BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Carl von Savigny

1779 - 1861

 

Beitrag zur Rechtsgeschichte des

Adels im neueren Europa

 

Erster Abschnitt

 

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Erster Abschnitt.

 

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Die Urzeit.

 

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Für die Urzeit sind wir auf die Angaben des

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Tacitus beschränkt. Dieser ist nun von allen

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neueren Schriftstellern so allgemein benutzt worden,

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daß man an der Möglichkeit verzweifeln möchte,

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ihm noch eine neue Seite abzugewinnen. Dennoch

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ist schon der Umstand von großem Einfluß, welche

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unter seinen Angaben als Grundlage der übrigen

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behandelt werden sollen.

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In den Deutschen Völkerstämmen nimmt er vier

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Stände an: Nobiles, Ingenui, Libertini, Servi. Dieses

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sagt er zuerst bei den Deutschen überhaupt,

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dann noch besonders bei den Suionen. Nun bilden

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offenbar die Libertini keinen bleibenden Stand,

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sondern nur den Uebergang aus dem untersten Stand

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zu den Freien, indem die Nachkommen des Libertinus

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(so wie in Rom) Ingenui wurden. Also sind nur

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drei bleibende Stände übrig, Adel, Freie, Unfreie;

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und da die zwei letzten entschieden geschlossene, forterbende

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Stände waren, so ist auch unter dem Adel

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etwas diesen Gleichartiges zu denken, also ein forterbender

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Stand in bestimmten Gränzen, nicht blos

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das unbestimmte Wesen der Vornehmeren oder Angeseheneren

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unter den Freien. Könnte man hieran

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noch zweifeln, so würde eine andere Stelle desselben

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Schriftstellers jeden Zweifel entfernen. Unter der

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Regierung des Kaisers Claudius kamen Cheruskische

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Gesandte nach Rom, um den Italicus (Bruderssohn

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des Arminius), der in Rom lebte, zum König

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ihres Volkes zu begehren. Die Veranlassung

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dieses Entschlusses lag darin, daß er allein aus dem

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Königsstamm übrig, der Adel des Volkes aber in

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den inneren Kriegen umgekommen war. Diese

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letzte Thatsache jedoch ist nicht nothwendig von gänzlicher

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Ausrottung, sondern auch schon von großer

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Verminderung zu erklären. – Von den Servi übrigens

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hat Tacitus einen sehr bestimmten Begriff.

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Er beschreibt sie, so wie sie in der Regel vorkommen,

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als einen Stand höriger Bauern, die von

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ihrem Hofe dem Grundherrn Getreide, Vieh, oder

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Kleidung als Abgabe entrichten (Cap. 25.). Ausnahmsweise

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kommen auch Sclaven vor, die für Geld

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verkauft werden; Das giebt er nur an bei Freien,

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die erst ihr Vermögen, dann ihre Freiheit, im Spiel

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verlieren (Cap. 24.). Ohne Zweifel gehörten dahin

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aber auch die Kriegsgefangenen, insofern sie nicht auf

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einem Hofe angesiedelt wurden. Er kennt also schon

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verschiedene Stufen der Unfreiheit, so wie sie in der

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späteren Zeit stets vorkommen.

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Als bestimmter Vorzug des Adels wird wörtlich

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nur Dieses erwähnt, daß in den von Königen

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beherrschten Staaten die Könige, aber nicht die Heerführer,

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aus dem Adel genommen werden. Das

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kann einen doppelten Sinn haben; entweder waren

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es Wahlreiche, mit ausschließender Wählbarkeit des

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Adels, oder das Wort sumunt ist in einem allgemeineren

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Sinne zu nehmen, so daß nur der Gegensatz

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von Erbrecht und Wahl gemeint wäre, und daß

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die ganze Stelle diesen Sinn hätte: Die Königswürde

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wird erlangt durch Erbrecht, also durch die Geburt

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aus dem edlen Königsstamm, die Feldherrenwürde

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durch Wahl, welche nicht auf Geburt, sondern nur

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auf Tapferkeit Rücksicht nimmt.

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Weit ausführlicher spricht Tacitus von der

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Einrichtung der Gefolge. An einen Princeps oder

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Häuptling schließen sich ganz freiwillig comites an;

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im Kriege bilden sie ein Heer, im Frieden seine glänzende

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Umgebung; dafür giebt er ihnen Pferd und

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Waffen und Platz an seiner Tafel (Cap. 14.).

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Dieses Band ist fest durch Ehre und Kriegslust,

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sonst beruht es auf freiem Willen, auch der Austritt

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scheint frei, und am wenigsten ist es ein erblicher

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Dienst. Die Principes haben große politische

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Vorrechte; die kleineren Geschäfte der Nation

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werden von ihnen allein besorgt, größere von ihnen

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für die Versammlung der Nation vorbereitet; in

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dieser hält bald der König, bald ein Princeps

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den Vortrag (Cap. 11.). In derselben Versammlung

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werden auch die richterlichen Obrigkeiten

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erwählt, und zwar lediglich aus der Zahl der

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Principes.

10:1

Wer sind nun aber diese Principes? Und wie

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verhalten sie sich zu dem Adel? Wir finden hier auf

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der einen Seite drei Stände angegeben, deren erster

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der Adel ist, auf der andern Seite in der Verfassung

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eine Aristokratie mit großen Vorrechten. Es

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ist aber undenkbar, daß der Adel dieser Aristokratie

10:7

ganz fremd gewesen wäre, indem die Theilnahme

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an derselben blos von einem an sich zufälligen und

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veränderlichen Umstand (der Bildung eines Gefolges)

10:10

abgehangen hätte. Dieser Widerspruch verschwindet,

10:11

wenn man annimmt, es sey eben das Vorrecht des

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Adels gewesen, ein Gefolge von Freien zu halten,

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und es habe jeder Edle seinen Einfluß in der Verfassung

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nur insofern geltend machen können, als er

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jenes Vorrecht benutzt und auch wirklich ein Gefolge

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gebildet hätte. Dann wäre da, wo Tacitus die

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Verfassung der Staaten beschreibt, unter den Principes

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eben nur der Adel zu denken, und es wäre

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so der vollständigste Zusammenhang unter den verschiedenen

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Angaben hergestellt.

11:3

Aber nicht blos die Nothwendigkeit des innern

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Zusammenhangs spricht für diese Erklärung, sondern

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es fehlt dafür auch nicht an einzelnen bestätigenden

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Stellen. So werden einmal geradezu die Principes

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als der junge Adel bezeichnet. Ferner heißt es

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in einer oben angeführten Stelle (aus Cap. 12.),

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daß jedem zum Richteramt erwählten Princeps Hundert

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Männer ex plebe beigegeben würden. Der

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Ausdruck plebs bildet einen befriedigenden Gegensatz

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nur, wenn man in dem Princeps, dessen Begleiter

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sie sein sollen, die nobilitas stillschweigend voraussetzt.

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Eben so wird auch anderwärts die plebs den

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Principes entgegengesetzt. Zweideutiger ist eine

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andere Stelle, die jedoch durch meine Voraussetzung

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den befriedigendsten Sinn erhält. Mit der ersten,

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halb unreifen Jugend (sagt er) ist die Würde eines

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Princeps nur ausnahmsweise vereinbar, wenn entweder

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der besondere Glanz des Geschlechts (insignis

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nobilitas), oder das ausgezeichnete Verdienst des

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Vaters, diese Ausnahme rechtfertigen; in der Regel

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aber fängt auch der junge Adel damit an, in dem

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Comitat eines Andern, schon Reiferen zu dienen, auch

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gilt dieser freigewählte Dienst nicht als Herabwürdigung

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des Standes.

12:10

Faßt man diese Angaben zusammen, so erscheint

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darin der Adel als ein erblicher Stand von zwiefachem

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Einfluß: durch das Gefolge, welches ihm eigenthümlich

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und gewöhnlich war, und durch bedeutende

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Vorrechte in der Verfassung. Innere Wahrscheinlichkeit

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spricht dafür, daß auch priesterliche Vorrechte

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mit dem Adel verbunden waren, aber Tacitus

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sagt davon Nichts.