einsiedlerischen Lebensweise des Stubenvogels von Y...burg keine Veränderung hervor. Doch verspürte seine Umgebung etwas von dem Freudenschimmer, der in dieses verdüsterte Dasein gefallen war; sie verspürte es aber nur an dem Umstande, daß er sich etwas weniger mürrisch gegen Frau und Kinder anließ, als sonst. Der Grund dieser flüchtigen Aufhellung ihres sonst stets bewölkten Lebenshimmels blieb ihnen verborgen. Wenn daher der Pfarrer von Y...burg, durch die Höflichkeit des Pfarrers und der Pfarrerin von A...berg gezwungen, seine Frau in dem angeknüpften Briefwechsel mit auftreten ließ, so war dies reine Fiction. Er hätte ihr nicht den hundertsten Theil der Worte gegönnt, die erforderlich gewesen wären, ihr zu erklären, warum sie sich diesem unbekannten Paare zu empfehlen habe, und die gute Seele hat vermuthlich während ihres ganzen Erdenwallens niemals eine Silbe davon erfahren, daß einmal eine Zeit lang ein lebhafter und inniger Verkehr zwischen den beiden Pfarrhäusern bestand.

So verhielten sich die Dinge nach außen, so nach innen, als in Y...burg jener Brief des Pfarrers von A...berg ankam, der die diesem selbst noch nicht geoffenbarte Aussicht auf ein persönliches Zusammentreffen beim Landexamen eröffnete. Der Pfarrer von Y...burg las, und ein Gewitter stand auf seiner Stirne. Er warf den Brief zu Boden, Worte ausstoßend, die im Munde eines Exorcisten am Platz gewesen wären. Darauf hatte er nicht gewettet! Von Weitem, mit dem Tubus oder mit der Feder in der Hand, in abstracto, wenn man so sagen darf, konnte er den großen Wurf, eines Freundes Freund zu sein, zur Noth an sich herankommen lassen – aber ein concretes Menschenwesen in die Arme schließen, Stunden oder wohl Tage lang in seiner Atmosphäre aushalten, seinen physischen, moralischen und Gott weiß was noch für weiteren Idiosynkrasieen Rücksicht erweisen, Rechnung tragen zu müssen – nein, das war zu viel für ihn! Dazu die Figur, die er in seines finanziellen Nichts durchbohrendem Gefühle neben der Großmacht von A...berg zu spielen verurtheilt war! Er verfluchte den Dämon der Menschenliebe, den er längst aus sich ausgetrieben zu haben glaubte und der ihm nun so unversehens ein Bein gestellt hatte.

Ausweichen konnte er der Begegnung nicht, das war ihm klar.

Sein Eduard mußte dieses Jahr in's Examen. Schon zweimal hatte er's mit ihm versäumt und sich dadurch in die verdrießliche Lage versetzt, um besondere Erlaubniß einkommen zu müssen, daß der Knabe die dritte und letzte Prüfung mit seiner Altersclasse gleichsam in Pausch und Bogen erstehen dürfe. Dies war eine Anomalie, die nicht gern gestattet wurde und in einer Welt, in der alles Exceptionelle anstößig ist, schon im Voraus ein der Entscheidung ungünstiges Vorurtheil erweckte.

Allein das kümmerte den Pfarrer von Y...burg wenig, denn ihm war es nur um das Examen selbst zu thun, nicht aber um dessen Erfolg.

Daß er den letzteren mit der Zuversicht des Astronomen, der eine Naturerscheinung berechnet, vorausgesagt hatte, war sein völliger Ernst gewesen. Es hatte aber auch zu dieser Sicherheit des Vorherwissens weder einer Kunst noch Wissenschaft bedurft: Eduard's Erziehung bürgte hinlänglich für das Eintreffen der Prophezeiung. Aus Mangel an Dispositionsfonds auf das fast immer zweifelhafte Auskunftsmittel des Selbstunterrichts und auf seine eigenen Kenntnisse, die zwar in ihren Trümmern noch schön sein mochten, beschränkt, hatte er in seiner mißlaunischen Unlust an seinem eigenen Fleisch und Blut ein wahres Miethlingswerk gethan und den übelberathenen Schüler wenig über das buchstäbliche Verständniß von Typto hinaus gefördert, indem er ihn nämlich aus den spärlichen Lehrstunden, die er ihm ertheilte, fast regelmäßig unter Verabreichung etwelcher Ohrfeigen fortjagte, um ihn, wie man sagt, auf der Weide laufen zu lassen.

Zu einiger Rechtfertigung des so unnatürlich scheinenden Vaters darf indessen nicht verschwiegen werden, daß der Sohn in der That auch gar kein genügendes Organ für jene geistigen Sphären zeigte, die man Humaniora nennt. Im Freien aufgewachsen, von Kindheit auf wind- und wetterhart, wußte er Pferde zu tummeln, Ochsen zu bändigen, sämmtliche Hanthierungen, die in dem Orte getrieben wurden, hatte er spielend erlernt, aber im Lateinischen war er, was ein gewisser großer Philosoph laut Schulzeugniß im Fach der Beredsamkeit gewesen sein soll, haud magnus, das Griechische bot ihm nur Einen homogenen Dialekt, der zum Unglück nicht in den Lehrplan taugte, den böotischen, und für das Hebräische hatten ihm die Götter ein ehernes Band um die Stirne geschmiedet. Wenn sein Vater ausnahmsweise gut auf ihn zu sprechen war, so konnte er sagen, es stecke vielleicht in dem Jungen ein Mann der That, der mehr werth wäre als ein Dutzend Gelehrte zusammen, aber bei einer Nation, die, nach Hölderlin's Ausspruch, thatenarm und gedankenvoll sei, möge er zusehen, wie er sich mit dieser Eigenschaft durchschlagen werde.

Und dennoch mußte er diesen Durchfallscandidaten in das Examen schicken, aus welchem der künftige Klerus des Landes hervorgehen sollte. Warum? Es gibt einen Druck der öffentlichen Meinung, der auch den trotzigsten Eigenwillen zwingt. Die öffentliche Meinung aber huldigte nicht bloß der Heiligkeit des geistlichen Berufes, sondern in fast höherem Grade noch der zeitlichen Wohlfahrt, die mit dieser Bestimmung in Perspective stand. Nahrung, Kleidung, Behausung und Heranbildung der jungen Leute auf öffentliche Kosten – später, wenn auch nach mehr oder minder langem Warten, ein sicheres Brod – mit Einem Wort, Versorgung vom zurückgelegten vierzehnten Jahre an auf Lebenszeit – dazu noch, wie nun einmal die öffentliche Meinung glaubte, und wie es wohl auch nicht anders als billig war, möglichste Bevorzugung der Pfarrerssöhne, der Kinder vom Stamme Levi, vor der übrigen dem Tempeldienste zuströmenden Jugend des Landes – alle diese Vortheile für seinen Sohn zu vergeben, ja unversucht in den Wind zu schlagen – das ging nicht an. Er lief Gefahr, anstatt des Sohnes selbst in einer Geistesanstalt untergebracht zu werden, nur in keiner bildenden. Von einem Handwerk, falls er nämlich das Lehrgeld aufbrachte, konnte, ohne Empörung aller Standesgefühle, erst dann die Rede sein, wenn sich der Junge zum Studiren unfähig gezeigt hatte, und das einzige unentgeltliche Studium war das, zu welchem der Weg durch das Landexamen führte. Der Versuch mußte also gemacht werden, das stand fest. Fiel der Junge durch – wohl ihm! Blieb er im Siebe liegen, wie es der Zufall manchmal wunderlich fügt, daß der Mensch die paar Brocken Wissen, die an ihm hängen geblieben sind, verwerthen kann – dann noch besser oder schlimmer! Im einen wie im andern Falle, Cardinal! – so apostrophirte der Pfarrer von Y...burg die unsichtbare Gewalt, die ihn drängte – habe ich das Meinige gethan.

Unter diesen Umständen konnte er es nicht vermeiden, mit dem bisherigen Geistesfreunde nun auch körperlich zusammenzutreffen; denn selbst wenn es ihm gelang, jeder persönlichen Begegnung vorzubeugen, so mußte Jener doch seine Anwesenheit, die in keiner Weise verborgen bleiben konnte, erfahren, und der Widerspruch zwischen diesem unfreundschaftlichen Betragen und dem mit fast leidenschaftlicher Freundschaft geführten Briefwechsel war zu groß, zu auffallend, zu unerklärlich, als daß er sich denselben hätte zu Schulden kommen lassen dürfen.

Hatte er einmal A gesagt, so mußte er jetzt B sagen. So schrieb er denn, wie wir bereits wissen, anscheinend höchst vergnügt zurück, daß er gleichfalls einen Sohn in's Examen bringen und daß hieraus auch den Vätern die Gelegenheit, sich zu sprechen, erblühen werde. Im Herzen aber war er über dieses bevorstehende Freudenfest voll Gift und Galle, und manchen Morgen, wenn er nach A...berg hinauf telegraphirte, begleitete er seine Signale mit schandbaren Reden, jenen ähnlich, die er vordem an den steinernen Nachbar des Freundes zu richten gepflegt hatte. Ahnungslos, wie seiner Zeit die Felsennase, nahm Der die versteckten Demonstrationen entgegen, und schrieb ihm zum Danke dafür manch wohlgesinnten Brief. Aber auch er selbst hatte in dem Briefwechsel zu viele Unterhaltung gefunden, als daß er diese Form des Verhältnisses gar und gänzlich zu den Raben hätte wünschen können. Im Gegentheil war es ihm eine nicht unwillkommene, jedenfalls eine vergleichungsweise tröstliche Aussicht, nach überstandenem Martyrium der Mündlichkeit dereinst zu dem neutraleren schriftlichen Verfahren zurückzukehren.

„Die Zeit kam heran, welche niemals ausbleibt“ – sagt Cervantes gerne, wenn er eine Zwischenzeit überspringen und mit seiner Erzählung zu dem angekündigten Zeitpunkt übergehen will. Zum gleichen Zwecke bietet sich eine in Schwaben geläufige Redensart: „Man spricht das ganze Jahr von der Kirchweih', endlich ist sie.“

So ging es nämlich auch mit dem Landexamen. Es kam heran, es trat in die Reihe der seienden Dinge ein.

Die Straßen der Hauptstadt füllten sich mit alten und jungen Schwarzröcken verschiedenen Schnitts, die einander nur dann gleich waren, daß sie von dem Residenzschnitt bedeutend abwichen.

Ahnungsgrauend schritten die Alten, todesmuthig die Jungen einher, um vorerst die zum Theil noch nie genossenen Herrlichkeiten, besonders die Wachtparade, in Augenschein und Ohrenschmaus zu nehmen.

Die Residenzjugend war gleichfalls auf den Beinen, und belustigte sich, die „Landpomeranzen,“ wie sie die Fremdlinge nannte, auf Schritt und Tritt zu verfolgen. Mancher würdige Vater eines hoffnungsvollen Sohnes mußte es ertragen, daß sich der beliebte Gänsemarsch an seine Fersen heftete. Mancher hoffnungsvolle Sohn eines würdigen Vaters mußte sich mit dem insolenten cuj[u]s es? anschreien lassen, welche Frage nach der Herkunft in ihrer stereotypen Form zu einer höhnischen Bezeichnung des Gegensatzes zwischen Stadt- und Landlateiner dienen sollte.

Die Jungen waren betäubt, die Alten betrübt über die Ruchlosigkeit dieser Jugend; entrüstet Beide; Beide aber auch zugleich von ganz geheimer Bewunderung ihrer freien, kecken Manieren erfüllt.

Der erste der Entscheidungstage war angebrochen.

Schon am frühen Morgen war das als Local des Examens dienende Gymnasiumsgebäude, von dem gebildeteren Theile der weiblichen Bevölkerung damals das „Gennasium“ genannt, ein Schauplatz lebhafter Bewegung. Die Gruppen, die es umringten, bestanden aus Vätern und Verwandten der Prüfungscandidaten. Sie hatten diese ihre Säuglinge nach der Hauptstadt und bis an die Schwelle des Gymnasiums geleitet, wo dieselben streng abgesperrt wurden, um eine Reihe von Aufgaben in verschiedenen Fächern zunächst schriftlich zu lösen, und gingen nun hier ab und zu, um wo möglich an der Luft zu spüren, wie die Examenswitterung beschaffen sei. Man steckte die Köpfe zusammen und theilte sich murmelnd die Vermuthung mit, daß die Aufgaben dieses Jahr schwieriger sein werden, als je zuvor, weil die Prüfungsbehörde wegen des großen Andrangs der Bewerber beschlossen habe, es diesmal mit den Anforderungen an sie haarscharf zu nehmen. Dazwischen trafen sich alte Bekannte und redeten von ihren Jugendtagen, wo sie ebenfalls hier geschwitzt hatten, oder erzählten einander ihre gegenseitigen Familienerlebnisse in Freud und Leid.

Am Mittag wurden diese Gruppen voller und drängten sich dichter um das Haus. Wer von den jungen Leuten mit seinem Pensum zu Ende war, wurde gegen Zurücklassung der Reinschrift in Freiheit gesetzt. Der Erste, der herunter kam, erregte allgemeines Aufsehen. Er mußte sehr geschickt oder sehr leichtsinnig, jedenfalls sehr zuversichtlich sein, daß er es gewagt hatte, allen Andern zuvorzukommen. Man riß sich um ihn, las die Aufgaben vor, kritisirte sie, fand sie unbillig schwer, und die Spannung wuchs mit jedem Augenblicke. Allmählich kamen Andere nach, und ihre Angehörigen säumten nicht, ihre Sudelschriften in Empfang zu nehmen und aus diesen sibyllinischen Blättern die Zukunft der jungen Verfasser zu erforschen. Die verschiedenen Abstufungen des Mienenspiels, welche hiebei zu beobachten waren, vom höchsten Entzücken bis zur äußersten Entmuthigung hinab, boten ein belebtes Bild, das wohl einer malerischen Darstellung würdig gewesen wäre.

Unter diesen Gruppen, doch außerhalb des dichtesten Gedränges, befand sich ein Mann von vorgeschrittenem Embonpoint und lebensfrohem Gesichtsausdruck, worin keine Spur einer Runzel an Bedenklichkeiten oder Zweifelsqualen erinnerte. Er trug einen Rock von sehr dunkelblauer Farbe, die zur Noth, obwohl nicht ganz ordnungsmäßig, die schwarze ersetzen konnte, und war unser alter Freund, der Pfarrer von A...berg. Ein kleines Reisemißgeschick hatte zwar seine Heiterkeit etwas getrübt. Er war nämlich ungemein begierig gewesen, das Felsengesicht, das er in der Nähe nicht ganz sein nennen konnte, sich aus der gehörigen Entfernung anzueignen, und zu diesem Zwecke hatte er seinen Butzengeiger mitgenommen. Unser deutscher Himmel aber hatte ihm unterwegs den Streich gespielt, sich, wie zuweilen die deutsche Philosophie, in Unklarheit zu hüllen, was ihn wirklich auf einige Zeit ganz unglücklich machte. Doch tröstete er sich mit der Hoffnung, auf der Rückreise besseres Glück zu haben, und das Gleichgewicht seines Gemüths war bald wieder so vollkommen hergestellt, daß sämmtliche Staaten des Continents, besonders diejenigen, welche so eben auf dem Wege von Laibach nach Verona waren, ihn um dasselbe hätten beneiden dürfen.

Nichtsdestoweniger begann dieses Gleichgewicht jetzt ein wenig zu vibriren, so daß unser untersetzter Freund sich genöthigt sah, seinen Schwerpunkt in den Zehen zu suchen. Sein Sohn Wilhelm erschien nämlich im Portale des Gymnasiums, und um ihn im Auge zu behalten, mußte er es machen wie ein gewisser Schauspieler, der, sonst einer der trefflichsten Künstler, als Lear bei den Worten: „Jeder Zoll ein König,“ sich auf die Zehen zu erheben pflegte, um in der That und Wahrheit einen Zoll größer zu sein. Vater und Sohn lächelten sich von Weitem an, wie ein Mond den andern anlächeln würde, und der Sohn glich auch dem Vater wie ein Ei dem andern. Auf der hohen weißen Cravatte ruhte behaglich dasselbe rothbackige Gesicht, rund und voll wie sein Ascendent, nur in verjüngtem Maßstabe, und die schneeweißen „Vatermörder“, die es einrahmten, beeinträchtigten so wenig, als bei dem Vater die weiße Halsbinde, das gesunde Roth der Wangen. Mit ruhiger Sicherheit, keinen Schritt beeilend, lavirte der Junge durch das Gewühl auf den Alten zu, der ihm die kurzen Arme entgegen streckte, um mit beiden Händen nach dem Concept seiner Ausarbeitungen zu greifen, und als ihre Finger sich berührten, da konnte man den kurzen wohlgenährten Fingern des Jungen den ernstlichen Vorsatz ansehen, dereinst eben so dick und fleischig zu werden, wie die Finger des Alten waren.

Zuerst das Arithmetische! sagte dieser, in dem Sudelhefte blätternd. Um das Uebrige ist mir nicht bang, aber das Rechnen war nie deine starke Seite. Voilà. „Die Dauer des dreißigjährigen und dann die des siebenjährigen Krieges absteigend in Monaten, Wochen und Tagen zu berechnen“ – etwas captiös, doch nicht übermenschlich! Richtig, ich hab' mir's gleich gedacht: du rechnest den Monat zu vier Wochen – gelt?

Freilich, sagte Wilhelm. Wie denn anders?

Da bekommst du ja nur achtundvierzig Wochen auf's Jahr, bemerkte der Vater verdrießlich. Nun, es wird manchem Andern auch so gegangen sein, setzte er erleichtert hinzu. Aber halt – was muß ich sehen! Seit wann hat die Woche acht Tage?

Man redet ja immer von acht Tagen, wenn man eine Woche bezeichnen will, wendete Wilhelm ein.

Der Pfarrer von A...berg ließ jenen gelinden Desperationslaut vernehmen, welcher hervorgebracht wird, wenn man ein Z ein paarmal hinter einander durch die Zähne einwärts zieht. Nach einer Pause stummen Kopfschüttelns sah er wieder in das Concept, las, nickte von Zeit zu Zeit, und immer mehr klärte sich seine Miene auf. In den Hauptfächern, sagte er, steht es ganz so, wie ich's von dir erwartet habe. Besonders dein Latein ist wahrhaft blühend. Nun, die Arithmetik ist ein Nebenfach, mit dem man's nicht so streng nimmt – und ich werde die Herren darauf aufmerksam machen, daß du, von den irrigen Voraussetzungen abgesehen, formell richtig gerechnet hast. Das ist Alles was man verlangt.

In dieser Weise wurden die einzelnen Arbeiten von den Interessenten durchgenommen, so daß in der kleinen Gelehrtenausstellung ein allgemeines Summen herrschte. Dasselbe wurde jedoch durch eine auffallende Scene unterbrochen.

Während des so eben geschilderten Auftritts kam einer der jungen Candidaten aus dem Gymnasium, den man unwillkürlich näher ansehen mußte. Er war eine hochaufgeschossene, spindeldürre Figur mit eckigem Gesichtsbau, schwarzen Haaren und dunkeln Augen, welche scheu und trutzig über das Gedränge hinschweiften; aus den Aermeln seines fadenscheinigen schwarzen Rockes ragten die Handgelenke nebst einem Theil der Vorderarme unbedeckt hervor. Während er eine Gasse suchte, um aus der Versammlung, die ihm unheimlich zu sein schien, zu entschlüpfen, stürzte ein Mann in einem schwarzen Rock herbei, welches Kleidungsstück ebenfalls sehr abgetragen und zerschlissen aussah, nur daß die Aermel nicht zu kurz waren, und das vermuthlich aus dem einzigen Grunde, weil der Inhaber nicht mehr wuchs. Dagegen waren die Arme dennoch sehr lang, und einen wundersamen Anblick gewährte es, wie er spinnenartig über ein halbes Dutzend Leute hinüber griff, um dem Jungen sein Concept zu entreißen. Daß er dessen Vater war, konnte Niemand bezweifeln, der ihn in's Auge faßte: dieselben schwarzen Haare und Augen, derselbe felsige Knochenbau des Gesichts, nur daß die Ecken viel schärfer hervorstachen, die Furchen viel tiefer eingegraben waren, und endlich in der Miene derselbe dunkle Zug, nur noch weit mehr schattirt.

Wie ein Habicht war der Alte auf die Sudelblätter gestoßen, die der Junge nicht sowohl hergab als vielmehr sich bloß wegnehmen ließ. Und wie der Raubvogel seine Beute erhascht, so hatte das Auge des Vaters auf den ersten Blick eine Stelle entdeckt, die ihn jeder weiteren Untersuchung zu entheben schien. Die Wirkung dieser Stelle war so stark, daß sie seine Fassung überwältigte. Er ließ die Hand mit den Blättern sinken. Unglücklicher! rief er mit lauter Stimme, faßte den Jungen am Flügel, und – fort war er mit ihm um die nächste Ecke.

Dieses tragische Zwischenspiel hatte allgemeine Aufmerksamkeit erregt. Auch der Pfarrer von A...berg, der eben mit seinem kritischen Geschäft zu Ende kam, hatte noch den herzbrechenden Ausruf gehört und sah noch die beiden langen, steifen, hagern Gestalten um die Ecke verschwinden.

Er fragte, und zehn, zwölf andere Stimmen fragten mit ihm, wer dieser darniedergeschmetterte Vater sei.

Der Pfarrer von Y...burg! wurde geantwortet.

Der Pfarrer von A...berg nahm seinen Sohn an der Hand, zog ihn durch das Gedränge und eilte dem Freunde nach. Aber vergebens schaute er an der Ecke Straß' ab Straß' auf. Die beiden Gestalten waren fortgeschossen, wie Ladstöcke, die manchmal den Gewehren unvorsichtiger Schützen enteilen.

Mißmuthig begab er sich mit seinem Sohne in sein Quartier, das er bei einem hochgestellten Vetter aufgeschlagen hatte; denn die Residenz übte in den Zeiten, die dem völligen Aufhören der Naturalwirtschaft vorangingen, immer noch den schönen Brauch der Hauptstadt des jüdischen Landes, wo an den hohen Jahresfesten jedes Haus eine Gastherberge für Gefreundte und Bekannte vom Lande wurde, nur mit dem Unterschiede, daß hier das Fest der ungesäuerten Brode und dort das Landexamen der Magnet war, der den Landsturm von Gästen brachte.

Ein treffliches Mittagsmahl erquickte die Lebensgeister unseres Pfarrers. Da sein Vetter einer der Herren Examinatoren war, so konnte er über Tisch in Form einer Anekdote, die er auf Wilhelm's Unkosten erzählte, seine arithmetische Herzensangelegenheit anbringen, was sehr zu seiner Aufrichtung diente. Er fand denn auch gleich bestätigt, daß der Fehler nicht groß geachtet wurde. Doch mußte der über und über roth gewordene Candidat sich manche Neckerei gefallen lassen, daß er zwischen der asiatisch-ägyptisch-deutschen Woche von sieben Tagen und den Nundinen der Römer einen Vermittlungsversuch gewagt habe.

Auf den Abend wandelte der glückliche Vater in einen öffentlichen Garten, der, damals der einzige in der Residenz, weit und breit eines großen Rufes genoß.

 

Wer zählt die Völker, nennt die Namen,

Die gastlich hier zusammenkamen?

 

Die Chargen des Militärs vom Lieutenant aufwärts bis zum General, höhere Kanzleibeamte, alte und junge Richter, Lehrer der Künste und Wissenschaften, und endlich schwere Bürger, welche mehr Geld in der Tasche hatten, als jene Alle mit einander, das waren die allabendlichen Stammgäste. Hiezu kamen aber noch die Vielen, die das Landexamen in die Stadt geführt hatte, und die nicht Wenigen, welche diese Wimmelzeit zum Stelldichein benützten. Besonders waren es die verschiedenen Altersklassen der Geistlichkeit, die ihre regelmäßigen jährlichen Zusammenkünfte auf diese Zeit zu verlegen liebten. Dieselben wurden im elegantesten Latein in der gelesensten Zeitung des Landes ausgeschrieben, die eben darum manchmal beinahe einem ungarischen Reichstagsblatte glich, wenn nicht in der Latinität ein merklicher Unterschied gewesen wäre. Solchen Aufforderungen zum Zusammenkommen ward von den Betreffenden stets freudig nachgelebt. Man beobachtete dabei zugleich das werdende Geschlecht, und gedachte mit gerechtem Bewußtsein „der alten Zeiten und der alten Schweiz.“

Daß in diesem lebhaften Nationalgewimmel unser Freund von A...berg guter Dinge war, brauchen wir nicht erst zu versichern. Zwar, wer, wie er, eine sehr ausgebreitete Bekanntschaft hatte, dem konnte es begegnen, daß ein Dutzend Freunde zu gleicher Zeit, ohne von einander Notiz zu nehmen, sein Ohr belagerten, und wer, wie er, mit seinem ganzen Wesen darauf angelegt war, Allen gerecht zu werden und Keinen vor den Kopf zu stoßen, der mußte sich einigermaßen im Fegfeuer befinden, Weil er nicht wußte, wem er zuerst antworten solle.

 

Lieber durch Leiden

Möcht' ich mich schlagen,

Als so viel Freuden

Des Lebens ertragen!

 

Indessen eine tüchtige Natur arbeitet sich auch durch Centnerlasten des Glückes hindurch. „Der Braten war so fett, daß wir ihn nicht essen konnten, aber wir aßen ihn doch,“ schrieb jener Knabe in der Schilderung eines Schmauses, zu dem er eingeladen war. Unser Freund lächelte alle zwölf Interpellanten gemüthlich an, nickte in der Runde umher, segelte mit dem Glase durch die Luft, um gleichsam eine allgemeine Benediction zu ertheilen, und hiemit waren sämmtliche Fragen und Zurufe dem Hauptinhalte nach beantwortet.

Nur Eines versetzte ihm den perlenden Kelch der Lebensfreude mit Wermuth: sein Freund von Y...burg, den er bestimmt hier zu finden erwartet hatte, war nicht da, und fand sich auch im ganzen Lauf des Abends nicht ein. Er fragte Bekannte und Unbekannte, beinahe Mann für Mann, vergebens nach ihm. Niemand wußte auch nur von ihm zu sagen, wo er sein Zelt aufgeschlagen habe. Es ist mir unbegreiflich! murmelte ber Pfarrer von A...berg beständig vor sich hin, bis er durch neue Begegnungen und Befreundungen jeweils wieder in den Strudel der heitern Bewegung gerissen wurde.

Schon am folgenden Morgen erfuhr er zweierlei Gründe, deren einer das rätselhafte Benehmen des Freundes rechtfertigte, durch den andern aber wieder aufgehoben wurde. Aus den entscheidenden Kreisen nämlich, das heißt, aus dem Gremium der Examinatoren, verbreitete sich die Nachricht, daß Eduard von Y...burg merkwürdige Arbeit gemacht habe. Nicht bloß hatte er im Griechischen mit den beiden intrikanten Verneinungswörtchen, die schon firmeren Gelehrten manches Bein gestellt haben, ein heilloses Blindekuhspiel getrieben, sondern noch obendrein im Lateinischen eine Todsünde begangen, die nur mit der jenes unglücklichen Helvetiers verglichen werden kann, der sich nirgends mehr in Gesellschaft blicken lassen durfte, weil die Rede von ihm ging, er habe seinen Grundstock angegriffen – kurz, er hatte Ut mit dem Indicativ gesetzt! Wenn der Vater diesen Schnitzer gestern zuerst in's Auge gefaßt hatte, dann war sein tragischer Ausruf freilich gerechtfertigt. Noch mehr war es sein Wegbleiben aus der Gesellschaft. Der Vater eines Sohnes, der Ut mit dem Indicativ gesetzt, konnte nicht unter die Leute gehen.

Aber diesem Schaden Josef's stand ein wunderbarer Triumph gegenüber. Man erfuhr nämlich zugleich, daß der Pfarrerssohn von Y...burg hinwiederum der Einzige gewesen sei, der die arithmetisch-historische Aufgabe vollkommen gelöst habe. Nicht nur hatte er, was von den Wenigsten gerühmt werden konnte, das Verhältniß der Wochen zu den Monaten richtig ausgedrückt, sondern er hatte auch die wahre Dauer der beiden Kriege, von welchen die Frage gestellt war, allein genau angegeben. Während alle übrigen Candidaten dem einen dreißig und dem andern sieben Jahre zuschrieben, hatte er den ersten vom 23. Mai 1618 bis zum 24. October 1648 und den zweiten vom 29. August 1756 bis zum 15. Februar 1763 datirt, mithin nothfolglich ein ganz abweichendes Resultat gewonnen, das obendrein um so glänzender war, als die Berechnung unter diesen Umständen weit größere Schwierigkeiten gehabt hatte. Der Fall war unerhört in den Annalen des Landexamens: derselbe Candidat, dessen Leistungen in den anderen Fächern unter dem Gefrierpunkte geblieben waren, erhielt in der Arithmetik und Historie je zwei große A. Das will nämlich im Zeugniß so viel besagen, als: „Eminent!“ Und wenn er nun auch dennoch durchfiel – und wenn seine historische Errungenschaft durch die unmaßgebliche Bemerkung, daß dabei vielleicht mehr Zahlengedächtniß als Geschichtssinn obgewaltet habe, starke Einbuße erleiden mochte – gleichviel, ein Vater eines Sohnes, der in seinem Testimonio vier große H, besaß, dieser Vater durfte sich mit diesem Sohne sehen lassen.

Der Pfarrer von A...berg ertheilte seinem Wilhelm, als er ihn wieder zum Gymnasialgebäude begleitete und den Pfarrer von Y...burg daselbst abermals nirgends erblickte, den Auftrag, den Sohn desselben beim Hinein- oder Herausgehen aufzusuchen, sich nach dem Quartier der beiden Finsterlinge zu erkundigen und sie jedenfalls für den Abend in „der W.....in Garten“ zu bestellen.

Wilhelm that sein Bestes. Allein der Löwe des dreißig- und siebenjährigen Krieges erschien so spät, daß er nur noch knapp seinen Platz erreichte, ehe das Dictiren der heutigen Aufgaben begann. Während des pythagoräischen Schweigens, das auf diese feierliche Handlung folgte, war kein Verkehr statthaft. Noch weniger konnte es am Schlusse zu einer Annäherung kommen; denn ehe Wilhelm mit dem dritten Theile der Pensen fertig war, hatte Eduard seines Wissens Köcher ausgeleert, legte die Feder nieder, überreichte seine Arbeit dem wachehabenden Professor, und – schnell war seine Spur verloren.

Der Tag verging wie der gestrige.

Vergebens fahndete der Pfarrer von A...berg im Abendcirkel nach dem Freunde, der ihm nur in der Ferne, nicht aber in der Nähe sichtbar sein zu wollen schien. Er schüttelte den Kopf einmal über das andere, ließ manches hinterschlächtige Z durch die Zähne zischen, und entsagte zuletzt gänzlich der Hoffnung, den Unsichtbaren zu sehen, den Unbegreiflichen zu begreifen.

Der dritte der Examenstage, der Tag der mündlichen Prüfung, brach an.

Die zum Schwitzen verordnete Jugend schnürte ihre Bücher in den alterthümlichen Riemen, und eilte dem Schlachtfelde zu, wo der Ausschlag erfolgen sollte; denn heute galt es, den halben Mann von dem ganzen zu unterscheiden.

Wilhelm, sagte der Pfarrer von A...berg zu seinem Sohne, den er heute zum letztenmal begleitete: sag' mir ehrlich, ob dir das Herz nicht klopft. Ein Examinator hat es doch weit besser als ein Examinand, denn Jener ist auf die Fragen vorbereitet und Dieser nicht. Sieh, ich traue dir zwar sehr viel zu, aber – der Mensch mag noch so Vieles wissen, Alles weiß er nicht. Hast du nie daran gedacht, daß just eine Frage an dich kommen könnte, in der du – nicht zu Hause bist?

Freilich, sagte Wilhelm mit Gleichmuth. In diesem Fall gedenke ich die Rede auf einen verwandten Gegenstand hinüber zu spielen; denn es kommt nicht darauf an, daß man Alles weiß, sondern darauf, daß man wo möglich keine Antwort schuldig bleibt.

Der Vater klopfte den Sohn auf die Schulter. Wilhelm, sagte er freudig bewegt, an deiner Carriere hab' ich keinen Zweifel mehr.

Mit diesen Worten schieden sie vor der Schwelle des Gymnasiums.

Im Hinaufsteigen sah sich Wilhelm auf der Treppe unversehens von dem schwärzlichen Aufschößling aus Y...burg angeredet, der ihm sagte, sein Vater lasse den Herrn Pfarrer von A...berg bitten, sich doch ja heut Abend in „der W.....in Garten“ einzufinden.

Wilhelm erwiderte ihm eben so verwundert als erfreut, der seinige habe keinen sehnlicheren Wunsch, als endlich einmal mit dem Herrn Pfarrer von Y...burg zusammenzutreffen, und erzählte, wie die Bemühungen, dieses Glückes theilhaftig zu werden, bis jetzt vergeblich geblieben seien. – Er fragte ihn, wo denn der Herr Vater logire.

Bei Verwandten auf dem Lande in der Nähe, antwortete Eduard, und fügte hinzu, erst heute werde sein Vater von den Abhaltungen frei, die ihn bisher verhindert haben, den Abend in der Stadt zuzubringen.

Sie dürfen auch nicht wegbleiben, sagte Wilhelm zutraulich zu ihm. Mein Vater wird mich gleichfalls mitnehmen.

Eduard sagte zu, so weit es von ihm abhänge, und die Thüre des Prüfungssaales schloß sich hinter ihnen.

Die Angabe, daß er bei Verwandten auf dem Lande wohne, war eine Vexierklappe, mit welcher der Pfarrer von Y...burg seine wahre Adresse verdeckte. Er war vielmehr in der obscursten Winkelkneipe des winkligsten Gäßchens der innersten Altstadt abgestiegen. Seine Käsehändler, die er nach einer wohlfeilen Herberge gefragt, hatten ihm diese Spelunke verrathen. Hier konnte er sein Haupt niederlegen, ohne seinen Etat zu überschreiten. Auch wurde er hier von seinem Y...burger Käse, der zum Besten der Gebrüder Straubinger hieher geliefert wurde, angeheimelt, nur daß er ihn hier ungebraten essen mußte. Home, sweet home! Der Mensch mag auswärts auf Reisen ein Plätzchen finden, wo er sich beinahe heimisch fühlt – am eigenen Herd ist's eben doch immer noch besser! Dagegen traf er hier ein Bier, dem er, obgleich es billig schmeckte, doch den Vorrang vor seinem Corruptionsgebräu unbedingt zugestehen mußte. Und da er mit seinem Sohne ein eigenes Apartement – ein urmals ockergelb angestrichenes Kämmerchen von anderthalb Quadratschuh – inne hatte, so konnte er zu diesem Biere seine scythische Cigarre unangefochten verduften.

Auf diese Weise hatte er den Abend nach seiner Ankunft unter stillen Verwünschungen über den Pfarrer von A...berg, den schuldlos unwissenden Feind seiner Ruhe, dessen Anwesenheit er selbst in diesen angulum terrarum, hereinragen fühlte, nicht eben ganz ungemächlich durchlebt, und eine seinem Sohne vor dem Schlafengehen verabreichte Ohrfeige hatte seinen durch die ungewohnten Eindrücke der Außenwelt etwas gestörten Schwerpunkt vollkommen wieder hergestellt. Eduard hatte nämlich auf die Frage, wie es ihm wohl im Examen gehen werde, die allerdings unpassende Antwort gegeben: „Mir ist's Wurst.“

Und doch trieb es ihn am andern Morgen, am Morgen des ersten Prüfungstages, aus seiner Höhle hinaus. Es war Neugier, verbunden mit jenem dämonischen Zuge, der den Menschen manchmal antreibt, dem Schicksal eine Wette zu bieten. Wenn er dem Pfarrer von A...berg in die Hände fiel, so konnte er nicht mehr zurück, konnte sich ihm über die ganze Prüfungszeit, an den Abenden wenigstens, nicht mehr entziehen. Und dennoch wagte er den Gang. Wie derselbe abgelaufen, haben wir bereits erzählt.

Die Hauptsünde wider den heiligen Donat, die ihm bei dem ersten Blick in Eduard's Sudelheft entgegen sprang, hatte sein nicht ganz eingeschlummertes philologisches Gewissen in allen Tiefen aufgerührt und ihm jenen Ausruf abgenöthigt, der in den Herzen der Ohrenzeugen nachzitterte. Nachdem er aber um etliche Ecken gebogen, stellte sich die verlorene Fassung wieder ein, und es wurde ihm klar, daß der Unglücksfall, den er ja doch in der einen oder andern Form als unvermeidlich vorhergesehen hatte, ihm gerade so gelegen komme, wie oft einem jungen Mädchen, das sich gern in einem schwarzen Kleide sieht, ein Trauerfall.

Er hatte den legitimsten Grund, sich vor der Welt zu verbergen. Niemand konnte es ihm verargen, wenn er den Indicativ seines Sprößlings in Sack und Asche betrauerte. Er zog sich daher in sein göttliches Loch zurück, allwo er sich hermetisch verschloß und seinem Eduard in den Freistunden, die diesem das Examen ließ, hänfenen Weihrauch unter die Nase dampfte. Die übrige Zeit beschäftigte er sich mit einem alten, verstaubten, in Schweinsleder gebundenen Buche, das er im Hause aufgefunden hatte, und das Spitzbubengespräche im Reiche der Todten enthielt, Unterredungen nämlich, worin Cartouche, Nickel List, die vom Schwert zum Rade begnadigten Schloßdiebe Friedrich Wilhelm's I. und andere Celebritäten ihres Jahrhunderts, ihre Confessionen gegen einander austauschten.

Den folgenden Tag schlug die Lage um. Eduard brachte seinem Erzeuger aus dem Examen die Neuigkeit mit, daß er vier große H, in seinem Zeugniß habe.

Woher wußte der Junge dies? Ei, sein Nebensitzer im Examen hatte es ihm unter der Arbeit zugeflüstert. Wie ein Stein, der, in's Wasser gefallen, immer weitere Wellenkreise zieht, hatte sich dieses und manches andere Examinalgeheimniß aus dem Conclave der Examinatoren zu ihren vertrauteren Freunden in der Schaar der betheiligten Väter und Verwandten fortgepflanzt, von diesen war es im Wege gleicher Tradition zu den Uebrigen gekommen, die es sodann unter der Jugend selbst verbreiteten, so daß auch der Isolirteste im Laufe zweier Tage erfahren konnte, wie seine Actien standen. Die Wichtigkeit des Gegenstandes, an welchem die theuersten Interessen des Landes hingen, rechtfertigte dieses geschäftige Treiben, das der officiellen Bekanntmachung des Ergebnisses der Prüfung weit vorgriff.

Dieses war, vermuthlich in Verbindung mit dem compendiösen Umfange dessen, was er zu Papier hatte bringen können, der Grund gewesen, der Eduarden gestern so früh, daß Wilhelm ihm nicht mehr beikommen konnte, aus dem Examen getrieben hatte.

Der Pfarrer von Y...burg war unerachtet seiner in Essig eingemachten Stimmung immer noch Mensch, Vater und Lehrer genug, um den Succeß seines Sohnes mit einiger Genugthuung aufzunehmen. Ueber den Enderfolg des Examens machte er sich zwar nicht die mindeste Illusion, da er wohl wußte, daß Arithmetik und Geschichte nicht die Schlüssel waren, welche die Thüre in das Reich Gottes öffneten. Aber er konnte ihm doch jetzt immerhin jenes Skaldenlied am Heldengrabe singen: „Ehrenvoll ist er gefallen!“ Eben darum aber erkannte er auch, daß seine eigene Position sich verändert hatte, und daß die Entschuldigung, mit der er sich von der Gesellschaft fernhalten konnte, nunmehr wieder weggefallen war. Er entschloß sich daher, in den sauersüßen Apfel zu beißen und seine Spitzbubenhölle mit dem Purgatorium eines Honoratiorencirkels zu vertauschen. Dies sein eigener cynischer Ausdruck, für den wir begreiflicherweise nicht verantwortlich sind.

So gab er denn am Morgen des dritten und letzten Prüfungstages seinem Sohne den Auftrag, dessen Ausführung wir bereits kennen. Dann setzte er sich in dem grauen Kämmerlein mit den antediluvianischen Ockerspuren auf das wackelige, schneidend schmale Bettgestell, baumelte mit den Beinen, die er in dieser schwanken Stellung noch sehr künstlich an sich ziehen mußte, damit sie nicht auf dem Boden aufstanden, und studirte mit einer Attention, wie er sie niemals der Vorbereitung einer Predigt gewidmet hatte, auf sein Benehmen für den Abend. Er wollte so genießbar als möglich sein, freundlich, gemüthlich sogar, aber dabei scharf genug, um Jedermann auf der Zunge zu brennen, also sich ungefähr wie eine mit Zucker und Pfeffer behandelte Melone geben. War dieser Tanz auf dem Seil durchgemacht und das Capital, das er für einen solchen Abend in Bereitschaft gesetzt hatte, aufgezehrt, dann gedachte er alsbald den Staub von den Füßen zu schütteln und die jedenfalls zwischen den Mühlsteinen des persönlichen Zusammentreffens hart bedrohte Freundschaft wieder auf dem Boden der Abstraction und des schriftlichen Verfahrens in Sicherheit zu bringen.

Während aber der Vater diese Anstalten machte, schob der Sohn die Lage der Dinge aus dem zweiten Stadium völlig in das erste zurück. Von den Examinatoren anfangs wegen seiner Kriegslorbeeren nicht ohne alle Achtung behandelt, verscherzte er diese stündlich mehr und mehr. Nachdem er im Lateinischen und Griechischen Böcke geschossen hatte, welche wegen ihrer Unglaublichkeit nicht mittheilbar sind, stieß er im Hebräischen – denn auch hierin wurde in jenem ehernen Zeitalter schon ein Scherflein Leistung gefordert – dem Fasse vollends den Boden aus. Zum Lesen und Uebersetzen einer Stelle aufgefordert, konnte er weder das eine noch das andere, mußte sich Buchstaben für Buchstaben, Wort für Wort vorsagen lassen, und zeichnete sich, als es zur Sinnerklärung kam, durch eine, man möchte sagen, pharaonische Verstocktheit aus.

Die vorhergehenden Examinatoren hatten ihn nach und nach aufgegeben. Der Mann des Semitischen aber, ein sehr hartnäckiger Würmerbohrer, wollte ihn durchaus nicht loslassen, sondern setzte ihm erst mit grammatikalischen, dann mit religionsgeschichtlichen Fragen zu, und wollte sich um jeden Preis rühmen können, eine Antwort aus ihm herausgefoltert zu haben. Der Vers enthielt unter Anderem eine Anspielung auf die Erscheinung, die Moses im Busch gehabt. Da nun der Candidat beharrlich schwieg, so sagte der Professor zuletzt verächtlich: Dann werden Sie mir wenigstens sagen können, wer das ist, der dem großen Gesetzgeber im Busch erschien? – der Bewohner des Busches? – der da wohnete im Busch? – nun? – nun? – nun? – es ist eine Kinderfrage – nun?

Der Candidat schwieg und machte eine Miene, worauf ziemlich leserlich die Antwort geschrieben stand, die er vorgestern Nacht seinem Vater gegeben hatte. Der Professor aber hörte nicht auf, mit dem zum Marterwerkzeuge geschliffenen, kurzgestoßenen „Nun?“ auf ihn hinein zu dolchen, bis das eckige Gesicht in convulsivischen Bewegungen, gleich denen eines Nußknackers, arbeitete.

Der Wohner im Busche? – nun? – wer ist das?

– nun? – nun? – nun?

Der Has'! fuhr Eduard endlich mit finsterer Entschlossenheit heraus.

Da erhob sich ein Gelächter, daß das Haus in seinen Grundfesten wankte. Ja, man will wissen, daß zu dem Neubau desselben, den die Oberschulbehörde nach Jahr und Tag anordnen mußte, an diesem Tage der erste Grund gelegt worden sei.

Der Professor ging mit großen Schritten im Saale auf und ab. Er bohrte den Kopf in die Cravatte. Dreimal setzte er an, um etwas Fulminantes zu sagen, aber dreimal blieb ihm die Stimme in der Kehle kleben. Zuletzt trat er mit einer raschen Wendung zu einem andern Candidaten und setzte die Prüfung fort, den Verworfenen keines Blickes weiter würdigend.

Eduard von Y...burg saß von nun an wie gezeichnet da. Auch seine Mitcandidaten, nachdem sie genug gelacht hatten, sahen ihn nur noch mit scheuen Augen an. Eine so titanische Unwissenheit mußte ihren Träger gleichsam von der übrigen Menschheit absondern. Er aber kümmerte sich nichts darum, vielmehr schien er froh zu sein, daß seine Ausgestoßenheit ihn aller ferneren Prüfungsqualen und Fragepeinigungen überhob.

Wilhelm von A...berg befand sich in peinlicher Verlegenheit. Wie sollte er sich nunmehr gegen seinen neuen Bekannten verhalten, nachdem dieser zum Paria herabgesunken war? Er kam auf den schlauen Einfall, das gestrige Benehmen desselben zu adoptiren. Begünstigt durch den Platz, den er ziemlich nahe bei der Thüre hatte, drückte er sich nach beendigter Prüfung so rasch als möglich, entkam hiedurch jeder Berührung mit der fatal gewordenen Persönlichkeit, flog eilends zu seinem Vater, und erzählte ihm, welche entsetzliche Eule dem Sohne des Pfarrers von Y...burg aufgesessen sei.

Nun kommt er heut Abend zweimal nicht, versetzte der Pfarrer von A...berg wehmüthig.

Eduard aber hütete sich wohl, seinem Vater etwas von dem Abenteuer zu sagen, das er in dem brennenden Busche bestanden hatte. Daher, als der Pfarrer von A...berg mit seinem Sohne Abends in den uns schon bekannten Garten kam, war das Erste, was Wilhelmen in die Augen fiel, der Held des Tages, der mit großer Gemüthsruhe an der Kugelbahn stand und den Wechselschicksalen der Neune zusah. Die ältere Ausgabe desselben dunklen Textes befand sich nicht weit davon, und schaute mit jener eigenthümlichen Art von Behagen, die bei manchen Menschen mit einem ingrimmigen Gesichtsausdruck vereinbar, ja von ihm unzertrennlich ist, in das Menschengewühl, das zwischen den Tischen im Garten hin und her wogte.

Um's Himmels willen, Vater, sagte Wilhelm ängstlich, indem er diesen am Handgelenke preßte, da ist der Eduard von Y...burg! Und das dort muß nothwendig sein Vater sein!

Wahrhaftig, so ist's! sagte der Pfarrer von A...berg. Komm, wir wollen gleich auf sie lossteuern. Nimm du dich des Jungen an, der hier sehr verlassen sein wird.

Wilhelm sah ihn fragend und bedenklich an.

Thu's nur! flüsterte sein Vater. Ich werde es den Herren schon im rechten Lichte darstellen, damit es deinem guten Ruf nicht schaden kann.

Nach diesen heimlich gewechselten Worten, während welcher beide scheinbar nach andern Seiten hingesehen hatten, eilte der Pfarrer von A...berg, so schnell ihn seine kurzen Beine tragen konnten, mit einem Ausruf der Freude und Ueberraschung auf den Pfarrer von Y...burg zu, der ihn seinerseits ebenfalls sogleich erkannte. Er öffnete die langen Arme, der Freund stürzte sich hinein, und – zu gleicher Zeit prallten beide, jedoch nur im Herzen, vor einander zurück!

Es ist gefährlich, eine Freundschaft auf dem Papier anzuknüpfen. Das Papier ist – wiewohl auch nicht immer – das Reich der schönen Formen, die Körperwelt ist – wenigstens sehr häufig – das Gegentheil davon. Wer hat nicht schon einen Schriftsteller aus seinen Werken liebgewonnen und sich die höchste persönliche Vorstellung von ihm gemacht? Es läßt ihm keine Ruhe, er muß sein Auge durch Anschauen der Persönlichkeit erquicken, er reist, er kommt und sieht – die Kehrseite der Stickerei! Es gibt, wo nicht Nationen und Völkerschaften, so doch Zeiten und Epochen in der Entwickelung derselben, wo die vollendete Form nur innerlich, äußerlich nur die vollendete Formlosigkeit oder gar die entschiedene Un- und Mißform zur Erscheinung kommt.

Der Pfarrer von A...berg war zu dick und besonders im Gesicht zu fettglänzend, um geistreich, der Pfarrer von Y...burg zu dürr und besonders im Gesicht zu gelbtrocken, um liebreich auszusehen. Der Pfarrer von A...berg dachte: „Aus diesen Zügen spricht kein Herz.“ Der Pfarrer von Y...burg dachte: „In diesem Talge brennt kein Licht.“ Eine meilenweite Abstoßung war an die Stelle der Anziehung getreten, welche die beiderseitigen Briefe ausgeübt hatten.

Beide verbargen jedoch ihre Empfindungen Jeder am Halse des Andern. Beide thaten das Möglichste, von Glück zu strahlen. Der Pfarrer von A...berg nahm den Freund an der Hand und führte ihn seiner Gesellschaft zu, welche mehrere Tische füllte. Da er bereits Abend für Abend die staunenswerthe Geschichte der Genesis dieser Freundschaft erzählt hatte, so erkannte Jedermann sofort den Pfarrer von Y...burg, der seinerseits das eigenthümliche Lächeln, das er rings verbreitet sah, anfänglich auf Rechnung eben dieses Ereignisses schrieb. Er ließ sich daher ruhig nieder, die beiden Freunde tranken unverweilt Brüderschaft, und die Unterhaltung versprach in den besten Gang zu kommen.

Mittlerweile war Wilhelm dem Gebote seines Vaters nachgekommen. Da jedoch ein Stückchen Diplomat in ihm steckte, hatte er Eduarden eingeladen, sich mit ihm nach dem See zu begeben, wo sie der zahlreich im Garten anwesenden Jugend, die den Umgang eines der Krösuse des Landexamens mit dem Irus desselben auffallend finden mußte, ziemlich aus den Augen gerückt waren.

Der See war ein Ententeich an einer minder belebten Seite des Gartens. Er war stark mit wackelndem Geflügel bevölkert. Auch befand sich nicht weit davon das Hauptquartier der Landmacht, bestehend in einer großen Hühnerschaar unter den Befehlen eines prächtigen schwarzen Hahns. Damals sah man noch nicht jene cochinchinesischen Podagristen, die zwar von den Eroberungen der abendländischen Civilisation im fernsten Osten zeugen, dafür aber auch zugleich die sterbliche Ferse dieser Erfolge versinnbilden, indem sie, bei jedem Schritt in die Kniee zu sitzen genöthigt, den schönsten Garten zu einer Invalidenanstalt machen. Damals herrschte noch in unsern Gärten und Höfen, frisch, fromm, fröhlich, frei, der deutsche Hahn in seinem Jünglings- oder Mannesbewußtsein, in seiner goldbraunen, seiner bläulichschwarzen Schönheit, und mit jenem unergründlich dämonischen Zuge, der dem Herrn der Ratten und der Mäuse verwandt genug dünkte, um sich mit der Feder des wackern Jungen zu schmücken.

Ein altergrauer offener Pavillon am Gestade des Teichs nahm die beiden ungleichen Gäste auf. Wilhelm, den sein Vater mit paraten Mitteln versehen hatte, machte den Wirth, sorgte für Bier, für Wurst, und trippelte geschäftig hin und wieder, um der Verlegenheit einer Gesprächsanknüpfung so lang als möglich auszuweichen. Nachdem es aber nichts mehr zu sorgen gab, sofern der Wurstvonath, als der Vergangenheit angehörig, keinen weiteren Zuspruch motivirte, und die Flasche, die zweite an der Zahl, sich in eine zu freimüthige Selbstbewegung gesetzt hatte, um wiederholte Nöthigung zu rechtfertigen, da fühlte Wilhelm, daß es für einen Sohn aus gebildetem Hause an der Zeit sei, einen soliden Redeaustausch herbeizuführen.

Welchen Anlauf er jedoch nehmen mochte, immer lag der heutige Vorfall als Barrikade dazwischen. Bei jedem Worte fürchtete er, es könnte ihm als eine versteckte Anspielung ausgelegt werden, und faßte daher endlich den Entschluß, geradezu, jedoch mit einer abermals höchst diplomatischen Wendung, auf den Feind loszugehen.

Aber hören Sie, begann er, Sie sind ein rechter Strick! Sie haben heut den Claviculus Salomonis – so nannte man den hebräischen Professor – teufelmäßig verhöhnt!

Mochte er nun das Richtige getroffen haben, oder mochte es dem verunglückten Candidaten schmeicheln, daß man seine Ignoranz für Bosheit hielt – Eduard erwiderte diese Anerkennung mit einem Blick der innigsten Freundschaft und stieß ein äußerst vergnügtes Gelächter aus. Nun? – nun? – nun? – rief er wiederholt, indem er mit großem Geschick die Stimme des Examinators nachahmte und dazu wie dieser den Kopf in den Hals hinunter bohrte, worüber Wilhelm vor Lachen platzen wollte.

Wenn das Faß auf allen Seiten rinnt, sagte Eduard, als sich Beide müde gelacht hatten, so muß man ihm lieber selbst den Boden ausstoßen.

Er gestand nun seinem jungen Gönner, wie er sich glücklich fühle, dem geistlichen Elende für immer entgangen zu sein, und wie er absichtlich auf dieses Ziel hingearbeitet haben würde, wenn er nicht vorausgesehen hätte, daß die Sache sich ganz naturgemäß von selber machen werde.

Wilhelm fragte ihn, was er denn aber werden wolle?

Am liebsten Has' im Busch! erwiderte Eduard, seine eigene eckige Person dem Gelächter preisgebend, in welches alsbald Beide von Neuem einstimmten.

Lepus timidus! rief Wilhelm. Das wäre doch ein ruhmloser Beruf, von dem man obendrein nicht einmal sagen könnte: bene qui latuit bene vixit.

Eduard schämte sich nicht, um eine Uebersetzung dieses Brockens zu bitten. Und warum denn nicht? fragte er dann. Wenn ein gutes Versteck auch nur vor dem Examen schützt, so ist es schon mehr werth als eine Lebensversicherung.

Zugegeben, sagte Wilhelm lachend. Aber vor dem Schwitztag, da die Hunde das Examen halten, ist er eben im besten Versteck nicht sicher, weil sie ihn doch zuletzt kriegen, den dummen Kerl.

Er hatte diese Bemerkung über den Hasen bloß gemacht, um etwas zu sagen, damit die Conversation nicht einschliefe. Unvermuthet aber hatte er das rechte Register gezogen, bei dessen Klange Eduard in's Feuer gerieth.

Da sind Sie schief gewickelt! rief dieser eifrig. Es ist bei den Hasen wie bei den Menschen, es gibt dumme und gescheide. Ich hab' einmal einem Hasen zugesehen, dem die Hunde über eine Stunde lang vergebens zugesetzt hatten. Als es ihm entleidet war, trieb er einen andern Hasen auf, legte sich in dessen Lager, und sah pomadig zu, wie die Hunde, ohne die Verwechslung zu merken, diesen seinen Einsteher jagten und am Ende faßten.

Das wäre! rief Wilhelm.

Eduard, der sich jetzt ganz auf seinem Felde fühlte, fuhr fort, die erstaunlichsten Geschichten aus dem Thierleben zu erzählen. Nachdem er gar von einem Hasen berichtet, der dem verfolgenden Hunde endlich in's Gesicht gesprungen sei, so daß dieser vor Schrecken Reißaus genommen habe, ging er auf den Specht über und erzählte, wie dieser Baumhacker ihn einmal, da er denselben mit der Flinte gefehlt, unter einem wahrhaft höllischen Hohngeschrei von Baum zu Baum bis an den Ausgang des Waldes begleitet habe, ohne sich durch das mehrmals nach ihm gerichtete Gewehr aus der Fassung bringen zu lassen, weil er wohl gewußt, daß kein Schuß mehr im Laufe sei.

Dann erzählte er von den Raben, sie seien zwar sehr abgeführte Patrone, die auf sich zielen lassen, ohne sich zu rühren, bis sie den Finger am Drücker in Bewegung sehen; dann fliegen sie, eben noch im letzten Augenblick, weg, den Schützen seinem Aerger überlassend. Nur zählen können sie nicht. Er belegte dies mit der Geschichte eines seiner Vertrauten, eines Wilderers, der den Raben in einem Versteck am Walde manchen Tag vergebens aufgelauert hatte. Sie hatten ihn mit dem Gewehr in seine Hütte gehen sehen, und kamen nicht auf Schußweite heran. Zuletzt verfiel er darauf, einen Andern, der gleichfalls ein Gewehr tragen mußte, in seine Hütte mitzunehmen und nach einiger Zeit wieder fortzuschicken. Nun glaubten die Raben, die den Mann mit der Flinte hatten fortgehen sehen, das Feld sei rein, und ließen sich seitdem nach Bequemlichkeit schießen, so oft dieser Kunstgriff angewendet wurde. Auch wurden sie nicht durch Schaden klug, daß sie hätten Zwei zählen gelernt.

Da wär's ihnen wohl schwer geworden, die Dauer des dreißigjährigen Krieges anzugeben, bemerkte Wilhelm verbindlich.

Eduard, nachdem er diese Höflichkeit mit einem dankbaren Lächeln erwidert, fuhr unermüdlich in seinen Geschichten fort. Er flunkerte zwar ein wenig. Er behauptete, er habe ein Eichhörnchen auf einem großen Schilfblatt über eine zum Ueberspringen zu breite Stelle eines Waldbaches schiffen sehen, wobei es seinen Schwanz als Segel aufgespannt, um den Wind zu fangen, und mit einem Fuße gerudert habe. Er erzählte ein wundervolles Beispiel von der Schlauheit eines Frosches, der, als eine Gans ihn habe fressen wollen, das Gegentheil von der bekannten Mechanik des Ulmer Spatzen angewendet habe. Dieser trug bekanntlich den Strohhalm im Schnabel den langen Weg durch das Thor, um den Bauleuten zu zeigen, wie sie es angreifen müssen, um den Balken hindurchzubringen. Der Frosch aber habe in seiner Gefahr und Todesnoth geschwind ein Stecklein aufgerafft, dasselbe queer im Maul gehalten und so fest darauf gebissen, daß die Gans nicht im Stande gewesen sei, ihren Verschlingungsversuch zu vollenden. Nun wissen jedoch die Naturforscher, daß die Gänse grundsätzlich keine Frösche fressen, folglich sie auch nicht zu Erfindungen in der Mechanik veranlassen. Die Ueberfahrt des Eichhörnchens sodann mochte wohl auch billig zu den vielen fabelhaften Seeabenteuern, woran die Geschichte der Schifffahrt so reich ist, gerechnet werden. Wilhelm jedoch war kein Naturkundiger, und erfreute sich der Mittheilungen seines Freundes ohne alle Kritik.

Eduard erzählte, nicht eben was der Wald sich erzählt, aber doch was im Walde vorgeht. Er kannte alle Kräuter, Halme, Sträucher, Stauden und Bäume, und letztere nicht bloß von der Wurzel bis zum Gipfel, sondern auch in ihren wohnlichen Beziehungen und Verhältnissen, sofern es nämlich keinen Baum gab, den er nicht erklettert hatte, um in die Vogelnester zu gucken. Von jedem Vogel wußte er zu sagen, wie viele und welcherlei Farbe Eier er lege, und wie er sein Nest baue, bis auf jenen Sonderling, der kein eigen Haus hat, sondern sich, auf fremde Unkosten jedoch und ohne Hauszins zu bezahlen, in der Miethe behilft.

Ist es denn wahr, fragte Wilhelm hastig dazwischen, daß dieser undankbare Kostgänger seine eigene Pflegemutter frißt? – Diese Frage enthielt ungefähr Alles was er aus der Naturgeschichte wußte.

In der Geschwindigkeit mag's ihm mitunter passiren, absichtlich thut er's nicht, belehrte ihn Eduard. Es gibt nichts Heißhungrigeres als einen jungen Kukuk, und wenn die Grasmücke, oder wer ihn just in Kost genommen hat, ihm beim Aezen den Schnabel und Kopf etwas zu tief in seinen weiten Rachen steckt, so ist er wohl capabel, aus Freßgier das mütterliche Haupt mitzuschlucken, aber, wie gesagt, nur im unüberlegten Eifer und Geschäfte halber an nichts denkend.

Am ausführlichsten erzählte er von dem Staatsleben der Ameisen in Wald und Feld. Er beschrieb, mit welcher Aufopferung sie für die Civilliste ihres königlichen Hauses sorgen, wie uneigennützig jeder Einzelne für die Gesammtheit arbeite, wie tapfer jeder Soldat den Staat vertheidige. Er konnte kaum aufhören den industriellen Ehrgeiz dieser kleinen Arbeiter zu schildern, wie sie Lasten schleppen, die im Verhältniß zu ihrem Körper Alles übertreffen, was der zweibeinige Lastträger sich auflade; wie sie sechsmal darunter zusammenbrechen und immer wieder von Neuem angreifen, bis endlich Andere dem erliegenden Arbeitsgenossen zu Hilfe kommen; wie der Einzelne, wenn er kein eßbares Körnlein gefunden habe, wenigstens ein trockenes Blättchen oder ein Stückchen dürre Erde zum Boden der Speisekammer herbeischleppe, weil er sich schämen würde, mit leeren Händen heim zu kommen. Zu geschweigen von ihrem Witterungssinn, der sie lehre, ihren gemeinschaftlichen Vorrath, den sie bei gutem Wetter täglich zum Trocknen in die Sonne heraustragen, vor einem Regen stets so sicher in's Nest zurückzubringen, wie jene Reichsbürger ihre Spritzen immer acht Tage vor einer Feuersbrunst probirten, – hatte er einst einen Zug von Klugheit an ihnen belauscht, der seinen Zuhörer, unter Mitwirkung der dritten Flasche, bei welcher sie angelangt waren, bis zu Thränen rührte. Eine Ameisenrepublik war nämlich einmal auf den Einfall gekommen, ihr Korn zu monden, statt es zu sonnen. Als er sich nach der Ursache dieser seltsamen Maßregel umsah, entdeckte er, daß sich den Tag über Tauben in der Nähe aufhielten, welche den Körnerfrüchten gleichfalls nicht abhold sind. Er verjagte sie, und sobald die plagiarischen Vögel entfernt waren, brachten die Ameisen ihren Vorrath wieder bei Tage auf den Trockenplatz.

Dürfen wir uns hier nebenbei eine Bemerkung erlauben, so meinen wir die letztere Beobachtung um so mehr für anerkennenswerth erklären zu sollen, da die Lehre, daß auch der Mond einen gelinden Grad von Wärme entwickle, damals in der Naturwissenschaft noch wenig vertreten war.

Dem sei indessen wie ihm wolle – Wilhelm's lateinische Seele, die ihre bisherige Knospenzeit über Büchern und Vokabeln verlebt hatte, sog die ungewohnten Naturtöne durstig ein. Der so günstig situirte Nutznießer dieser Seele ahnte heut zum ersten Mal, daß ein voller Schulsack den Menschen nicht völlig ausfülle, auf die Dauer glücklich mache und vor allen Anfechtungen des Lebens bewahre. Es überkam ihn wie eine Erleuchtung, daß er neben diesem Auswürfling der werdenden gelehrten Welt nur etwas Halbes sei, daß, wenn er ihm allerdings auch mit einer schönen Dosis Grammatik auf die Beine helfen könnte, derselbe doch andererseits hinwiederum ihn selbst gar wesentlich ergänzen würde.

Animae dimidium meae, rief er in plötzlicher Begeisterung, wir müssen nothwendig smolliren!.

Nachdem Eduard sich diese Ausdrücke hatte verdolmetschen lassen, erklärte er, daß er dabei sei, und die beiden Söhne tranken in so kunstgerechten Formen Brüderschaft, wie die Väter sie vorhin getrunken hatten. Es gehörte zu Wilhelm's humanistischer Bildung, die Formen des Smollis und Fiducit „los zu haben.“

Bruderherz, begann er, nachdem die feierliche Pause auf diesen erhabenen Act verstrichen war, es ist doch teufelmäßig schade, daß du durchfallen wirst. Sieh, wir beide, wenn wir in Ein Individuum zusammengeschmolzen wären, oder wenn wir wenigstens mit einander unsern Lauf durch die Klöster machen könnten, wir wollten es mit der ganzen Welt aufnehmen. Was sagt Don Carlos? „Arm in Arm mit dir, so fordr' ich mein Jahrhundert in die Schranken!“

Ja, das ist nun nicht anders zu machen, versetzte Eduard.

Was hast du denn jetzt vor? fragte Wilhelm.

Eduard blickte sinnend in das fallende Laub der Bäume. An die tausend Ohrfeigen, begann er nach einer Weile, hab' ich von meinem Alten nach und nach eingenommen. Ich führe strenge Rechnung darüber. Wenn das Tausend vollends voll ist – weit ist's nicht mehr davon, und da er nach dem Ausgang des Examens nicht weiß, was er mit mir anfangen soll, so wird er's bald dahin gebracht haben – dann warte ich die tausend und erste nicht ab, sondern gehe zum Teufel.

Was? du wirst doch nicht per brennen wollen! rief Wilhelm erschrocken.

Was heißt das? fragte Eduard.

Nun, eben das, was du gesagt hast: durch die Latten gehen. Was wolltest du denn in der Welt anfangen, allein und ohne Hilfe?

Das ist meine geringste Sorge. Ich freue mich schon darauf, dir einmal meine Abenteuer zu erzählen.

Immer höher sah Wilhelm an diesem jungen Menschen empor, aus dessen Selbstvertrauen schon ein fertiger Mannescharakter sprechen zu wollen schien, neben welchem er selbst, in seiner festgesetzten, vorsorgenden, leitenden Laufbahn, sich fast wie das Kindlein in der Wiege vorkam. Es war ihm, dem Sohn des Glücks, als ob er in diesem seinem Widerspiel vielmehr eine Stütze und einen Stab gefunden hätte, den er nimmermehr von der Hand lassen sollte.

Werden wir uns denn jemals wieder sehen? fragte er wehmüthig.

Gewiß! antwortete Eduard. Wir wollen ein Losungswort verabreden, an dem wir einander wieder erkennen, wenn auch die Jahre uns noch so sehr verändert haben sollten. Wiewohl, setzte er lachend hinzu, meine Figur wird sich immer gleich bleiben, und ein Steckbrief, den man mir heut schriebe, würde noch nach zwanzig Jahren seine gute Wirkung thun.

Gib die Parole, sagte Wilhelm.

Gib du sie, entgegnete Eduard. Du weißt mehr als ich.

Wilhelm dachte eine Weile nach. Biribinker! sagte er endlich.

Was ist das für ein Thier? fragte Eduard.

Wilhelm hatte kürzlich, zur Erholung zwischen seinen Vorbereitungen auf das Examen, den Don Sylvio von Rosalva gelesen, worin die Geschichte des Prinzen jenes Namens eingeflochten ist. Er erzählte sie, und die beiden Knaben lachten mit unbefangener Ausgelassenheit über die verfänglichen, muthwilligen Einfälle, welche die „zierliche Jungfrau von Weimar“ in jenem Feenmärchen zum Besten gibt.

Gut! rief Eduard. Biribinker soll unsere Losung sein.

Sie stießen darauf an und versicherten einander unter begeisterten Schwüren eines ewigen, unauslöschlichen Andenkens.

Dann begaben sie sich in die an den Garten stoßenden Wirthschaftszimmer, in die sich die Gesellschaft bei der zunehmenden Kühle des Abends schon längst zurückgezogen hatte. Die übrige Jugend war nach Hause oder in ihre Gastquartiere entlassen worden. Die beiden Knaben setzten sich hinter den Ofen, um im Trockenen mit anzuhören, was von den Erwachsenen inter pocula gesprechen wurde, und des Aufbruchs ihrer Väter zu harren.

Hier hatte sich der anfangs heitere Honzont nach und nach getrübt.

Dem Pfarrer von Y...burg war das stehende Lächeln, das ihm die Gesellschaft entgegen hielt, allmählich mehr und mehr aufgefallen, und das um so unangenehmer, als es, bei einzelnen Mitgliedern wenigstens, mit einem stillen Mitleid tingirt erschien. Er fragte seinen Freund von A...berg mit großer Schärfe in Blick und Ton, was das sonderbare Benehmen der Leute bedeuten solle.

Dieser befand sich in peinlicher Verlegenheit. Er wußte nicht, ob Eduard seinem Vater gestanden hatte, was ihm im heutigen Examen begegnet war; indessen hatte er allen Grund zu glauben, daß dies nicht geschehen sei, denn wie hätte der Pfarrer von Y...burg sonst so ruhig und selbstbewußt auftreten können? Daß aber die Geschichte mit dem brennenden Busch bereits zum Stadtgespräche geworden war, daß sämmtliche Anwesende darum wußten – ihm das zu sagen, war vollends die reine Unmöglichkeit.

Er gab daher vor, es sei hierorts eben einmal die Art, dem Fremden ein solches Gesicht zu machen; dasselbe bedeute eine gewisse Leutseligkeit mit großstädtischem Selbstgefühl gepaart, jedoch nicht ganz ohne Verlegenheit, eine Mischung also, für die es keinen andern Ausdruck gebe als diese stehende Form.

Der Pfarrer von Y...burg brummte dagegen, diese Form komme ihm ziemlich blödsinnig vor. Er sagte es zwar nur halblaut, aber doch mit so viel Nachdruck, daß seine Worte reichlich in ein halbes Dutzend Ohren fielen. Das Lächeln nahm alsbald von mehreren Seiten einen spitzeren Charakter an, wodurch seine Gereiztheit nur noch stieg. Er glaubte dem Freunde nicht, sondern fühlte sich als das Stichblatt einer stillen Geringschätzung, die nach seinem Dafürhalten wohl nur daher kommen konnte, daß er vom Lande, unbekannt und nicht in den besten Umständen war.

In seinem menschenfeindlichen Herzen begann die Rache zu kochen.

Er hatte in den paar Tagen seines Hierseins von seiner Wirthin, die er häufig vor der Thüre seiner Spelunke mit Nachbarinnen und Mägden schwatzen hörte, unwillkürlich einen stattlichen Vorrath Beiträge zur Skandalchronik der Stadt und des Landes aufgeladen. Von diesen machte er jetzt zu seiner Genugthuung Gebrauch, indem er bei der ersten Gelegenheit ein Kreuzfeuer von Streifschüssen, Anspielungen und Hühneraugentritten eröffnete, welche um so furchtbarer wirkten, als ein Mann, der in seiner Einsiedelei so Vieles aus der Welt erfahren zu haben schien, für noch weit allwissender gehalten werden mußte, als er in Wirklichkeit war.

Es dauerte denn auch nur kurze Zeit, so war der dunkelgesichtige Pfarrer von Y...burg der gefürchtetste Gast am Tische; denn wer auch für sich selbst keine Hühneraugen hat, der ist doch häufig mit näheren oder ferneren Angehörigen begabt, so welche haben. Die spöttischen Mienen verschwanden, aber dafür tauchten Blicke des Hasses auf, die den armen Pfarrer von A...berg auf glühende Kohlen setzten und jeden Augenblick eine gefährliche Katastrophe besorgen ließen.

Da stürzten zu seiner großen Erleichterung ein paar Nachzügler mit einer politischen Neuigkeit in die Versammlung. Wißt ihr's noch nicht? riefen sie. So eben ist die Nachricht beim östreichischen Gesandten angekommen. Der Miaulis hat den Kapudan Pascha wieder einmal in die Luft geblasen, zum zweitenmal in Einem Jahr!

Die ganze Gesellschaft sprang auf.

Hurrah!

Ein Teufelskerl, der Miaulis!

Kapudan hoch!

Ei, ei! bemerkte ein bedächtiger alter Kanzleibeamter: wenn Der jetzt zweimal aufgefahren ist, so wird er wohl das Fliegen besser gelernt haben als der Schneider von Ulm.

Alles lachte, und man belehrte ihn, sich in die Luft sprengen zu lassen sei eine Verrichtung, die den ganzen Mann in Anspruch nehme, oder, wie ein Buchhändler hinzufügte, bei einer Auflage von fraglichem Feuerwerk werde jeweils auch eine Auflage von Kapudan Pascha verbraucht.

Also da capo! rief der Kanzleirath.

Vivat sequens! rief ein junger Vicar, der frisch von der Universität herkam.

Und mögen alle die Pumphosen bis zum Großtürken hinauf hinter ihm drein fahren!

Und der Metternich –

Ein junger Actuarius hatte diesen Ausruf begonnen, konnte ihn aber nicht vollenden, denn ein vorsichtiger Finanzbeamter schnitt die Fortsetzung ab mit der Frage: Was macht denn der Alexander Ypsilanti? Und als ihm geantwortet wurde, der sitze immer noch, wandte er sich an einen pensionirten Steuerbeamten, der sich nebenher mit Poesie beschäftigte, und forderte ihn auf, diesem Patrioten ein Musenopfer zu bringen.

In meiner nächsten Muselstunde soll's geschehen! betheuerte der Aufgeforderte mit geschmeicheltem Lächeln.

Eine Bewegung unterdrückter Heiterkeit lief über den Tisch. Um dieselbe unmerkbarer zu machen, rief Einer: Es ist doch schändlich von den Oestreichern, den griechischen Helden so mir nichts dir nichts einzustecken!

An England wär's, ihnen das zu verbieten! rief ein Anderer. England soll seine Schuldigkeit thun!

Nein, Rußland! rief ein Dritter. Der Kaiser von Rußland ist ja der Griechen nächster Glaubensgenosse.

Ueber diesen Artikel erhob sich eine lebhafte Discussion, welche, da Jeder nur auf sich selbst hörte, zu keinem Resultate zu führen versprach, bis der Pfarrer von Y...burg eine augenblickliche Pause des Athemholens benützte, um tückisch zu bemerken: Ehe wir berathen, welche von diesen beiden auswärtigen Mächten wir dazu anhalten sollen, ihre Pflicht zu thun, möchte es vielleicht gerathener sein, vorher anzufragen, welche von beiden am geneigtesten sei, unserem Ansinnen nachzukommen.

Diese Aeußerung machte, wie begreiflich, einen unangenehmen Eindruck, und sämmtliche Debattanten wollten sich gegen den gemeinsamen Widersacher vereinigen, als der Pfarrer von A...berg mit hochgehobenem Glase dazwischen sprang, um die Traufe von dem Herausforderer des Schicksals abzulenken. Die edlen Griechen sollen leben! rief er mit dem ganzen Aufwand seiner etwas öligen Stimme. Der Miaulis und seine Heldenthat! Hoch, und abermals hoch, und zum Drittenmal hoch!

Mit begeistertem Zuruf und Gläserklang stimmte Alles in seinen Toast. Als er aber mit dem Glase an den Pfarrer von Y...burg kam, zog dieser das seinige zurück, blieb sitzen und schüttelte spöttisch lachend den Kopf.

Was? rief der Pfarrer von A...berg bestürzt: Du willst nicht auf die Griechen anstoßen?

Ein Gemurmel der Entrüstung erhob sich in der Gesellschaft.

Sie halten's also mit den Türken? fragte Einer geringschätzig.

Ich bin kein Politiker, antwortete der Pfarrer von Y...burg. Was geht der Türk' mich an –

Das ist aus dem Wallenstein! bemerkte ein Referendarius halblaut dazwischen, und Einige lachten.

Aber muß ich deßhalb die Partei der Griechen nehmen? fuhr der Pfarrer von Y...burg fort. Der Deutsche freilich hält's mit jedem Volk, das für ihn die Kastanien aus dem Feuer holt und eine Revolution macht. Warum immer nur Andere vorschieben?

Wollen Sie damit sagen, der Deutsche solle selbst eine Revolution machen? fragte ein Justizbeamter mit strengem Ton, indem er ihn mißtrauisch ansah.

Nein, entgegnete der Pfarrer von Y...burg, ich glaube, er hat kein Genie dazu.

Seien Sie außer Sorgen! rief ein Anderer. Der Herr Pfarrer erlaubt ja nicht einmal den Griechen gegen die Türken aufzustehen.

Gegen die Bluthunde! rief Alles zusammen.

Volkskriege, bemerkte der Pfarrer von Y...burg, werden nicht mit Sammthandschuhen geführt, auf einer Seite so wenig wie auf der andern.

Aber auf der einen Seite sind's doch Christen! rief man ihm zu.

Er blickte seine anwesenden Collegen steptisch an. Ich weiß nicht wie weit wir diese Schismatiker als Christen anerkennen dürfen, warf er hin. Uebrigens, setzte er gegen die weltlichen Mitglieder der Gesellschaft hinzu, verbietet das Christenthum alle und jede Revolution, und gebietet noch obendrein, auch die Nichtchristen als Menschen gelten zu lassen.

Die wackern Perser, ja! Es leben die Perser!

Weil sie diesmal die Türken angegriffen haben, erwiderte er. Ein andermal geht's vielleicht umgekehrt, dann lassen wir die edeln Türken gegen die Hunde von Persern oder dergleichen hoch leben.

Die Wendung, die das Gespräch nahm, wurde immer verdrießlicher. Ein allgemeiner Sturm stand bevor. Der Pfarrer von A...berg fühlte sich daher von der menschenfreundlichen Absicht beseelt, sich selbst seinem Freunde als Hauptopponent gegenüber zu stellen und auf diese Weise den Streit wo möglich in ein friedlicheres Fahrwasser einzuleiten.

Aber warum willst du denn nicht wenigstens, auf den Miaulis mit mir anstoßen? fragte er wehmüthig. Du wirst doch anerkennen müssen, daß es eine hohe und edle That von ihm war.

Ich kenne den Mann nicht persönlich, antwortete der Unverbesserliche mit einer Trockenheit, die jedes edlere Gemüth zur Verzweiflung bringen mußte. Kann also den inneren Werth seiner allerdings heroischen Mordbrennern nicht beurtheilen.

Mordbrennern! rief Alles mit Einem Schrei der Empörung.

An und für sich ist's nichts Anderes, behauptete er. Und obendrein am Admiral seines bis jetzt rechtmäßigen Fürsten begangen! Freilich pflegt man das Mittel nach dem Zweck zu beurtheilen, und wieder den Zweck nach dem Mittel, je nachdem es gerade bequem ist.

Das ist casuistisch gesprochen! bemerkte der Justizbeamte, der vorhin auf Miaulis mit angestoßen hatte und nun von der Ahnung eines logischen Witterungsumschlags beunruhigt sein mochte.

Die Casuistik ist nicht in mir, sie ist in den Köpfen der Leute, entgegnete der Pfarrer von Y...burg. Wo die Revolution für geheiligt gilt, da wird der Krieg als gerecht, die Brandstiftung als erlaubt, der Meuchelmord als gottgefällig angesehen: wo nicht, da verschreit man die unschuldigste Requisition als gemeinen Raub und Diebstahl. Was dem Einem recht ist, muß dem Andern billig sein. Haben wir da anerkannt, daß eine revolutionäre That mit Recht begangen worden sei, so müssen wir dort auf's allermindeste zugeben, daß sie wenigstens in gutem Glauben begangen worden ist, denn die Entscheidung über das wahre Recht steht uns nicht zu. Wohin führt aber das? Dürfen wir bei solchen Grundsätzen – fügte er mit erhobener Stimme hinzu – wenn zum Beispiel ein solcher Patriot, zufällig kein griechischer, dem Feinde seines Volkes, oder wen er just dafür hält, den Dolch bona fide für Freiheit und Vaterland in die Brust stößt, dürfen wir ihn in den Köpfstuhl des ordinären Mörders setzen?

Er hatte die letzten Worte gegen den Justizmann gerichtet, dem er ohnehin seine Interpellation von vorhin nachtrug, und blickte nun triumphirend um sich her.

Diese eben so behutsame als malitiöse Nutzanwendung brachte ein peinliches Stillschweigen hervor. Der Schatten einer verhängnißvollen That, die eben in der frischesten Wirkung stand, schwebte drückend über der Gesellschaft, und Keiner konnte etwas sagen, ohne sich nach der einen oder andern Seite hin zu compromittiren. Allein gerade das hatte der Menschenfeind beabsichtigt. Ein gesinnungsloser Widersacher der edlen Griechenbegeisterung – sei es nun aus Zerwürfniß mit den classischen Studien, sei es weil diese Begeisterung denen, die sie ausübten, nicht so gefährlich war, wie seine Mißgunst wünschen mochte, sei es aus purer Bosheit überhaupt – hatte er künstlich, ja man darf wohl sagen gewaltsam, auf die Frage vom politischen Meuchelmorde zu lavirt, nur um die Gesellschaft durch schadenfrohe Consequenzenzieherei in Verlegenheit zu bringen.

Der Pfarrer von A...berg fühlte, daß der Moment den Versuch einer abermaligen Diversion gebiete. Du bist vielleicht doch etwas zu streng gegen den Meuchelmord, hob er sanftmüthig an. Nach deiner Theorie müßte auch die That des Tell verdammt werden, und doch stellt man sie auf dem Theater dar.

Zu meinem Glück habe ich mit der Theatercensur nichts zu schaffen, erwiderte der Pfarrer von Y...burg, und kann nur so viel sagen, haß mich Tell durch seine Disputation mit Parricida nicht völlig über die moralische Berechtigung seines Geßlerschusses aufgeklärt hat.

Die Gesellschaft athmete leichter und ging auf eine lebhafte Erörterung des neuen Thema's ein, wobei, sich die meisten Stimmen dahin vereinigten, daß allerdings zwischen diesen beiden Mordthaten ein meilenweiter Unterschied stattfinde, indem ja Geßler nicht Tell's Vetter gewesen sei, und daß Letzterer also von jedem Vorwurfe freigesprochen werden müsse.

Der Pfarrer von Y...burg lachte hämisch vor sich hin, was jedoch im Geräusche der allgemeinen Discussion überhört wurde. Ueberhaupt schien die Unterhaltung jetzt zu einem leidenschaftsloseren Gange zurückkehren zu wollen, als der Pfarrer von A...berg in seinem unseligen pacificatorischen Eifer das eben erlöschende Feuer von neuem anschürte, um sich schließlich selbst die Finger daran zu verbrennen.

Er hatte sich noch ein zweites historisches Beispiel in den Kopf gesetzt, durch dessen Aufstellung er die Controverse vollends recht weit von der Gegenwart und ihren epinösen Fragen hinwegführen zu können hoffte. Und, fuhr er daher fort, sobald eine Pause ihm wieder zu reden gestattete, einen Harmodios, einen Aristogiton, deren Preis wir schon in der Schule sangen, willst du auch sie als Meuchelmörder brandmarken?

Daß man in unsern Schulen den Meuchelmord predigt, hat in der That etwas Komisches, bemerkte der Pfarrer von Y...burg mit sardonischem Lachen. Indessen bin ich auch hier weder Angreifer noch Vertheidiger, sondern bleibe auf dem Standpunkt, den ich von Anfang eingehalten habe. Die Sache selbst ist mir gleichgiltig, ich frage einfach bloß nach der Consequenz. Bekanntlich war Hipparch – auch Hippias bis zu jenem Unglückstage seines Hauses – ein so liberaler, ja ein liberalerer Fürst, als irgend ein heutiger. Wenn man nun irgendwo in der Welt, um die Republik einzuführen, einen liberalen Fürsten via Meuchelmord aus dem Wege räumen durfte oder darf –

Halt! rief der Pfarrer von A...berg, das waren ganz andere Verhältnisse!

Nein, nein! unterbrach ihn der conservative Jurist, der sich selbst vielleicht in dem entfernten Verdacht haben mochte, vor Zeiten einmal für jene beiden athenischen Meuchelmörder und Märtyrer geschwärmt zu haben, und der die Gelegenheit zu einer gründlichen Disciplinirung seiner eigenen Ansichten ergreifen wollte. Nein, gewiß wäre Athen unter den Pisistratiden viel glücklicher gewesen als unter der Republik, die mit der Zeit einen Gerber Kleon und derlei Hallunken gebar.

Nun war es, als ob an einem Wehr die Floßgasse geöffnet wäre und die Fluthen donnernd über einander stürzten, so heftig brach in der Gesellschaft der Streit über die zujüngst aufgeworfene Frage aus. Da jedoch die Meisten künftige constitutionelle Monarchisten waren, so ereignete sich der sonderbare Umstand, daß Harmodios und Aristogiton, die armen Jungen, einst die Sterne der Jugend, jetzt aus politischen Rücksichten per majora verurtheilt wurden. Die Minderzahl, vielleicht aus embryonischen Ultra's bestehend, gab sich alle Mühe sie zu retten, und bot daher die ganze Kraft der Stimmen auf; allein dieses Vorbild wurde sogleich von der Mehrheit nachgeahmt, und so war bald vor lauter Hören gar nichts mehr zu vernehmen. Damals ruhte noch im Schoße der Zukunft die Wirksamkeit jenes berühmten rheinischen Kammerpräsidenten, der mit dem durchschlagenden Worte, das er in die Stürme der parlamentarischen Debatte schleuderte: „Meine Herren, es kann nur Einer zugleich sprechen!“ bekanntlich seither allem und jedem Geschrei in Süddeutschland ein Ende gemacht hat.

Mitten in diesem allgemeinen Chaos und wilden Durcheinanderwogen der Elemente ereignete sich jedoch auf einmal ein höchst unerwartetes, wahrhaft seltsames Schauspiel. Die beiden Pfarrer von A...berg und Y...burg hatten sich während der allgemeinen Schlacht in einen Einzelkampf mit einander verwickelt, wobei auf Seiten des Letzteren neben dem Mißbehagen über die heutige Umgebung und ihren Lärm das schon von Hause mitgebrachte fatale Temperament, auf Seiten des Ersteren aber das Gefühl, daß durch eine so verbissene Opposition gegen alle hellenische Herrlichkeit alter und neuer Zeiten jegliches Maß des Unbilligen überschritten sei, sowie bei Beiden der nicht ganz überwundene antipathische Eindruck des ersten Anblicks, gleichmäßig mitgewirkt haben mag.

Was eigentlich Gang und Wendung ihres in dem allgemeinen Geräusche unhörbar gebliebenen Streites gewesen, ist niemals enträthselt worden, da der Pfarrer von A...berg es nachher selbst nicht mehr wußte und der Pfarrer von Y...burg, vielleicht aus dem gleichen Grunde, ein tiefes Stillschweigen darüber beobachtete. Gewiß ist, daß Beide in ziemlicher Verwirrung und so zu sagen Auflösung aus dem Kampfe hervorgingen, gewiß aber auch, daß derselbe mit großer Erbitterung geführt worden sein mußte. So bezeugte später ein wohlwollender Rechnungsbeamter, der ihnen vergebens zugesprochen hatte, weder um der neuen noch alten Griechen willen Händel anzufangen, sondern sich als gute gemüthliche Deutsche mit einander zu vertragen. Ein Protokoll ihres Wortwechsels konnte aber auch er nicht eröffnen; es war im Bier untergegangen.

Als die Gesellschaft endlich Auge und Ohr dem überraschenden Zwischenfall zuwendete, nahm sie nur noch das letzte traurige Stadium und den beklagenswerthen Ausgang des Kampfes wahr. Der Pfarrer von A...berg war fast blauroth vor Aufregung geworden, und seine Haare schienen nicht abgeneigt, sich zu sträuben. Der Pfarrer von Y...burg sah kälter aus, aber in seinen Augen brannte ein giftiges Feuer, daher das Schlagwort, das man jetzt leider aus dem sonst freundlichsten, leutseligsten Menschenmunde explodiren hörte, gleichwohl nicht ganz unbegründet war.

Giftmichel! schrie ihn nämlich der Pfarrer von A...berg an.

Strohkopf! gab der Pfarrer von Y...burg zurück.

Der Pfarrer von A...berg holte Athem. Metternichianer! donnerte er dann.

Meuchelmörder! warf ihm der Pfarrer von Y...burg in's Gesicht.

Erstarrt über diese Donnerschläge aus blauem Himmel saß die Gesellschaft sprachlos da.

Der Pfarrer von A...berg, gleichfalls sprachlos über eine so ganz unerträgliche, mit geistlichen Waffen nicht abzuwehrende Beschuldigung, machte, obwohl nur sehr von Weitem, eine etwas kriegerische Bewegung nach einer leeren Flasche, wurde jedoch von seinem Nachbar gehalten, welchen Freundschaftsdienst er ihm mit einem stummen, aber innigen Dankesblick vergalt. Hieran konnte jeder Billigdenkende ermessen, daß der sanfte Mann, selbst in der höchsten und gerechtesten Wuth, mehr nicht als eine bloße Demonstration beabsichtigt hatte.

Allein der Pfarrer von Y...burg nahm Glas und Flasche, um von ihm auszuwandern. Ich will weder auf moderne noch auf antike Art gemeuchelmordet werden, sagte er hämisch, und setzte sich mit eisiger Ruhe an eine andere Seite des Tisches.

Die beiden Knaben hinter dem Ofen drückten einander die Hände, zum Zeichen, daß sie keinen Theil haben wollten an dem blutigen Haß der Häuser Friedland, Piccolomini.

Die Gesellschaft war in stumme Bestürzung versunken. Sie blickte theilnehmend auf den Pfarrer von A...berg. Seine Wuth legte sich, und stille Trauer trat an ihre Stelle. Die Thränen rollten ihm in das Bier. Seine Wehmuth wurde laut und lauter. Er stieß mit den Freunden an, die ihm übrig geblieben waren, umarmte und küßte sie, tief gerührt, rief, es gebe doch trotz alledem und alledem immer noch gute Menschen in der Welt, und schluchzte unendlich über diese tröstliche Thatsache.

Der Pfarrer von Y...burg dagegen saß bocksteif an seinem neuen Platz, und trank in finsterem Schweigen ein Glas um das andere. Nur als einmal das vieljährige oberkellnerische Inventarstück des Hauses, der nunmehr längst selig heimgegangene krumme Philipp, einen unverlangten Kalbsbraten vor ihn hinstellte, öffnete er den Mund und hieß ihn einen Esel. Der gute Philipp, welcher sehr taub war, nickte ihm mit freundlichem Grinsen zu, nahm den Braten weg, und kam gleich darauf mit einer noch einmal so großen Portion desselben zurück. Er hatte verstanden, der Gast wolle einen größeren, ein Mißhören, das bei der im Süden landüblich gleichen Aussprache von e und ö einem tauben Ohre gar leicht begegnen mag.

Dem Pfarrer von Y...burg blieb keine weitere Maßregel, als seinen nagenden Grimm an dem Kalbsbraten auszulassen.

Das Schicksal hatte jedoch dafür gesorgt, daß er ihn nicht ungestört aufessen sollte. Die poetische Gerechtigkeit, die er so vielfach herausgefordert, ereilte ihn in dem Augenblick, da er die Rache in der Form, wie er sie vollzog, süß zu finden begann. Ihr Werkzeug war ein kleiner Pfarrer mit spitzigem Gesicht, der neben ihm saß und sich an der Seite des unheimlichen Gastes nicht behaglich fühlte. Entschlossen, ihn für die Attentate, die er diesen Abend auf den Frieden einer vergnüglichen Gesellschaft gemacht, exemplarisch zu bestrafen, wartete er ab, bis sein Opfer einige Bissen verzehrt und den Appetit auf diejenige Stufe gebracht hatte, auf welcher es am wehsten thut, wenn er verdorben wird.

Habe doch recht Bedauern gehabt mit dem Herrn Sohn, begann er nun gegen ihn.

Der Pfarrer von Y...burg ließ den frischen Bissen an der Gabel vor dem Munde schweben, und sah den Redner befremdet an.

Ich meine das Mißgeschick, das der Herr Sohn heut im Examen gehabt haben, fuhr dieser fort, unbarmherzig direct vorgehend.

Wie so? was denn? fragte der Andere, und ließ Messer und Gabel sinken, unseligster Entwicklung gewärtig.

Wie? Sie wissen es noch nicht? merkwürdig! rief der kleine Pfarrer, und erzählte ihm hierauf, was Jedermann außer dem unglücklichen Vater wußte. Er erzählte mit einem Genuß, für dessen unerwartete Bescherung er sich selbst in seinem Herzen Dank sagte. Er hatte geglaubt, nur leicht auf ein Hühnerauge tupfen zu können, und nun war ihm die Genugthuung geworden, dieses Hühnerauge dem noch unbewußten Träger weitläufig in seiner ganzen Größe aufdecken zu dürfen.

Der Pfarrer von Y...burg starrte ihn eine Weile an. Er übersah mit Einem Blicke sein ganzes Verhältniß zu der Gesellschaft. Worte nannten es nicht, nicht Pinsel noch Griffel! Weiterhin wurde ihm klar, daß Kalbsbraten für ihn abermals ein nur in der Erinnerung lebender Mythus bleiben müsse. Um nicht mit dem tauben Philipp noch einmal in Conflict zu kommen, legte er so viel Geld auf den Tisch, als die Zeche nach seiner Rechnung betragen mochte, winkte seinem Sohne, der alsbald an seiner Seite war, wiegte sich ein wenig auf dem Stuhle hin und her, um seine Kräfte zu erproben, stand dann bolzgerade auf, blieb einen Augenblick unbeweglich stehen, und – weg war er!

Auch Eduard war eben so schnell den nacheilenden Blicken Wilhelm's entschwunden.

Indessen hatte die poetische Gerechtigkeit ihren Weg auch zu dem kleinen Pfarrer gefunden, durch dessen Bosheit dieser rasche Abgang bewirkt worden war. Er lag mit dem Stuhl am Boden, und streckte die Beinchen in die Höhe. Ob der Pfarrer von Y...burg ihn bei seinem kometenartigen Dahinstrahlen unwillkürlich oder aber absichtlich, zum Entgelt für seine freundnachbarliche Mittheilung, zu Boden gerissen hatte, hierüber konnte man nur Muthmaßungen hegen; daß er es war, der ihn gefällt, das stand außer Zweifel.

Nachdem der kleine Pfarrer wieder ajustirt war, erging sich die Gesellschaft in unverhohlenen Mißbilligungsäußerungen über den Abgegangenen, und ganz besonders auch über seine Unart, ohne Gutenacht fortzugehen. Französische Abschiede waren dazumal noch etwas Seltenes.

Alles war zuletzt einig, er sei ein verkappter Jesuit.

Indessen war und blieb die Stimmung gestört, der schöne Abend verdorben. Vergebens suchte man den Pfarrer von A...berg zu beschwichtigen. So oft er bedachte, daß er, ein so gediegener Mann, der alle Menschen liebte, und alle Menschen ihn, er, der bloße Theoretiker des Meuchelmords, ein praktischer Meuchelmörder sein sollte, so oft wurde er von neuer Rührung übermannt. Aus diesem Grunde hatte auch Niemand an einen Vermittlungsversuch gedacht; denn selbst wenn die allgemeine Abneigung gegen den Beleidiger zu überwinden gewesen wäre, so war die Beleidigung zu schwer, um verziehen, um vergessen werden zu konnen.

Nach verschiedenen, mehr oder minder mißglückten Anstrengungen, dem Beisammensein wieder die frühere ungezwungene Heiterkeit zurückzugeben, glaubte man endlich den Abend beendigen zu müssen, und brach auf. Man fühlte die Unheilbarkeit des Risses, der zwei auf so seltene, wo nicht welt- doch landhistorische Weise zusammengeführte Herzen für immer wieder aus einander gerissen hatte, man fühlte den Schmerz der Wunde, die in dem besseren dieser beiden Herzen – wer weiß wie lange – nachbluten mußte.

Mir selbst, der ich diese Geschichte schreibe, blutet das Herz. Wenn der Leser wüßte, welche Mühe es mich gekostet hat, diese beiden ungleichen Freunde zusammenzubringen, dann würde er mir wohl eine Empfindung der Theilnahme weihen. Nun stehe ich auf den Trümmern meiner mit so vieler Anstrengung unternommenen Arbeit, Oel und Zeit habe ich verloren, und dieses – ist dein Werk, Miaulis!

Leser, in dieser Lage gibt es für uns Beide nur Einen Trost. Sieh hin, dieß war der Verlauf und Ausgang einer politischen Unterhaltung im Anfang der zwanziger Jahre. Deutschland im ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts! Sieh hin, und ermiß das Unermeßliche, ermiß die Riesenentwicklung, die wir seitdem durchgemacht haben. Von deiner politischen Bildung getragen kannst du sie so gut, vielleicht besser ermessen, als ich selbst, und gerne will ich dir daher über diesen Gegenstand das Wort überlassen.

Ein Nachtwächter, der in den abgelegenen Theilen der Stadt eben die Stunde ausrufen wollte, sah zwei lange, magere, steife Wesen an sich vorüberschweben. Das kleinere dieser beiden Wesen ging voraus, das größere kam hintendrein und hielt das kleinere an den Haaren gefaßt, wobei der Führer geächzt, der Geführte aber geschwankt haben soll. Der Nachtwächter murmelte: „Alle guten Geister loben Gott den Herrn,“ und rief die Stunde in einem andern Gäßchen. Am Morgen erzählte er Jedem, der es hören wollte, von der grauslichen Erscheinung, die er gehabt.

Wir aber ahnen, wer diese beiden Gestalten waren.

Durch die breite Hauptstraße der Residenz bewegte sich um die gleiche Nachtstunde eine stumme Prozession.

Im ersten Gliede wurde ein Schluchzender unter den Armen geführt. Die Andern folgten gleichsam als Leidtragende.

Der Schluchzende war der Pfarrer von A...berg.

Sein Wilhelm ging nebenher, und war in großer Noth. Die Begleiter trösteten ihn jedoch. Es sei nur ein kleiner Circumflex, sagten sie, der bis morgen früh vorüber sein werde.

Hiemit verzog es sich jedoch bis tief in den Tag hinein, und die Sonne stand schon hoch über den rauchenden Schornsteinen, an deren Fuße die gastfreundlichen Hausfrauen der Hauptstadt von der gehabten Last und Hitze jetzt wieder ausathmen durften, als ein bequemer Wagen Vater und Sohn der Heimath zu durch das östliche Thor entführte.

Beide sahen nachdenklich aus.

Wo die große Südstraße sich nach Ost und Westen theilt, sah Wilhelm am späten Nachmittage die beiden Ladstöcke auftauchen, die in seines Vaters sowie in seinen eigenen jungen Lebenslauf so bedeutendes Zündkraut eingetrieben hatten. Sie schienen einen Botenwagen, der eben am Horizont verschwand, benutzt zu haben, waren am Fuß einer Anhöhe abgestiegen, und schickten sich nun an, einen holprigen Fußweg zur Rechten einzuschlagen, an dessen Spitze ein baufälliger Wegweiser, aus einem kleinen Gebüsch hervortretend, die westliche Richtung nach Y...burg, den Weg zum Käsebraten, bezeichnete.

Ehe sie jedoch denselben vollends erreichen konnten, drohte sie schon der schnelle Wagen der in glücklicherer Lebensstellung befindlichen beiden Reisenden einzuholen. Der Hufschlag und das Rollen der Räder bewog den Pfarrer von Y...burg, sich umzusehen. Als er die weiland befreundeten Gestalten erkannte, deren Begegnung ihm bevorstand, warf er aus den zusammengezogenen buschigen Augenbrauen einen wilden Blick auf sie, und riß seinen Erzeugten mit sich in das Gebüsch. Wilhelm jedoch, der sich aus dem Wagen beugte, sah im Vorüberfahren, wie die Büsche sich theilten und Eduard den Kopf daraus hervorstreckte. Derselbe drückte die Lippen zusammen und riß sie wieder aus einander, wie man wohl zu thun pflegt, wenn man einen Kuß in die Ferne senden will. Wilhelm aber verstand ihn besser: das Zeichen bedeutete ein B, den Anfangsbuchstaben des Namens, den sie sich zum Losungswort erkoren hatten.

Schöne Stunde, wirst du jemals wiederkehren, durch den nie veraltenden Zauber dieses Namens heraufbeschworen?

Zugleich aber war Wilhelm noch Augenzeuge eines weiteren Schauspiels geworden. In der Lücke des Gebüsches war eine lange, knöcherne Hand erschienen, die dem armen Eduard eine wohlbemessene Ohrfeige gab.

Der Wagen war längst vorbeigerollt, und Wilhelm lehnte schwermüthig wieder in seiner Ecke. Er gedachte der arithmetischen Genauigkeit seines Freundes, und bange Ahnungen erfüllten seine treue Seele. Ob sein Vater die Erscheinung gleichfalls gesehen habe, wußte er nicht, und hielt es jedenfalls für gerathener, mit ihm nichts darüber zu reden.

Jetzt bog der Wagen nach Osten auf die kleinere Straße ab, die sich den heimischen Bergen näherte.

Der Pfarrer von A...berg hatte sich bis gestern Abend unausgesetzt darauf gefreut, auf der Rückreise wo möglich das vielbesprochene Felsengesicht zu beaugenscheinigen. Der Moment war jetzt gekommen, die Witterung konnte nicht günstiger sein. Instinctmäßig griff er in die Wagentasche, in welcher sich sein Butzengeiger befand, und holte denselben hervor. Kaum aber hatte er ihn erblickt, als sein Aussehen sich veränderte. Er wurde roth und blaß, ein Schauer überlief ihn, die Erinnerung schien mit tausend Freuden und Qualen in ihm aufzugehen, er steckte das Fernrohr wieder an seinen Ort, und legte sich mit einem tiefen Seufzer in die Wagenecke zurück.

Er hat das Felsengesicht, die vornehmste Merkwürdigkeit seiner Gegend, in diesem Leben nicht mi! Augen gesehen! Er mußte sich mit dem bloßen, ungeformten Material begnügen, das ihm von der künstlerischen Bearbeitung durch die Ferne keinen Begriff gab, und mit einer Beschreibung, an die er nicht denken konnte, ohne daß ihm ein Stich durch das Herz ging.

Inzwischen brachte er den ersten Abend, den er wieder im häuslichen Kreise verlebte, so heiter zu, als seine Erschöpfung von der Reise es nur gestatten wollte. Er mußte seiner Frau von dem glücklichen Examen, das Wilhelm gemacht, und von der schmeichelhaften Aufnahme bei den Verwandten in der Residenz so viel erzählen, daß ihm keine Zeit blieb, der Schattenseiten seiner Begegnisse zu gedenken.

Am andern Morgen jedoch hatte Wilhelm, der sich bei seinem Vater auf dessen Studierzimmer befand, abermals einen Anblick, der ihm durch die Seele schnitt.

Mit dem neuerdings gewohnten neunten Glockenschlage ging der Pfarrer so instinctmäßig, wie gestern, an die Beschäftigung, die ihm zur andern Natur geworden war. Er schritt zu der Schublade, in welche das Fernrohr von den sorgsam auspackenden Händen der Pfarrerin gleich nach seiner Ankunft wieder zurückgebracht worden war. Behaglich schob er es auseinander, und trat zum Fenster. Hier aber, die Richtung vor Augen, in welcher Y...burg lag, erwachte er plötzlich wie aus einem Traume. Sein lachendes Antlitz umwölkte sich, niedergeschlagen ließ er den Tubus sinken, ohne nur einmal hinein gesehen zu haben. Dann schüttelte er den Kopf, schob das Instrument langsam zusammen, legte es wieder in die Schublade und verließ das Zimmer.

Der gute Sohn sah ihm traurig nach. Er konnte sich denken, daß der Vater jetzt zur Mutter hinabgehen werde, um sein gepreßtes, gekränktes Herz bei ihr auszuleeren.

Wilhelm konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich zu vergewissern, wie der Pfarrer von Y...burg in der sonst von beiden Seiten jeden Morgen so sehnlich erwarteten optischen Begrüßungsstunde sich verhalte.

Er holte daher das Fernrohr und blickte hinab.

Der Pfarrer von Y...burg stand so gleichmüthig wie immer an seinem Fenster, und sah herauf, als wenn nichts vorgefallen wäre.

Bei näherer Recognoscirung entdeckte Wilhelm jedoch, daß der Wegelagerer an seinem Fernrohr eine sonderbare Vorrichtung angebracht hatte, welche an der einen Seite ein gutes Stück weit über dasselbe herausragte. Wilhelm sah genauer hin und zerbrach sich den Kopf; doch wurde er seiner Sache immer gewisser, und konnte zuletzt nicht mehr zweifeln, daß es ein – Scheuleder war. Er hatte Verstand genug, um sich zu sagen, daß Niemand im Ernste daran denken könne, einem Fernrohr durch eine Augenklappe die Beschränkung aufzuerlegen, welcher man ein Pferdsauge unterwirft, daß also die angebliche Vorkehrung nichts anderes sei, als ein Werk schwarzer Bosheit und phantastisch abgefeimter Tücke, ein Symbol, durch welches der Unhold den Bewohnern des Pfarrhauses von A...berg insinuiren wolle, daß sie aus dem Focus seines Blickes ausgeschlossen seien und sich nicht beigehen lassen dürfen, denselben auf sich zu beziehen, mit Einem Worte, daß er wieder, wie ehevordem, an ihnen vorüber sehe.

Wilhelm war jetzt doppelt froh, daß sein Vater nicht hingeblickt hatte. Dieser Anblick würde ihm vollends das Herz abgedrückt haben.

Sehnsuchtsvoll spähte er an allen sichtbaren Theilen des Hauses und seiner Umgebung herum, allein von Eduarden war nichts wahrzunehmen.

Während er noch mit dem Tubus am Fenster stand, trat sein Vater wieder in's Zimmer.

Du kannst ihn behalten, kannst ihn mit in's Kloster nehmen, sagte er mit weicher Stimme.

Wilhelm wußte, daß dem König von Thule jener goldene Becher nicht lieber sein konnte, als seinem Vater dieses Instrument. Er nahm das Geschenk mit unaussprechlicher Wehmuth in Empfang, trug jedoch Sorgfalt, es mit guter Art sogleich aus dem Studierzimmer zu entfernen, um den geliebten Vater vor dem teleskopischen Dolchstoße zu bewahren, der ihm von Y...burg aus zugedacht war. Nein, Meuchelmörder du selbst! dir sollte nicht die Genugthuung werden, mit diesem Stoße getroffen zu haben.

Wilhelm begrub in seinem Herzen, was er gesehen hatte. Nicht einmal seiner Mutter sagte er etwas davon.

Zwischen Morgen und Abend war, wenigstens von Morgen aus, und das Seitens des Pfarrers von A...berg unbedingt, der Vorhang für immer gefallen. Er hat diesseits nicht wieder durch seinen Butzengeiger hindurchgeschaut, niemals, niemals, niemals!

Die Folgen dieser Entsagung blieben nicht aus. Man hätte ihm eben so gut ein Glied unterbinden können. Er lebte noch ein paar Jährchen fort, wie er gelebt hatte, menschenfreundlich, wohlwollend, heiter; aber in seiner Maschine war ein verborgenes Rädchen gebrochen. Erst litt er an periodischen Augenentzündungen, worin sich die wie durch eine Erkältung zurückgeschlagene Lebhaftigkeit seiner expansiven Augen krankhaft kundgab. Sie waren begleitet von intermittirendem Herzklopfen. Dieses weite Herz krampfte sich oft zusammen, weil ihm in dieser Welt ein Fleck zugeschlossen war, für den es nicht mehr schlagen durfte, wohin es nicht mehr schreiben konnte, woher es keine Briefe mehr empfangen sollte! Der sorgsamsten Pflege und rationellsten Behandlung gelang es zwar, diese Affectionen zu heben; aber das Uebel zog sich jetzt tiefer in den Organismus zurück, wo es eine Zeit lang versteckt lauerte, um dann mit einer alle Wissenschaft überflügelnden Heftigkeit hervorzubrechen. Die bewährtesten Aerzte wurden gerufen. Leider konnten sie über die Prognose nicht einig werden. Der Eine suchte die Krankheit in der Milz, der Andere in der Leber, der Dritte fand sie in den Nieren, der Vierte im Pankreas. Da der Patient sich im Voraus die Section verbat, so ist diese Streitfrage ungelöst geblieben und die Jünger der Divinationskunst haben Alle Recht behalten.

Er erlebte nicht mehr die erste Predigt seines Wilhelm's!

Multis ille bonis flebilis occidit! rief dieser in der Traueranzeige, die er in die große Landeszeitung einrücken ließ.

Armer Pfarrer von A...berg, die Stunde ist gekommen, da wir dir Valet sagen müssen. Wir können jedoch nicht von dir scheiden, ohne deinem tragischen Geschick noch eine kurze Betrachtung gewidmet zu haben.

Unglückliches Tubusspiel, das dir nie hätte einfallen sollen!

Wir meinen nicht das einfach-kindliche Spiel, dem du in deinen glücklicheren Tagen um die achte Morgenstunde obzuliegen pflegtest; denn „hoher Sinn liegt oft im kind'schen Spiel.“ Nein, wir meinen das Doppelspiel, das dich verleitete, eine lang erprobte Gewohnheit abzudanken und von der achten Stunde zur neunten herabzusteigen, vom Monologe zum Dialoge fortzuschreiten! Hat keine Ahnung dir zugeflüstert, daß ein Tubus nicht die Laterne des Diogenes ist, daß unter den Rosen deiner Entdeckung eine Schlange nisten könnte?

Warum aber auch, so muß bei diesem Todtengerichte gefragt werden, warum mußtest du dich verführen lassen, deinen Decan, dem du als deinem Vorgesetzten ernstere Ehrerbietung schuldig warst, zu harceliren und ihm auf den Zahn des Humors zu fühlen? Denn ohne diesen, mit aller Schonung sei es bemerkt, doch immerhin vielleicht etwas losen Scherz wäre jener Abend nicht so sehr in die Länge gezogen, wäre der folgende Morgen nicht um eine Stunde verkürzt, wäre somit eine weisliche Neuordnung, die zwei so heterogene Individuen, um sie aus einander zu halten, mit der einzigen ihnen gemeinsamen Neigung auf verschiedene Stunden angewiesen hatte, nicht freventlich durchbrochen worden. Ach, auch einem so reinen Gemüthe, wie dem deinigen, war es nicht gegeben, ganz ohne Verschulden durch dieses sündige Leben zu gehen, und „alle Schuld rächt sich auf Erden.“ Allein du hast die deine genug, ja mehr als genug gebüßt, und darum sei dir die Erde leicht! 4)

Doch wir haben dem Gang der Ereignisse vorgegriffen. Wenden wir uns daher nach diesem Ergusse, den wir unsern Gefühlen schuldig zu sein glaubten, zu dem verlassenen Punkte der Entwicklung zurück.

Es war kaum eine Woche seit der Rückkehr vom Landexamen vergangen, als ein an Wilhelmen adressirter Brief einlief, der im Pfarrhause von A...berg Aufsehen erregte; denn einmal war das Anlangen eines Briefes von unbekannter Hand an einen so jungen Menschen etwas Ungewöhnliches, und dann verrieth der Brief durch seine äußere Form, daß er entweder aus einem sehr untergeordneten Kreise stamme, oder wenigstens von einem aus der bessern Gesellschaft Verschlagenen in nicht gar comfortabler Umgebung geschrieben sei. Das Aufsehen stieg, als der Brief, den der Empfänger in Gegenwart der Eltern öffnen mußte, seinen Inhalt von sich gab.

Derselbe war sehr kurz und lautete so: „Wilhelm, adieu, das Tausend ist voll. Auf Wiedersehen. Dein Biribinker.“

Wilhelm mußte seinen Eltern diesen dunkeln Text interpretiren, und er that es mit schwerem Herzen, erstens weil die in diesem Herzen so fest eingewurzelte Freundschaft für den lieben Flüchtling durch die erhaltene Nachricht einen zwar vorhergesehenen, aber darum nicht minder harten Schlag erlitt, und zweitens weil er seinem Vater einen Namen nennen mußte, den er lieber nicht vor ihm ausgesprochen haben würde, den Namen des Pfarrers von Y...burg.

Nach wenigen Tagen jedoch brachte dieser sich selbst auf eine in die Augen springende Weise in Erinnerung; denn die in keinem Hause fehlende Zeitung enthielt ein höchst bitteres Inserat von ihm, worin er Männiglich kund und zu wissen that, daß seinen Eduard die Lust angewandelt habe, den verlorenen Sohn zu spielen. Der etwaige ehrliche Finder des Juwels, war beigefügt, möge laut Dieses dem Verschwindensdilettanten eröffnen, daß er bei seiner allfälligen Heimkehr auf alles Andere eher als auf ein gemästetes Kalb zu rechnen habe.

Diese Demonstration stieß ihrem Urheber übel auf. Die frivole Herbeiziehung einer Parabel, die ihm in seiner klerikalen Eigenschaft doppelt unantastbar hätte sein sollen, erregte den gerechten Unwillen der Oberkirchenbehörde, und die unanständige Anspielung auf die schlechte Dotation seiner Pfarrstelle mag diesen Unwillen nicht wenig geschärft haben. Ohne Zweifel war auch noch ein Nachhall von jenem neulichen öffentlichen Auftritt hinzugekommen, bei welchem er sich als Reactionär vom reinsten Wasser gerirt hatte; denn das Consistorium war zwar nicht eben dem Liberalismus hold, hörte es aber doch auch nicht gerne, daß einer seiner Untergebenen durch das entgegengesetzte Extrem auffiel, und verbot ihnen überhaupt bei vorkommenden Anlässen jeden Antheil an der Politik. Welcher von diesen Gründen am stärksten gewirkt, muß der Vermuthung überlassen werden. Genug, an den Pfarrer von Y...burg gelangte ein unermeßlicher Wischer herab, der wohl auch nicht zur Verlängerung seines Lebens beigetragen haben mag.

Im Pfarrhause von A...berg aber herrschte zu dieser Zeit große Freude. Wilhelm war in das Kloster aufgenommen worden, und bereitete sich, reichlich ausgestattet, dahin abzugehen.

„Madrid liegt am Manzanares“ – mit dieser Sentenz beginnt ein interessanter, leider nicht in die Oeffentlichkeit gedrungener Roman. „Dicht hinter dem Riemen liegt Rußland“ – so lauten die inhaltsschweren sechs Worte, mit welchen ein im Keim erstickter pragmatischer Geschichtschreiber seine Laufbahn begonnen und beschlossen hat. Das Kloster, in das wir unsern jungen Freund begleiten, liegt an dem sogenannten tiefen See. Richtiger gesagt, liegt es unter demselben, sofern der Spiegel des Sees mit der Spitze des auf die Klosterkirche leicht wie ein Rohrstab aufgesetzten Thürmchens ziemlich in gleicher Höhe gelegen ist. Die Cisterciensermönche, die dieses Kloster erbaut, scheinen dem feuchten Element in jeder seiner Formen befreundet gewesen zu sein. Freilich wußten sie auch ihren inneren Menschen mit dem Safte der trefflich gepflegten Rebe so warm zu halten, daß sein Ueberzug unter dem kühlen Schweiß der Mauern und Wände nicht viel gelitten haben mag. Ihre Nachfolger waren gleichfalls eine Art von Mönchlein, aber lutherische. Die Säcularisation hatte das Kloster in eine Pflanzschule für künftige Theologen verwandelt. Ein Schub von dreißig jungen Leuten, Promotion genannt, weil sie aus dem Landexamen jetzt in das niedere und später in ein höheres Seminar promorirt wurden, war hier der Wachsamkeit, Leitung und Lehre eines Ephorus, zweier Professoren und zweier Repetenten anvertraut.

Die klösterliche Zucht erinnerte schon durch die Kunstausdrücke, in welchen sie sich bewegte, an die Tage der Scholastik und des Mittelalters. Wer etwas versah, erhielt das erste Mal eine Note, das zweite Mal mußte er cariren, das heißt, es wurde ihm ein Schoppen vom Wein oder der Betrag desselben an dem dafür ausgesetzten Gelde abgezogen, und weitere Rückfälle führten den beharrlichen Uebertreter in's Carcer. Der Complex der Räumlichkeiten, auf die sich der irdische Wirkungskreis der jungen Brut beschränkte, der Arbeitszimmer, Hör- und Schlafsäle, wurde nach den letzteren Dorment benannt, und befand sich Tag und Nacht unter strenger Clausur. Nach Tische war unter dem Namen einer Recreation ein Stündchen Aufenthalt im Freien gestattet, dann rief das Campusglöcklein die Spaziergänger zum Studiren in die Klostermauern zurück.

Die Tracht der Klosterschüler war unerbittlich schwarz, und die Form des Rockes durfte nicht zu modern erscheinen. Hatte ja doch diese Tracht Jahrhunderte lang in einer förmlichen Kutte bestanden, und war dieser Mönchshabit nicht sehr viele Jahre vor dem Auffliegen des Kapudan Pascha als obsolet verlassen worden. Diese Kutte hatte übrigens auch in der Zeit ihrer strengsten Herrschaft ihre jungen Träger nicht so ernst und ehrwürdig gemacht, wie der Geist der alten Klosterzucht beabsichtigte. Hievon zeugte ein Protokoll aus dem achtzehnten Jahrhundert, das zum abschreckenden Exempel für die Nachwelt auf der Klosterbibliothek aufbewahrt wurde.

Der damalige Vorsteher des Klosters, ein alter, kleiner Prälat, war einst Nachts auf dem Dorment umhergegangen, um zu visitiren. Da verlöschen plötzlich die Laternen. Ein unbekanntes Etwas setzt ihm die Hände auf die Schultern und rauscht über sein graues Haupt dahin, ein anderes folgt unmittelbar, und achtmal geht es so nach einander fort. Es waren acht weiße Gespenster, die sich das stille Vergnügen machten, nicht in der Kutte, sondern im Hemde über ihn wegzuturnen. Der Schrecken zog ihm ein Fieber zu. Als er sich aber wieder erholt hatte, versammelte er sämmtliche Zöglinge und hielt eine bewegliche Anrede, welche die acht Verbrecher zu einem freiwilligen reumüthigen Geständniß bewog. Ueber ihre Strafe beobachtete das Protokoll ein düsteres Stillschweigen, aber „o tempora, o mores!“ lautete der unheilschwangere Schluß des Actenstücks.

Nach solchen Vorgängen ist es nicht zu verwundern, daß die edle Turnkunst lange Jahre harren mußte, bis sie Eingang in den Klöstern fand. In der Zeit aber, in der wir uns mit unserem Wilhelm befinden, hatten die jungen Geister bereits ihren Turnplatz errungen, und sein Name hieß Area.

An die Stelle der ehemaligen Horen und Metten waren Morgen- und Abendandachten getreten, bei welchen in Gegenwart eines der Professoren ein Gebet und ein Capitel aus der Bibel verlesen wurde. Dieses nannte man das Preciren, und der es jeweils verrichtete, hieß der Lector. Wie glänzten alle Augen und wie wurden alle Herzen weit, wenn der Lector den guten Geschmack hatte, aus dem Gebetbüchlein den schwungvollen Hymnus auszuwählen, welcher beginnt:

 

Du hast deine Säulen dir aufgebaut

Und deinen Tempel gegründet!

 

Da aber in Folge des Wetteifers, daß Jeder diesen guten Geschmack haben wollte, der Mahlmann'sche Hymnus ungeachtet seines Schwunges in kurzer Zeit unleidlich abgenützt wurde und die anderen Gebete keine große Auswahl darboten, so verfiel Wilhelm eines Abends, da die Reihe des Precirens an ihm war, auf ein Apokryphon. Mit erhobener, vielleicht etwas herausfordernder Stimme begann er aus einem Büchlein von nicht ganz geistlichem Schnitt und Deckel zu beten, wie folgt:

 

Gottes ist der Orient!

Gottes ist der Occident!

Nord- und südliches Gelände

Ruht im Frieden seiner Hände!

 

Alles blickte überrascht auf, aber Alles, auch der Professor, der die Woche hatte, war von diesem und den folgenden Versen erbaut. Nur fragte der Letztere, als das Capitel zu Ende gelesen war, in überwachender Fürsorglichkeit nach dem Gebetbuche, aus welchem der Lector precirt hatte, und Wilhelm mußte es herausgeben. Es war der westöstliche Divan. Der Professor ertheilte dem Neuerer eine ernste Rüge, daß er den Geist Gottes in solchen Büchern suche, und eine väterliche Ermahnung, dergleichen hinfort nicht mehr zu thun. Aber der Vorgang blieb ihm in's Wachs gedrückt, und als er, der sattelfeste Linguist, eines Tages beim Uebersetzen des Homer in der Zerstreuung das Unglück hatte, aus einem hundertjährigen Hirsche einen hunderthörnigen zu machen, bemerkte ihm derselbe Professor mit schneidender Anspielung, ein Geschöpf, auf dessen Kopfe so viele Hörner Platz haben, gebe es weder im Orient noch im Occident.

Der Lector hatte aber nicht nur die Function der Andachtsübungen. Er war eine wichtige Person im Staate. Er bildete das Organ der Verordnungen und Verfügungen, die von den Vorgesetzten gegeben wurden, und durch seinen Mund hinwiederum gelangten die leisen Wünsche, die lauten Bitten der jungen Gesammtheit nach oben. Auch hatte er die schmerzliche Obliegenheit, die Strafen, die über seine Brüder, ja gar etwa über ihn selbst verhängt wurden, in die verhängnißvolle Liste einzutragen. Seine hervorragende Stellung wurde höchsten Orts durch eine besondere Ehrenbezeugung anerkannt. Wenn er nämlich Sonntag Morgens nach Antritt seines Berufes bei dem Ephorus die erste Audienz hatte, um die Amtsinsignien und die Befehle in Empfang zu nehmen, so wurde er regelmäßig zu einer Tasse Kaffee eingeladen, die ihm die Frau Ephorussin von ihrem eigenen Munde weg zu präsentiren pflegte. Allein diese Ehre war mit einem Opfer verknüpft, denn zu gleicher Zeit frühstückte die übrige Promotion ihre Milchsuppe, die an diesem höheren Tage statt der gewöhnlichen Morgensuppe gereicht wurde, und wenn der arme Lector in den Speisesaal gestürzt kam, um dem genossenen Kaffee die compactere Nahrung beizugesellen, so hatten ihm die Andern jedesmal, unter den Auspicien eines herkömmlichen, gewissermaßen gewohnheitsrechtlich gewordenen Mißbrauchs, seinen Antheil an der Milchsuppe weggegessen. Wie sehr er sich bei dem Kaffee beeilen und wie unschicklich abgebrochen er die wohlwollenden Fragen seines Obern und seiner Oberin beantworten mochte, um die Ehre baldmöglichst hinter sich zu bringen, immer kam er zu spät zu Tische, und nie hat ein Lector das Problem gelöst, den Kaffee mit der Milchsuppe zu vereinigen.

Der Knecht des Lectors hieß der Official. Diese untergeordnete Persönlichkeit hatte zum Aufstehen, zum Preciren, zu den Lehrstunden, zur Essens- und Campuszeit die ohrzerreißende Klosterglocke zu läuten, Morgens und Abends die Lichter im Hörsaal aufzustecken, und dergleichen laienbrüderliche Verrichtungen mehr. Aber der Standesunterschied glich sich aus, denn die Hand, die Samstag Abends noch die Lichter besorgt hatte, nahm am Sonntag früh die Ehrentasse in Empfang. Würde und Bürde gingen bei Allen um, und vom Primus bis zum Ultimus hatte Jeder eine Woche lang eines der beiden Aemter zu bekleiden, oder auch, wenn man will, zu begleiten. Ist es doch bis zur Stunde nicht ausgemacht, welche Art von Amtsführung die richtigere sei.

Den ersten großen Schmerz des Lebens hatte Wilhelm empfunden, als Eduard unsichtbar geworden war. Jetzt sollte ein zweiter ihn treffen, vielleicht kein ganz so großer, aber ein um so empfindlicherer.

Im Entbehren des Unvergeßlichen hatte dieses für Freundschaft so empfängliche Herz sich unter den Klostergenossen einen neuen Freund erkoren, Namens Theophil. Beide waren Ein Herz und Eine Seele, bis ein trauriges Ereigniß einen tiefen Riß in ihren Bund machte. Wilhelm hatte auf Weihnachten eine gigantische Schachtel von seiner Mutter erhalten. Welche Wonne für ihn, mit jener vom Vater ererbten und durch das Gefühl der Freundschaft gewürzten Gastfreiheit seinen Theophil zu bewirthen! Er führte ihn zu der schwarzen Klostertruhe, dergleichen jeder Zögling auf dem Dorment eine stehen hatte, und füllte ihm die Hände mit Lebkuchen. In feiner Herzensfreude aber vergaß er, daß er so eben Official geworden war, und versäumte das Läuten, das ihm oblag. Wegen dieser Pflichtvergessenheit wurde er sträflich angesehen, und Theophil als Lector hatte das Brutusgeschäft, die Note des Freundes, deren Veranlassung er selbst gewesen, in das schwarze, oder, richtiger gesagt, in das noch völlig weiße Register einzuschreiben.

Schon seit Wochen hatte das Land in athemloser Spannung darauf gewartet, bei wem und aus welchem Anlaß in der neuen Promotion die erste Note fallen werde. Jetzt endlich hatte der Blitz eingeschlagen, und dreißig Briefe flogen vom Kloster nach allen Richtungen aus, um den Namen des ersten Grenadiers der jungen Legion durch das Land zu tragen. Unter dem Drucke der peinlichen Berühmtheit, die ihm zu Theil geworden war, ging der Arme gebeugten Hauptes einher, und sein junges Leben war ihm eine Zeit lang ganz und gar entleidet.

Was ihn aber in dieser Prüfung am tiefsten und bittersten kränkte, das war die vollendete Herzlosigkeit seines Freundes Theophil. Dieser hatte die Note mit lachendem Munde gebucht, hatte nicht bloß gethan als ob gar nichts vorgefallen wäre, sondern sich noch lustig darüber gemacht, daß er die Lebkuchen mit solcher Münze habe bezahlen müssen.

Wilhelm war im Innersten seines Gemüthes empört. Er weinte manche Zähre, die er stolz verbarg, und in sein Tagebuch schrieb er, was der Friedländer bei einer ähnlichen Gelegenheit von dem leichtsinnigen Isolam sagt:

 

Ja, der verdient, betrogen sich zu seh'n,

Der Herz gesucht bei dem Gedankenlosen!

Mit schnell verlöschten Zügen schreiben sich

Des Lebens Bilder auf die glatte Stirne,

Nichts fällt in eines Busens stillen Grund,

Ein munt'rer Sinn bewegt die leichten Säfte,

Doch keine Seele wärmt das Eingeweide.

 

Nachdem er sich in dieser Weise heimlich an dem Unwürdigen gerächt, zog er sich in sich selbst zurück. Das Schicksal rächte ihn bald darauf noch vollständiger, denn Theophil erhielt die erste Carcerstrafe und wurde hiedurch für das harrende Land zu einer Celebrität, vor welcher der bescheidene Glanz von Wilhelm's Note gänzlich erlosch.

Auch diese Begebenheit wurde durch das nimmer rastende Rad der Zeit überflügelt und verschlungen. Ein großer Ueberschuldungsprozeß brach aus, in welchen fast die ganze Promotion sich verwickelt sah. Auf dem Turnplatze pflegte nämlich ein Knabe aus der Umgegend zu erscheinen, ein speculativer Kopf, der aus kleinen Geschenken und Ersparnissen einen Vorrath von gedörrten Zwetschgen angekauft hatte. Der Artikel machte Glück bei den Studenten, die aber nicht immer bei Kasse waren, und der kleine Kaufmann borgte gerne, weil er seine Ausstände stets mit guten Procenten zurückbekam. Die Sache wurde jedoch verrathen, und die Vorsteherschaft trat zu einem Inquisitionsconvent zusammen, dessen Präsident, der Ephorus, so streng als er bei seiner mühsam verhehlten Gutmüthigkeit vermochte, jeden der Delinquenten im Verhöre mit der Frage anfuhr, wie viel er dem „dürren Zwetschgenbuben“ schuldig sei. Dieser hatte jedoch bereits die Hand zu einem geheimen Arrangement geboten, wodurch die Schuldposten vermittelst einer einfachen Zahlencabbala sehr verringert vor das Gericht kamen. Gleichwohl regnete es gerechte Strafen wegen leichtsinnigen Schuldenmachens, und diese Strafen wurden mit dem Kunstausdruck „ob aes alienum temere conflatum“ vorgemerkt.

Wir haben übrigens diesen Vorgang nicht wegen des mark- und klangvollen Lateins erzählt, dessen wir dabei zu erwähnen hatten, sondern um bei der Gelegenheit – leider nach unserer eingewurzelten Untugend nur flüchtig – auf einen merkwürdigen Lebensgang hinzuweisen. Der „dürre Zwetschgenbube“ legte durch den Handel mit den Studenten den Grund zu seinem ganzen künftigen Wohlergehen. Seine Speculationen dehnten sich im Maße seiner zunehmenden Mittel aus, sie wuchsen gleichsam mit ihm selbst in's Größere, und durch jene Mischung von Glück und Verstand, die in den modernen „Beispielen des Guten“ vorherrschend gepriesen wird, schwang er sich zu einem in seinem Bezirke angesehenen Kaufmann auf, der an dem Orte, wo er seine Laufbahn mit einem kleinen Korb voll Zwetschgen begonnen hatte, sich ein eigen Haus erbauen konnte. Gewiß ein respectables Bild einer tüchtigen Kraft. Aber welch ein Stoff für unsere Gelderwerbsverherrlichungsdichter! Und der Gegensatz zwischen den weichlichen Muttersöhnchen und dem Sohn der kargen Schule der Notwendigkeit, der sich auf einen grüneren Zweig zu schwingen wußte als mancher von Jenen, zwischen den gebratenen Tauben der lebenslänglichen Versorgung und den dürren Zwetschgen des Selbsterhaltungstriebes, oder auch zwischen den Dürrzwetschgen der bloßen Genußsucht und den Dürrzwetschgen sammelfleißiger Arbeitseligkeit – wie ladet er zum Ausmalen ein! Eilen wir mit heiler Haut vom Flecke zu kommen, ehe man sich um einen so dankbaren Gegenstand zu schlagen beginnt.

Von den in der Geschichte eines Klosters auf einander folgenden Promotionen hat jede ihren eigenthümlichen Collectivcharakter und ihre besondern Liebhabereien. In letzterer Hinsicht neigte Wilhelm's Promotion entschieden zum akrobatischen Fache, eine Neigung, die nicht zwar das Seil, jedoch die Dächer zu ihrem Boden erwählte. Die Bauart der Klostergebäude bot hiezu hinlänglichen Spielraum dar.

Drei Seiten des Klosters, von welchen eine einen als Winterkirche benützten Betsaal enthielt, bildeten mit einer Seite der alten Klosterkirche, die wegen ihrer moderigen Feuchtigkeit nur in den heißesten Sommermonaten benützt werden konnte, ein Viereck, welches das Klostergärtchen umschloß. Beide Kirchen hatten Unterdächer, die sich nach dem Gärtchen senkten. Nun war zwar die Dormentsthüre ewig geschlossen, aber neben ihr befand sich innerhalb des Dorments ein Fenster, durch welches man auf einen kurzen, nicht allzu abschüssigen Dachabsenker hinaussteigen und von da auf die beiden untern Kirchendächer gelangen konnte. Das der Sommerkirche war ziemlich steil. Man mußte vorsichtig unter den Schwibbogen durchschlüpfen und sich achtsam an den Zierrathen halten; auch ging die Sage, daß das schlanke Thürmchen, das ohne Fundament in jedem Winde schwankte, etwas baufällig sei. Allein dieß hielt die jungen Kletterer nicht zurück, die manche fröhliche Stunde auf den Dächern verbrachten und diesen Promenaden mit so viel Liebe und Stolz zugethan waren, daß sie, als die Zeit des Abgangs zu ihrer höheren Bestimmung gekommen war, ein Denkmal ihres „Daseins und Soseins“ hier zu hinterlassen beschloßen.

Eine Nische eines der Kirchenfenster, welche Schutz gegen Regen und Schnee gewährte, wurde ausersehen, um eine Bibliothek aufzunehmen, die mehrere Dutzende von Bänden enthielt. Zu dieser Stiftung trug Alles nach Kräften bei. Sie umfaßte manches Werk, von welchem man die sinnige Voraussetzung hegen durfte, daß es nach wenigen Generationen aus der Zahl der lebenden Wesen verschwunden sein werde, und dessen Aufbewahrung daher ein Verdienst um die Nachwelt war, das dieselbe wohl mit einigen Anstrengungen erkaufen durfte. Unter den Kerntruppen dieser Bücherbewahranstalt befand sich ein zu seiner Zeit und in seinem Kreise vielgelesener Provinzialroman: „Hartmann, eine Klostergeschichte,“ dessen Anfang einige Aehnlichkeit mit dem berühmten ersten Capitel des Tristram Shandy hat.

Eine förmliche Urkunde, die sie in dem Versteck mit niederlegten, trug die Widmung: „Den kühnen Epigonen, die sich dermaleinst hieher versteigen werden.“ Daß diesen Epigonen noch Größeres beschieden war zu finden, das hat sie nicht geahnt, jene stolze Generation.

Eine weitere Liebhaberei, der sie leidenschaftlich fröhnte, war das Theaterspielen. Nach dem Abendessen, besonders im Winter, wurden auf einer der Arbeitsstuben die Pulte zusammengerückt, um Coulissen vorzustellen, zwischen welchen abwechselnd ein Theil der Promotion vor dem als Zuschauer eingeladenen andern Theile sich „blamirte“. So wurde nämlich, in der Sprache lobenswerther Selbsterkenntnis;, das Auftreten genannt. Wilhelm war bei diesen Bestrebungen was man fax et tuba zu heißen pflegt, und bei mehreren Gelegenheiten bewies er, daß er einer einmal eingegangenen dramatischen Verpflichtung jedes Opfer zu bringen vermöge.

Einst hatte er einen dicken Mann zu spielen, zu welchem Behufe er seiner schon beginnenden leiblichen Wohlhäbigkeit durch maßloses Stopfwerk nachgeholfen hatte. Die Vorstellung zog sich in die Länge, und unversehens übereilte die Zeit des Precirens den letzten Act. Die Zuschauer liefen einer um den andern fort, die Schauspieler schnurrten ihr rückständiges Garn so schnell als möglich ab, machten ihre Kleider zurecht und eilten dem Hörsaale zu. Wilhelm war der Letzte. Als er eintrat, waren bereits die Säulen aufgebaut, das heißt, der Lector hatte das bekannte Gebet zu lesen begonnen. Wer zu dieser Handlung zu spät kam, mußte, um keine Störung der Andacht zu verursachen, an der Thüre stehen bleiben. Wilhelm that dieß; aber als er vorgeschriebener Maßen die Hände zusammenlegen wollte, wurde er erst gewahr, daß er in der Eile seinen Falstaffsbauch zu beseitigen vergessen hatte, denn nun reichten sie über der ungeheuren Protuberanz nicht mehr zusammen. Er konnte den Wulst nicht einmal verdecken; denn er hatte seinen Rock mit einigen derben Nadelstichen zu einem Rococofracke umgestaltet, und da er sonst an seiner Toilette genug zu ordnen gehabt, so war er verhindert gewesen, das Kleidungsstück in die rechte Form zurückzubringen. So stand er, und gar nicht einmal sehr im Schatten, allen Blicken bloßgestellt. Die Andern wollten ersticken. Der Professor, der das unterdrückte Gelachter wohl hörte, spähte mit bohrenden Augen in der Runde umher, konnte aber, so scharfsinnig und scharfsichtig er war, über einer falschen Fährte, die ihn ableiten mochte, den wahren Quell des Gelächters nicht entdecken. Die dramatische Muse beschützte sichtbar ihren Jünger, der jedoch, nachdem er den langathmigen Mahlmann zwanzigmal verwünscht, froh war, als er zum Bibellesen nach seinem Platze huschen und Bauch und Frack unter dem Subsellium verbergen konnte.

O heiliger Bernhard von Clairvaux, was magst du gedacht haben, wenn dein verklärter Geist auf solche Scenen herniederschauen mußte!

Ein andermal wurde der Nachtwächter gegeben, und Wilhelm hatte die Titelrolle übernommen. Als Brunnenhaus diente der hundertjährige Ofen, der so hoch war, daß nur mittelst einer Barricade von Tisch und Stuhl nebst körperlicher Nachhilfe seine Oberplatte sich ersteigen ließ. Auf diesem mächtigen Piedestal entfaltete Wilhelm eine Höhe der Kunst und zugleich der Naturwahrheit, die Alles zur Bewunderung hinriß. Besonders die Worte: „O ich geschlagener Nachtwächter, ich!“ drückten eine komische Tragik aus, die an Vollendung grenzte. Nur wollten im Fortgang einige nüchterne Kritiker bemerken, er outrire ein wenig, und zuletzt wurde das Winseln und Krümmen so arg, daß ihm die schon errungene Palme wieder zu entfallen drohte. Wie wurde es jedoch den Zuhörern zu Muthe, als er unmittelbar nach dem letzten Körner'schen Verse mit seiner natürlichen Stimme, wiewohl höchst kläglich, ausrief: Jetzt laßt mich aber hinunter, sonst ist's aus mit mir! Man half ihm von der Pyramide seines Ruhmes herab, und nun erkannte man ein Beispiel von Selbstverleugnung, das kaum seines Gleichen hat.

Irgend ein Muthwilliger hatte während des Schauspiels der ersterbenden Gluth des Ofens insgeheim neue und reichliche Nahrung zugelegt, und so war das beim Ersteigen behaglich warme Brunnenhaus unter dem Spiele wieder heiß und immer heißer geworden. Dieses hatte freilich hiedurch an Ausdruck unschätzbar gewonnen, aber auf Kosten des armen Mimen, der jedoch, wie der große Roscius, seine persönlichen Gefühle im Dienste einer höheren Sache aufgehen zu lassen wußte. Er erklärte feierlich, er wäre, eher auf dem Felde seines Berufs gestorben, als daß er es zu einer Unterbrechung des Stückes hätte kommen lassen. Und doch, als sie ihn untersuchten, fielen von einem Theile seiner Kleider Stückchen mürben Zunders ab, und hatte selbst die Hülle, die dem Menschen angewachsen ist, an mehreren bei dem Verweilen auf dem Brunnenhause besonders betheiligten Stellen merklichen Brandschaden erlitten!

Anerkennend, wie die Jugend ist, erkannten dem Helden dieses Abends Mitspieler und Zuschauer ob seiner aufopferungsvollen Hingebung an die Kunst einstimmig den Ehrennamen Wilhelm Meister zu.

Aber, so dürfte, könnte oder möchte hier gefragt werden, warum wird immer nur von Nebendingen, von Aeußerlichkeiten, Mußebeschäftigungen, Spielen, Lustbarkeiten und tadeligen Übertretungen erzählt? Warum erfährt man nichts von der Hauptsache, von den Studien einer so viel versprechenden Jugend, von ihrem wissenschaftlichen Eifer, von ihren Fortschritten in literis?

Sonderbare Frage! Als ob da etwas zu fragen wäre! Hat es die Kirche ihren Nährlingen je an einem „Schulsack“ fehlen lassen in dem ausgedehntesten Sinn des Worts? In einem so ausgedehnten, daß sie hernach nicht bloß in den geistlichen Sattel gerecht waren, sondern auch in jeden weltlichen? Ist nicht der Magister Reinhard Graf und Pair von Frankreich geworden? War nicht der jetzt verschollene, zu seiner Zeit weltberühmte Pascha Paswan Oglu, die Stütze und der Schrecken seines Türkenkaisers, von Haus aus ein Magister Rieger von Kirchheim an der Teck? Ja wohl einen Schulsack, und in des Worts verwegenster Bedeutung, gab die mütterliche Brutwärme den geliebten Söhnen als Ausstattung für das Leben mit, in jenen Hünenzeiten wenigstens, einen Schulsack, der sie befähigte, gleich dem rheinischen Weihbischof in seiner Predigt wider das schreckliche Laster der Trunkenheit zu sagen, wer mit vier Maß, auch fünfen und sechsen, aufrecht von dannen gehe, der möge sein bescheiden Theil genießen und dahinnehmen, er selbst aber, der Prediger, dem der grundgütige Gott, als seinem Knecht, die seltene Gnade verliehen habe, acht Maß zu Lob und Ehre des Schöpfers trinken zu können, dürfe wohl mit gutem Gewissen und mit Dank der anvertrauten Gabe sich auch fernerhin erfreuen. Doch dieser Wissenschaft eigentlich solider Grund und Ausbau war erst der höheren Brütanstalt vorbehalten.

In allen ernsten und heitern Stunden des Lebens aber, unter allen Arbeiten, unter allen Spielen, begleitete den treuen Wilhelm Meister das Bild seines verlorenen Eduard's. Wenn aus Anlaß griechischer Mythologie der Raub des Hylas berührt wurde, so überfiel ihn unnennbare Trauer, denn Eduard stand vor seiner Seele, und wer konnte wissen, welche Nymphen oder gar Nereiden ihn auf seiner Flucht über Land und Meer hinabgezogen haben mochten! Als er einmal aufgerufen wurde, im Neuen Testamente die Parabel vom verlorenen Sohne aus der Ursprache zu übersetzen, jene Parabel, die so tiefschmerzliche Erinnerungen in ihm weckte, da mußte er, um das unwillkürliche Thauen seiner Augen vor dem befremdet forschenden Professor zu rechtfertigen, zu einer Nothlüge greifen und eine Entzündung vorschützen. Dem andern der beiden Professoren, der die Geschichte aus dem Stegreif vorzutragen pflegte, begegnete es einst, daß er, von den Unthaten des Herodes gegen seine Familie so wie von der Verstimmung des Kaisers über diese fortgesetzten Excesse handelnd, den ihm just präsenten Sprachvorrath vor der Zeit erschöpft hatte und nun für den letzten Schlag nicht mehr den nöthigen Klimax fand, so daß er nur noch sagen konnte: „Da gerieth Augustus in einen solchen Zorn, daß es... daß es... ganz außerordentlich war.“ Alles biß in die Taschentücher, um den Effect dieser Wendung in die loyalen Schranken der Ehrerbietung einzuschließen. Wilhelm aber nahm keinen Antheil an der Heiterkeit seiner Compromotionalen; er senkte den Kopf auf das Subsellium und ließ eine stille Thräne auf dasselbe fallen, denn über dem tragischen Geschick der jüdischen Prinzen konnte er nur der Erbarmungslosigkeit gedenken, womit der Pfarrer von Y...burg seinen unglücklichen Sohn behandelt hatte.

Zur Vorbereitung auf den technisch-rhetorischen Theil des künftigen Berufs waren sogenannte Declamationsübungen angeordnet, das heißt, freie, mit Gesticulationen begleitete Vorträge von Gedichten in deutscher Sprache, oder, wie ein durch und durch lateinischer Klostervorsteher sich einmal ausdrückte, im Vernakelsermon. Um den werdenden Theologen die Freiheit des menschlichen Willens ad hominem zu demonstriren, überließ man ihnen die Auswahl der Stücke, die sie recitiren wollten, natürlich, zur Verhütung von Inconvenienzen, unter Censur. Wilhelm Meister wählte sich nur Gedichte, in welchen der Name Eduard vorkam. Sein erstes war:

 

Dein Schwert, wie ist's von Blut so roth,

Edward, Edward!

Dein Schwert, wie ist's von Blut so roth,

Und stehst so traurig da! O!

 

Es war schwierig, diesem für den Gesang berechneten Refrain in der Form der Declamation gerecht zu werden, aber der junge Declamator löste seine Aufgabe mit Meisterschaft. Er wußte dem„O!“ verschiedene Modulationen, eine herz- und markzerreißender als die andere, zu geben, und die stumme Begleitung, die er seinen Händen anwies, stellte mit der höchsten Anschaulichkeit das Crescendo und Diminuendo der Empfindung dar, indem er sie zuerst nur in einem spitzen Winkel aus der gewöhnlichen Lage entfernte, dann horizontal ausstreckte, hierauf mit der Gebärde des Jammers steilrecht erhob und endlich hoffnungslos an den Seiten niedergleiten ließ.

Seine Leistung erntete allgemeinen Beifall, und wenn seine Freunde ihn von da an manchmal in etwas grunzendem Tone mit „O!“ begrüßten, so wollten sie hiemit keineswegs einen Spott, sondern bloß eine jocose Form der Huldigung ausdrücken.

Wilhelm Meister hatte bei der Wahl und dem Vortrag der Ballade an ganz andere Dinge gedacht, als an ästhetisch-rhetorische. Ihm hatte Eduard vorgeschwebt, mit rothem Schwerte, triefend von Indianerblut. So sah er ihn im Wachen, und auch im Schlafe besuchte ihn das gleiche Bild. Oft aber zeigte ihm auch ein bösartiger Traum den Skalp seines Freundes in den Händen einer triumphirenden Rothhaut, und er erwachte dann fröstelnd, drückte sich die Hände vor die Augen, und wünschte länger geschlafen zu haben.

Der Repetent jedoch, der diese Uebungen leitete, wurde nachgerade mit seinem ausbündigsten Declamator unzufrieden. Nicht der Name, um den sich die Stücke drehten, aber die Wahl derselben hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Diese war dem Fluche verfallen, der stets da waltet, wo die Poesie einem äußerlichen Zwecke dienen muß. Der Gedichte, die nun einmal den unvermeidlichen Namen enthalten sollten, gab es nicht zu viele; sie mußten kümmerlich zusammengesucht werden, und waren daher bald schwächlich sentimental, bald dürftig humoristisch. Er berief den im Irrgarten der Almanache umhertaumelnden Cavalier zu sich und fragte ihn, ohne seiner Freiheit im mindesten Eintrag zu thun, ob er nicht glaube, daß ihm der Gang nach dem Eisenhammer mundgerecht wäre. Wilhelm verstand den Wink und gehorchte. Alles ging auch gut, von der Furcht des Herrn bis zum Vobiscum Dominus, von da bis an des Ofens Schlund, und zurück zum Herrn von Zabern und der Dame von Savern. Als aber der Vortragskünstler, in der Abwesenheit seines Herzens, mit klagender Stimme fortfuhr:

 

Herr, nicht im Wald, nicht in der Flur

Fand ich von Eduard eine Spur!

 

da wurde er fürchterlich ausgelacht und von allen Seiten aufgezogen, so daß er nur durch die Erfindung, er betraure einen früh verstorbenen Bruder, dessen Andenken und Name ihm auf Schritt und Tritt nachfolge, weiteren Schraubereien und Spöttereien entging.

Seine Nachforschungen nach Eduard waren stets erfolglos geblieben. Da erfuhr er einst, der Pfarrer von Y...burg und seine Frau seien kurz nach einander gestorben, und ihre hinterbliebene Tochter befinde sich in einem zwar nicht ganz unerträglichen, aber doch immerhin drückenden Stande der Dienstbarkeit. Mit Erstaunen vernahm er die Kunde, denn er hatte bisher von diesem weiblichen Wesen gar nichts gewußt. Eine neue Gestalt,betrat jetzt den Schauplatz seines jugendlichen Denkens und Fühlens. Sein Herz wallte, und fest stand in ihm der Entschluß, die Schwester des Freundes zu retten, emporzuheben, vielleicht gar – – !

Ein Freudenschauer überlief ihn. Welch ein Ersatz, den ein freundliches Schicksal ihm für den nie verschmerzten Verlust zu bieten verhieß!

Es kostete ihn wenig Mühe, seine Mutter, deren Alles er war, dahin zu vermögen, daß sie die Waise zu sich nahm, und schon in den nächsten Ferien traf er in dem jetzt gleichfalls verwittweten Pfarrhause von A...berg, das eben seine Bewohner zu wechseln sich bereitete, die neue Hausgenossin an.

Kunigunde von Y...burg entsprach auf den ersten Blick nicht ganz dem Bilde, das sich Wilhelm Meister's Phantasie von ihr entworfen hatte. Sie war nicht eigentlich, was man schön nennt; sie glich ihrem Brnder etwas zu sehr, als daß nicht das Weibliche im Ausdruck ihrer Züge unter dieser Aehnlichkeit hätte leiden sollen. Um so wohlthuender aber stach gegen diese äußerliche Härte ein weiches, ja schmelzendes Seelenwesen ab.

Sie hing mit kindlicher Liebe an ihrer Wohlthäterin, suchte ihr jeden Stein aus dem Wege zu räumen, jede Mühe zu erleichtern, und diese innige Fürsorge übertrug sie auch auf den Sohn. Bald hatte sie ihm jedes kleine, ihm selbst oft unbewußte Bedürfniß abgelauscht, und gab dieser ihrer Pflege eine so reizend mütterliche Art, daß es ihm von Tag zu Tag schwerer wurde, ihrer zu entrathen.

Dabei flimmerte in ihren nußbraunen Augen – eine Spielart, wodurch sie sich denn doch ein wenig von ihrem Bruder unterschied – ein zärtliches Feuer, das, unterstützt durch die still wirkende Macht des täglichen traulichen Zusammenlebens, nach und nach den Zugang zu seinem Herzen finden mußte.

Wilhelm selbst stellte, obwohl ihm zu einer imponirenderen Mannesgestalt einige Schuh fehlten, einen ganz runden und wohlgemachten Jungen vor. Dürfen wir die Beschreibung seines Aussehens von einem mehrere Jahrzehnte vor der „schwedischen Gräfin“ erschienenen Roman borgen, so möchte sie erschöpft sein in den folgenden Worten: „Seine Röthe war mit einer blühenden Anmuth überzogen, gleich einer frischen Frucht, welche die ersten Anzwackungen einer unfreundlichen und rauhen Luft noch nie empfunden hat.“ Einigermaßen freilich dürfte das Gleichniß an dem bekannten Naturfehler leiden, der jeder Vergleichung zugeschrieben wird; denn es waren im letzten Semester einige Caritionen über ihn ergangen, welche, wie wir bereits wissen, nicht bloß An- sondern sogar Abzwackungen genannt werden konnten. Allein er hatte sie mit männlicherer Fassung ertragen, als jene erste Note.

Kunigunde hatte aus der elterlichen Verlassenschaft nur ein einziges Besitzstück davongetragen: unsern alten Bekannten, den fürstlichen Tubus. So sehr auch der Verkauf des Kleinods ihr in harter Zeit unter die Arme gegriffen haben würde, das brave Mädchen hatte sich nicht von dem theuren Andenken trennen können. Deßgleichen befand sich der unscheinbare Butzengeiger bei seinem Erben in den Händen liebevoll bewahrender Pietät.

Nun lagen die beiden guten Kinder häufig mit einander in dem Fenster, das der Pfarrer von A...berg einst ausgefüllt hatte, und das ihnen Beiden Platz gewährte, sahen Jedes durch seinen Tubus nach Y...burg hinab, und sprachen wehmüthig von den Tagen, da ihre Väter über diesen Zwischenraum und durch diese Fernröhren einander entgegen gesehen hatten. Die Schatten der Vergangenheit hatten keine Gewalt über diese Stunden: sie wirkten höchstens als sanfte Dämpfungen in das warme Licht der Gegenwart. Mit ernstem Sinnen wurde auch der unergründlich wunderbaren Lebensführung gedacht, welche die beiden Tubus nach so wechselvollen Beziehungen und Erlebnissen endlich näher als jemals zusammengebracht und im herzlichsten Einvernehmen geeinigt hatte.

Aber der fröhliche Unverstand, den schon Sophokles der Jugend zuschreibt, ließ es nicht bei so schwermüthigen und tiefsinnigen Unterhaltungen bewenden. Sie tauschten oft die Tubus gegen einander aus, stritten sich, welcher der bessere sei, und solche Zänkereien und Neckereien schritten mitunter bis zu kleinen freundschaftlichen Thätlichkeiten fort.

Dieser bedeutsame Austausch der Tubus, ohne Scheuleder jetzt – wie konnte er umhin, früher oder später einen Austausch der Herzen nach sich zu ziehen?

Wilhelm aber war schüchtern wie ein junges Mädchen, und Kunigundens Feuer wurde durch seine zarte Zurückhaltung gleichfalls gemildert. Er kehrte nach Verfluß der Ferien in's Kloster zurück, ohne seinem stürmisch klopfenden Herzen das befreiende Wort vergönnt zu haben.

Bis er wieder kam, war seine Mutter mit Kunigunden in die Residenz gezogen. Hier hatten freilich die Fernröhren weniger Spielraum, aber die Herzen schienen auch solches Vehikels je länger je weniger zu bedürfen. Indessen mußten sie sich immer noch darauf beschränken, einander ohne Worte zu verstehen. Wilhelm war zwar zum Uebergang in die höhere Anstalt vorgerückt, und trat demgemäß ziemlich unternehmend auf, aber in allen andern Materien eher als im Thema der Liebe. Ohnehin befand sich ja das junge Paar in jenem eigenthümlichen Alter, worin – wir reden von goldenen Zeiten, welche längst vorüber sind – die Schäferinnen kühner und die Schäfer sanfter wurden. „Liebe Unschuldige!“ schrieb damals der Bräutigam. „Lieber Unschuldiger!“ antwortete die Braut.

So mußte nun doch zuletzt der Talisman, der die Väter einander eine Zeit lang genähert hatte, die Verbindung der Kinder vollbringen.

Es war ein naßkalter Nachmittag, die Mutter auswärts zum Kaffee gebeten, da saß das Pärchen im schon geheizten Zimmer, und hörte. eben im Zriny zu lesen auf. Wilhelm hatte den Juranitsch noch in allen Gliedern stecken, und rief, so für das Vaterland sterben zu dürfen, sei das schönste Loos, das er sich gleichfalls wünsche.

Ja! so seid ihr Männer! entgegnete Kunigunde mit von unterdrücktem Weinen zitternder Stimme, die das wilde Mannesherz so süßschmeichelnd ergreift. Ihr möchtet nichts als hinaus in Schlacht und Sturmesbrausen. Was kümmert euch der Gram von Herzen, die ihr dahinten laßt, unter die Hufen eurer Rosse getreten!

Es war dieß die Sprache jener Friedenszeit, die ihre Gefühle gern in kriegerische Bilder kleidete.

Eine innere Stimme sagte Wilhelmen, daß jetzt der Moment zur Erklärung gekommen sei, aber ein unüberwindliches Kanonenfieber befiel ihn. Er schwieg eine Weile, und sagte dann, etwas kleinlaut im Bewußtsein der abfälligen Nüchternheit seiner Bemerkung, für jetzt habe es keine Gefahr, da ihm ja eine ganz andere Laufbahn bevorstehe.

Hiegegen hatte sie nichts Gegründetes einzuwenden, und so trat ein verlegenes Stillschweigen ein.

Kunigunde faßte sich zuerst. Sie wußte sich jedoch nicht anders zu helfen, als indem sie das Instrument, das ihnen schon so oft zu ihren Spielereien gedient hatte, aus der Commode nahm. Sie richtete schäkernd den Tubus zuerst auf den Freund, dann in die Ecke des Zimmers, und behauptete, sie sehe ihn in seinem künftigen Pfarrhause, an der Seite seiner künftigen Pfarrerin.

Wilhelm wollte durchaus wissen, wer diese sei, oder wenigstens wie sie aussehe.

Kunigunde verweigerte jede Auskunft.

Nun begehrte er das Fermohr.

Sie zog es zurück, aber nur um es ihm im nächsten Augenblicke freiwillig darzureichen.

Er aber war schon aufgesprungen, um heftig darnach zu greifen, und wie eine zu hastige Bewegung manchmal auf eine dem beabsichtigten Zweck entgegengesetzte Weise wirken kann, so schlug er ihr den Tubus, statt ihn zu erhaschen, mit Gewalt aus der Hand. Das kostbare Instrument, das größere Faßlichkeiten unversehrt überstanden hatte, flog an die scharfkantige Sophaecke und gelangte in bedauernswerthem Zustande zu Boden. Als Wilhelm es aufhob, waren die Metallröhren verbogen, und in dem geheimnißvollen Innern gab sich ein unheilverkündendes Klirren von Glasscherben kund.

Einen stummen Blick des Jammers konnte Kunigunde , nicht mehr zurücknehmen, weil er bereits abgegangen war; aber sie bezwang sich mit einer sittlichen Kraft, welche die Stärke gewöhnlicher Naturen überstieg. Das Letzte, was sie ihr Eigenthum, ja selbst ihr geistiges Eigenthum nennen konnte, sofern die Erinnerung an eine verstorbene und verstobene Familie darin verkörpert war, hier schwebte es vernichtet vor ihren Augen! Und doch ließ sie der unwillkürlichen Sprache der Augen nicht ein Wort des Vorwurfs folgen. Versöhnlich trat sie an den Zerstörer ihres einzigen Schatzes heran, legte den Kopf auf seine Schulter und weinte still.

In diesem Augenblicke fühlte sich Wilhelm um mehrere Jahre gereift. Mannessinn und Mannesmuth erwachten in ihm. Kunigunde, sagte er mit bebender Stimme, doch fest: was ich dir auch zur Vergütung dieses unersetzlichen Schadens bieten mag, ist zu wenig: und doch kann ich dir nicht mehr bieten, als mich selbst.

Mein Wilhelm! schluchzte sie und hing an seinem Halse.

Dein! stammelte er.

O Gott! hauchte sie.

Eduard! rief Wilhelm Meister, schwärmerisch in die Ferne blickend, während er mit der einen Hand die Verlobte umschlang und in der andern den geknickten Tubus hielt: Eduard, wenn du nicht mehr sein solltest, so sieh freundlich von einem besseren Sterne auf diesen schönen Augenblick herab! Lächelt aber in irgend einem Theil der Welt die Sonne deinem Erdendasein noch, so nimm unfern vereinten Gruß, und möge eine Ahnung in dieser Stunde dich umwehen, dir kündend, was kein Götterbote künden kann!

 

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1) Erst Paul Heyse gab dem Text den Titel „Die beiden Tubus“ (U.H.) 

2) Kirchengeschichtlicher Ausdruck für à son aise. 

3) Aber die Kirchenbücher? Anm. d. Herausgebers. 

4) An dieser Stelle endet der von Paul Heyse herausgegebene Text in der Neuausgabe in den Gesammelten Werken von 1874, Band 10, S. 5 ff. (U.H.)