BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Karl Simrock

1802 - 1876

 

Das Nibelungenlied

 

Einleitung

 

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Der Nibelungenhort.

 

I.

 

Es war einmal ein König,

Ein König wars am Rhein,

Der liebte nichts so wenig

Als Hader, Gram und Pein.

5

Es grollten seine Degen

Um einen Schatz im Land

Und wären fast erlegen

Vor ihrer eignen Hand.

 

Da sprach er zu den Edeln:

10

«Was frommt euch alles Gold,

Wenn ihr mit euern Schedeln

Den Hort erkaufen sollt?

Ein Ende sei der Plage,

Versenkt es in den Rhein:

15

Bis zu dem jüngsten Tage

Mags da verborgen sein.»

 

Da senkten es die Stolzen

Hinunter in die Flut;

Es ist wohl gar geschmolzen,

20

Seitdem es da geruht.

Zerronnen in den Wellen

Des Stroms, der drüber rollt,

Läßt es die Trauben schwellen

Und glänzen gleich dem Gold.

 

25

Daß doch ein Jeder dächte

Wie dieser König gut,

Auf daß kein Leid ihn brächte

Um seinen hohen Muth.

So senkten wir hinunter

30

Den Kummer in den Rhein

Und tränken froh und munter

Von seinem goldnen Wein.

 

 

II.

 

Einem Ritter wohlgeboren | im schönen Schwabenland

War von dem weisen Könige | die Märe wohlbekannt,

Der den Hort versenken ließ | in des Rheines Flut:

Wie er ihm nachspüre | erwog er lang in seinem Muth.

 

5

«Darunter lag von Golde | ein Wunschrüthelein;

Wenn ich den Hort erwürbe, | mein eigen müst es sein:

Wer Meister wär der Gerte, | das ist mir wohl bekannt,

Dem wär sie nicht zu Kaufe | um alles kaiserliche Land.»

 

Auf seinem Streitrosse | mit Harnisch, Schild und Schwert

10

Verließ der Heimat Gauen | der stolze Degen werth:

Nach _Lochheim_ wollt er reiten | bei Worms an dem Rhein,

Wo die Schätze sollten | in der Flut begraben sein.

 

Der werthe Held vertauschte | sein ritterlich Gewand

Mit eines Fischers Kleide, | den er am Ufer fand,

15

Den Helm mit dem Barete, | sein getreues Ross

Mit einem guten Schifflein, | das lustig auf den Wellen floß.

 

Seine Waffe war das Ruder, | die Stange war sein Sper:

So kreuzt er auf den Wellen | manch lieben Tag umher

Und fischte nach dem Horte; | die Zeit war ihm nicht lang;

20

Er erholte von der Arbeit | sich bei Zechgelag und Gesang.

 

Um das alte Wormes | und tiefer um den Rhein

Bis sich die Berge senken, | da wächst ein guter Wein:

Er gleicht so recht an Farbe | dem Nibelungengold,

Das in der Flut zerronnen | in der Reben Adern rollt.

 

25

Den trank er alle Tage, | beides, spät und früh,

Wenn er Rast sich gönnte | von der Arbeit Müh.

Er war so rein und lauter, | er war so hell und gut,

Er stärkte seine Sinne | und erhöht' ihm Kraft und Muth.

 

Auch hört er Märe singen, | die sang der Degen nach,

30

Von Alberich dem Zwerge, | der des Hortes pflag,

Von hohem Liebeswerben, | von Siegfriedens Tod,

Von Kriemhilds grauser Rache | und der Nibelungen Noth.

 

Da nahm der Degen wieder | das Ruder an die Hand

Und forschte nach dem Horte | am weingrünen Strand.

35

Mit Hacken und mit Schaufeln | drang er auf den Grund,

Mit Netzen und mit Stangen: | ihm wurden Mühsale kund.

 

Von des Weines Güte | empfieng er Kraft genug,

Daß er des Tags Beschwerde | wohlgemuth ertrug.

Sein Lied mit stolzer Fülle | aus der Kehle drang,

40

Daß es nachgesungen | von allen Bergen wiederklang.

 

So schifft' er immer weiter | zu Thal den grünen Rhein,

Nach dem Horte forschend | bei Hochgesang und Wein.

Am großen Loch bei Bingen | erst seine Stimme schwoll,

Hei! wie ein starkes Singen | an der Lurlei widerscholl!

 

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Doch fand er in der Tiefe | vom Golde keine Spur,

Nicht in des Stromes Bette, | im Becher blinkt' es nur.

Da sprach der biedre Degen: | «Nun leuchtet erst mir ein:

Ich gieng den Hort zu suchen: | der große Hort, das ist der Wein.

 

«Der hat aus alten Zeiten | noch bewahrt die Kraft,

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Daß er zu großen Thaten | erregt die Ritterschaft.

Aus der Berge Schachten | stammt sein Feuergeist,

Der den blöden Sänger | in hohen Thaten unterweist.

 

«Er hat aus alten Zeiten | mir ein Lied vertraut,

Wie er zuerst der Wogen | verborgnen Grund geschaut;

55

Wie Siegfried ward erschlagen | um schnöden Golds Gewinn

Und wie ihr Leid gerochen | Kriemhild, die edle Königin.

 

«Mein Schifflein laß ich fahren, | die Gier des Goldes flieht,

Der Hort ward zu Weine, | der Wein ward mir zum Lied,

Zum Liede, das man gerne | nach tausend Jahren singt

60

Und das in diesen Tagen | von allen Zungen wiederklingt.

 

«Ich gieng den Hort zu suchen, | mein Sang, das ist der Hort,

Es begrub ihn nicht die Welle, | er lebt unsterblich fort.»

Sein Schifflein ließ er fahren | und sang sein Lied im Land:

Das ward vor allen Königen, | vor allen Kaisern bekannt.

 

65

Laut ward es gesungen | im Lande weit und breit,

Hat neu sich aufgeschwungen | in dieser späten Zeit.

Nun mögt ihr erst verstehen, | ein altgesprochen Wort:

«Das Lied der Nibelungen, | das ist der Nibelungenhort.»

 

K. S.