BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Eduard Mörike

1804 - 1875

 

Wispeliaden

 

[Wispel auf Reisen]

 

_______________________________________________________________________

 

 

 

Unserem Druck liegt zugrunde: H = Handschrift der Königlichen Landesbibliothek in Stuttgart: Cod. hist. 4° 327,6, a b c (Nr. 16), bezeichnet ,,Mörike-Sammlung aus dem Nachlaß von Hartlaub". Die Handschrift stellt einen Quartbogen gelben gerippten Papiers ohne Wasserzeichen dar. Alle 4 Seiten sind von oben bis unten in einem Zuge beschrieben und weisen fast gar keine Korrektur und wenig Abkürzungen auf.

 

Im Wirtshaus zu D., einem kleinen Dorfe, hörte ich etwas von den 2 Schlingeln. Derjenige, der sich Professor nennt, hatte in einer Trödel­bude zu Reutlingen für seine letzten 30 Kreuzer ein Blatt von der Boh­nenbergerischen Landes-Charte gekauft. Das Blatt umfaßte zufälliger­weise den Distrikt von der Gegend bei Aalen, wohin sie auch gerade zu reisen hatten, um den Druckapparat eines ruinierten Buchdruckers in der Auktion zu besehen. Der Professor glaubte, daß auf denselbigen sehr waldigen Wegen eine Charte höchst nötig sei: „Kaufen wir den Flächendeuter!“ – sagte er zu seinem Bruder – „es ist auf alle Fälle!“ Man kaufte das Stück und bei dem Dorfe E. von wo an es brauchbar wurde, breitete der Professor die ganze Papierrolle auf dem kleinen Schubkärchelchen [sic] aus, das er seit einiger Zeit mit dem wenigen Gepäck, das die beiden hatten, vor sich herzuführen pflegte. So rückte man schnelle vorwärts, der Professor, den Blick immer unverwandt auf die Charte gerichtet, überzeugt, daß sie so unmöglich fehlen könnten. Spät abends kehrte man in einer schlechten Dorfkneipe über Nacht ein, und der Professor benannte schon in der Ferne das Ort aus der Charte, ohne sich durch weiteres Fragen zu berichten. Sie ließen sich vom Wirt 4 Täubchen geben, den Salat hatten sie selbst mitgebracht. Morgens vor Tagesanbruch aber entfernten sie sich, wie gewöhnlich, ohne Abschied aus der Herberge; der Professor war recht munter unterweges und blinzelte unter allerhand Reden die aufgehende Sonne an. So ging's nach der Anweisung des Bohnenbergers den ganzen Tag vorwärts; außer ein paar Banmeisen brachte der Professor bis abends nichts über den Mund, der Uchrucker hatte aber l½ Täubchen bei sich von gestern. Abends gegen 5 Uhr war es, als der Herr, der mir diese Notizen nachher erzählt hat, auf der Wegscheide bei O. mit den Gebrüdern zusammen­traf. Er lief ½ Stunde hinter ihnen her und hörte folgendes Gespräch:

Prof.: „Nein, gib acht, Bruder, was du für ein Geschäftsleben, ein Negotiieren haben wirst, wenn nur beinmal erst die Ruckerei angekauft ist. Ich werde dir nach Kräften in die Hände arbeiten. Ich schreibe die Bücher, und du wirst sie rucken. Es muß himmlisch sein! Ich habe noch nie etwas Gerucktes von mir gesehen. Ich habe schon 3-4 Vorreden im Kopfe, die Prolegoménen sind die Hauptsache, vielleicht geb' ich sie auch einzeln heraus. Ich weiß noch nicht recht über was ich zunächst schreiben werde.“

Buchdr.: „Hm, mnä“ (ganz gedankenlos).

Prof.: „Ein Werk aber wird Aufsehen, Revolte veranlassen, das ist mein: Sturz Linées [sic]. Du kennst diesen Naturalisten, diesen Schwärmer. Sein System ist sinnlos. Es gibt nichts Kapriziöseres als seine Einteilung der Pflanzen- und Bestial-Welt. Man kann ihn einen trocknen Verstandes-Schwärmer nennen, einen Sophisten. Ich habe 302 Sophimata [sic] bei sei'm System aufgezählt.“

Buchdr.: „Mnja.“

Prof.: „Meine Gegenbehauptungen werden stark, sie werden kühn sein, aber um so gewisser werden sie siegen. Man wird sie am Ende natürlich finden, man wird Linée'n einen Pedantiker nennen: Was konnte ihn z. B. verleiten, die Rubrik der Säugetiere so einzuschränken? Ist etwa die Bremse, der Blutegel, die Honigträgerin, nicht so gut ein Säugetier als der Elephas helfenbeiniensis etc.? Wie? übersah Herr Linée denn gänzlich die Saugrüssel dieser Geschöpfe? Er muß wahrhaftig noch keine Biene in der Nähe betrachtet haben. Wie weise ist vom Schöpfer alles eingerichtet! und das sollte Herrn L. entgangen sein? Ferner wie engherzig ist bei ihm die Rubrik „Insekten“! Was will er denn? Ich werde den Satz aufstellen, daß alles Geflügel, was unter der Größe der Schnepfe ist, zu den Insekten zu rechnen sei. Mit 8 Worten ist dies bewiesen. Ferner: Warum rechnet Herr L. die Fische nicht zu den Mollusken? gibt es ein kätschiger Fleisch als das der Schwimmtiere? Der Walfisch ist der größte Mollusk. Überhaupt aber was will eine Einteilung der Werke Allvaters besagen vonseiten eines endlichen Verstandeswesens? Wie kann er sagen, dies ist groß und jenes klein, dies ist ein Ungeheuer, jenes ein Infusionstier? In den Sehnerven Allvaters rinnt das Volumen eines Nilpferds zu einer Banmeise zusammen. So ist der Mammut eigentlich nur die größte Infusion.“

Buchdr.: „Mnä.“

Prof.: „Weil aber doch einmal klassifiziert sein muß, so will Ich klassifizieren. Ich werde namentlich die bisherige Ordnung der Planten, Blumen oder Floskeln umstoßen. Ebenso das Gestein-Reich. Ich werde zeigen, daß es auch unter den Steinen Männgen und Weibgen gibt. Auch sie begatten sich.“ etc.

Hier wurde der Buchdrucker aufmerksam, und es entspann sich ein Gespräch, das ich nicht erzählen mag. „Ich blieb absichtlich zurück“ – sagte jener Herr. –

In der nächsten Stadt fand ich sie in einem ordentlichen Gasthof wieder. Sie mußten einen starken Umweg gemacht haben, denn sie langten mit mir im Wirtshaus an, ob ich sie gleich einen großen Vorsprung auf der Chaussee hatte nehmen lassen. Beim Eintreten in die Tür sagte der Professor mit seiner lispelnden Stimme zum andern: „So hätt' ich dich denn mit Beihülfe meiner Charte glücklich nach Aalen gebracht!“ Er wiederholte dies öfters, und endlich nahm auf seine Frage: „Nicht wahr, dies ist doch Aalen?“ – der Wirt das Wort: „Bitt' um Verzeihung, Sie sind hier im Bayrischen zu S.“

Der Professor ward über und über rot, wollte sich korrigieren und erwiderte, er frage nicht nach dem Namen einer Stadt, sondern: ob es keinen Aal zu speisen gäbe. „O ja!“ war die Antwort. – Das hatte der Professor nicht erwartet, er kam in noch größere Verlegenheit, wollte die Bestellung ablenken und sagte, er meine nämlich einen Zitteraal, dergleichen er in Triest gegessen, sie seien aber freilich auch dort schwer zu fangen wegen ihrer Elektrizität. – „Das haben wir hier zu Lande gar nicht.“ – „So? so bringen Sie mir zwei Weichsöttlinge!“ (weich gesottene Eier). Der Buchdrucker lachte in die Hand beiseite, und die Eier wurden bald gebracht. Nach einiger Zeit rief der Buchdrucker den andern in den Öhrn und schloß sich mit ihm auf dem Privet ein. Ich bemerkte, daß er seinen Stock mitgenommen hatte, und alsbald hörten wir einen entsetzlichen Lärmen entstehen. Ganz deutlich vernahm ich die Worte des Buchdruckers: „Du Taugenichts! Du windiges Mutterschwein! Was führst du mich so an der Nase herum? Du Hund! Mit deinem Flächendeuter! Ich will jetzt dir den meinigen auf den Rücken zeichnen!“ usw. Es klopfte und winselte erbärmlich, und dazwischen lachte der Buchdrucker wieder auf jene widerliche und malitiöse Art. Nach einer Viertelstunde kamen sie wieder heraus; der Professor machte ein so vergnügtes Gesicht als wäre nichts geschehen. Ich bemerkte auch und erfuhr später, daß eigentlich dem Buchdrucker nichts daran lag, wo sie hinliefen; mit dem Ankauf der Druckerei war es ihm gar nicht ernst, ob er sich gleich gegen den armen Professor das Ansehen gab.