BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Carl Spitteler

1845 - 1924

 

Imago

 

5. Kapitel

 

______________________________________________________________________________

 

 

 

Viktor ergibt sich

 

Dem unverhofften Frühschnee zum Gruß – man war ja fast noch im Oktober – hatte die Idealia eine Schlittenfahrt veranstaltet, und auf dem Rückweg wurde in einem Waldwirtshaus eingekehrt. Als nach genossenem Tee Viktor gleich den übrigen seinen frühern Schlitten wieder aufsuchte, zeigte der Kutscher, der ihn zusammen mit Pseuda und zwei andern Herren geführt hatte, mit der Geißel nach vorn: «Eure Frau sitzt jetzt im vordern Schlitten.» Der hatte demnach, wer weiß warum, mag sein, weil sie sich beständig zankten, Viktor und Pseuda für Mann und Frau gehalten.

«Warten Sie einen Augenblick», rief Viktor leidenschaftlich, und hastig seine Börse ziehend, drückte er ihm ein Goldstück in die Hand.

Der Kutscher spiegelte das Geld im Laternenschein. «Das ist ja ein Goldstück», machte er verwundert, fast vorwurfsvoll.

«Weiß schon. Behalten Sies nur.»

«Ja wofür denn?»

«Weil Sie unter vielen Tausenden der einzige vernünftige Mensch in der Stadt sind.» Nach diesen Worten setzte er sich ein und sprach auf der ganzen Heimfahrt kein Wort mehr. Kaum jedoch zu Hause angelangt, berief er seinen Verstand:

«Ich habe dich zwar in der letzten Zeit ein wenig stark vernachlässigt. Nimm mirs, bitte, nicht übel und hilf mir.»

«Ich nehme überhaupt nie etwas übel», erwiderte der Verstand. «Womit kann ich dienen?»

«Das und das ist mir in der Aufregung entschlüpft. Es kommt mir ein wenig verdächtig vor. Sag mir offen, was bedeutet das?» Und erzählte ihm den Vorfall mit dem Goldstück.

«Ja, willst du wirklich die Wahrheit hören?»

«Jedenfalls die Wahrheit. Nur nicht sich selber anlügen, nur das nicht.»

«Gut, so setz dich und hör zu. Aber rechne genau nach, ob ich nicht etwa einen Fehler mache. Also, ich fange an: Indem du dem Manne ein Goldstück schenktest, dafür, daß er Pseuda für deine Frau hielt, wolltest du ihn dafür belohnen, nicht wahr?»

«Selbstverständlich.»

«Und wenn du ihn dafür belohnen wolltest, so beweist das, daß dir sein Irrtum lieblich tönte.»

«Vielleicht.»

«Nicht ‹vielleicht›, ich verlange bestimmte Antwort. Ja oder nein?»

«Nun denn, meinetwegen ja.»

«Nicht ‹meinetwegen ja›, sondern bündig: ja oder nein?»

«Ja.»

«Gut, Ich fahre fort. Wenn aber schon die bloße irrtümliche Vorstellung eines Dritten, noch dazu eines gleichgültigen, wildfremden Menschen, eines Kutschers, Pseuda wäre deine Frau, dir armen Schlucker ein Goldstück wert war, so verrät das, daß du namenlos selig sein würdest, wenn Pseuda in Wahrheit deine Frau wäre.» Und da jetzt Viktor mit einer Verwünschung aufsprang, tollwütig gegen den Spruch lärmend, bemerkte der Verstand gelassen: «Ja, wenn du nur das hören willst, was du hören möchtest, so kauf dir einen Lakaien. Leb wohl, ich gehe.»

«Nein, bitte, bleib, es war nicht böse gemeint. Also, du hieltest es wirklich für möglich? Unsinn! Man kann doch nicht lieben, wenn man gering schätzt.»

«O lala! Nichts Gewöhnlicheres als das! Lieben müssen, wen man geringschätzt, ist das Tagblatt der männlichen Liebe. Übrigens ist es ja nicht einmal wahr, daß du sie geringschätzest; du möchtest es wohl, allein es gelingt dir nicht. Und es kann dir nicht gelingen; deswegen, weil du sie im geheimen bewunderst; und du mußt sie bewundern, weil du weder verblendet noch unbillig genug bist, um ihre bewundernswerten Eigenschaften nicht bemerkt zu haben. Doch wozu das Gerede? Zeig mir in meiner Rechnung irgendeinen Fehler.»

Da ward Viktor zumute wie einem, der bei gesundem Befinden ein sonderbares Pustelchen an der Unterlippe entdeckt, und ein teuflischer Gedanke raunt ihm zu: «Doch hoffentlich nicht etwa Krebs!» «Ach was, warum nicht gar?» Und geht lieber gleich zum Arzt, um sich von ihm tüchtig auslachen zu lassen; der aber zieht ein rätselhaftes Gesicht: «Gut, daß Sie rechtzeitig gekommen sind; jetzt ist die geringfügige Operation noch eine lächerliche Kleinigkeit.»

Trübsinnig unternahm er einen verzweifelten Versuch, die Diagnose zu entkräften. «So etwas kommt doch nicht plötzlich; da müßten doch noch andre Zeichen von früher her da sein.»

«Sind auch da», versetzte der Verstand. «Zum Beispiel jenen Abend bei Doktors, als du dich wie ein Dieb ins Speisezimmer zurückschlichst, um eine Apfelsine aufzuessen, in welche sie gebissen hatte.»

«Kindereien!»

«Einverstanden. Allein eben das, daß du ihretwegen Kindereien begehst, bedeutet für mich ein Zeichen. Oder bei Direktors, als du vor ihrem offenen Schlafzimmer stille standest – erinnerst du dich? – und das Dienstmädchen dich fragte: ‹Sind Sie unwohl, daß Sie so seufzen? darf ich Ihnen ein Glas Wasser holen?›»

«Ja, habe ich denn überhaupt geseufzt? Ich weiß von nichts.»

«Glaub ich gerne; die Seufzer geschehen meistens unbewußt; ich denke aber, das Dienstmädchen wird es schwerlich erfunden haben. – Und wieder damals, als du den Kaminfeger mit ‹Pseuda› angeredet hast und er dir antwortete: ‹Das muß eine Verwechslung sein; ich heiße nicht Pseuda, sondern August Hürlimann.›»

«Beweist doch nichts als Zerstreutheit.»

«Beweist, daß du keines andern Gedankens mehr fähig bist als Pseuda. – Und das Taschentuch, das du ihr stahlst und nachher heuchlerisch suchen halfst, warum trägst du das ewig in der Tasche herum? Ich will wetten, du hast es sogar in diesem Augenblick bei dir; gelt, du errötest? – Und dann die Räubergeschichte mit den Zahnschmerzen! – Und überhaupt, warum ist dir denn so erbärmlich zumute? Wo ist deine Fröhlichkeit hingekommen? Warum machst du ein Gesicht wie ein Fisch an der Angel, den man auf dem Trockenen herumzerrt? Warum zankst du dich mit jedermann und polterst über die ganze Welt wie ein rheumatischer Major? Das kommt davon, daß dir etwas fehlt. Was dir aber fehlt, läßt sich mit einem einzigen Worte nennen: Pseuda. So, jetzt hast du die Wahrheit, nach der du gefragt hast.»

Nach dieser Unterredung blieb Viktor stundenlang sitzen, gedankenlos, betäubt von der niederschmetternden Entdeckung. Dann plötzlich ermannte er sich. «Der stolze Ritter soll kommen», befahl er in seine Seele hinein.

Er erschien, waffenklirrend, ein Löwe hinter ihm. «Hier bin ich; was steht zu Befehl?»

«Gefahr! Ein Überläufer ist unter uns; ein Elender, der, Imagos heiligen Dienst verratend, mit einer Unwürdigen liebäugelt, einem gewöhnlichen Menschenweib. Halt scharfe Wacht, und den ersten, den du darüber ertappst, daß er sich unterfängt, eine gewisse sogenannte Pseuda, alias Frau Direktor Wyß, anzuliebeln, den bring mir.»

«Gehört, gehorcht», rief der stolze Ritter und entstampfte klirrend mit dem Löwen. Gleich darauf erschien der Löwe, ein ohnmächtiges Kaninchen in der Schnauze. «Da ist der Sünder», knurrte er, warf das Kaninchen auf den Boden, kehrte sich und ging.

«Dacht ichs doch», zürnte Viktor, «natürlich wieder das Herz, das alberne Kaninchen, das mir alles Unheil anrichtet.» Und das Kaninchen an den Ohren aufhebend, hielt er ihm eine Strafpredigt: «Siehst du denn nicht ein, du einfältiges, hirnloses Geschöpf, daß du dir selber eine Hölle heizest? Merk auf und lerne die fünf Paragraphen der Narrenliebe; sie sind so einfach, daß ein Regenwurm sie begreifen würde.

Paragraph eins: Keine Frau auf der ganzen Welt erträgt, daß man sie zuerst liebt; sondern sie muß dich zuerst lieben, deine Gegenliebe als eine unerhörte Gnade ersehnend. ‹Ich kann es nicht fassen, nicht glauben›, nach dieser Melodie. Sonst quält sie dich. Sie wollen nun einmal gequält sein, und wenn du sie nicht quälst, so quält sie dich. Sie braucht deswegen keineswegs böse zu sein, sie kann einfach nicht anders, es ist ein Naturgesetz. Weißt du, was ein Naturgesetz ist? Etwas, das man weder mit Hörnern noch Klauen ändern kann. Hast du das begriffen? Antworte.»

«Quiek», kreischte das Kaninchen.

«Ja, quiek. Es wäre gescheiter, du tätest danach. Paragraph zwei: Das Herz einer verheirateten Frau will von unten herauf erobert werden, durch den Ehebruch. Den mag ich aber nicht; du auch nicht. Also, was folgt daraus? Antworte.»

«Quiek», lautete die Antwort.

«Dritter Paragraph: Wenn du ein weibliches Wesen hättest heiraten können und hast es unterlassen, einerlei aus welchem Grunde, und stamme er aus dem siebenten Himmel, so verachtet sie dich zeitlebens. – Viertens: In dem Herzen einer zufriedenen Gattin und glücklichen Mutter kannst du so naturunmöglich Liebe reizen wie in einem satten Magen Hunger. Sag quiek.»

«Quiek.»

«Fünftens: Wenn eine Dame dich nicht ausstehen kann –»

«Quiek.»

«Wart doch mit deinem albernen Quiek, bis ich den Satz zu Ende gesprochen habe.»

Da war ihm das Kaninchen aus der Hand geschlüpft und purzelte angstschreiend davon. «Ach du!» rief er ihm nach. «Aber nimm dich wohl in acht, denn wenn du mir nur noch ein einziges Schmächterlein schnupperst –!»

«Dem hab ichs gezeigt», lachte er vergnügt, «das Kaninchen wird künftig nicht mucksen.»

Um jedoch vollständig sicher zu sein, tat er ein übriges und unternahm einen Rundgang durch die Arche Noah seiner Seele, vom obersten Stock bis in die Kellergewölbe des Unbewußten, nach allen Seiten Ermahnungen und Weisheit austeilend. Das edle Getier faßte er beim Selbstbewußtsein, indem er ihm von künftigem Ruhm und Triumphen erzählte, im Gegensatz zu der kläglichen Rolle, die sie als unglücklicher Liebhaber einer Frau Direktor Wyß spielen würden. Das Kleingetier dagegen köderte er mit Süßigkeiten, sie an frühere Liebesgenüsse erinnernd und ihnen noch weit köstlichere in Aussicht stellend, wenn sie sich nur noch ein kleines Weilchen wohl verhielten; endlich zum guten Schluß ließ er den Löwen die Treppe hinunterbrüllen. «Seid ihr nun alle überzeugt?»

«Wir sind überzeugt.»

«Gut, so betragt euch auch danach und gebt gegenseitig aufeinander acht.»

 

Durch diese Musterung gewann er Ruhe. Allein es war die Ruhe der gewaltsamen Spannung, wo über dem mühsam errungenen Gleichgewicht die Angst flattert. Wie ein Riese, der mit gekrampftem Rücken ein Gewölbe stützt, aber die Pein der Anstrengung ist so groß, daß er zweifelt, ob er nicht wünschen sollte, es möchte lieber gleich über ihm zusammenbrechen, damit die Not ein Ende nehme.

Darauf, nach den ersten vierundzwanzig Stunden, infolge des Wechsels von Tag und Nacht, von Müdigkeit und Erholung, gewöhnte er sich ein wenig daran; der Spannungsschmerz verdummte, die Not wurde erträglicher, das betäubte Bewußtsein der Gefahr unempfindlicher; nur noch ein gründliches Unbehagen meldete von drohendem Unheil, etwa so, wie wenn sich einer fragt: «Bekomm ich den Typhus, oder ist es nur so ein Gefühl?»

Die nächsten drei Tage brachten denn auch nichts Besorgliches. Im Gegenteil, er hatte mit dem Statthalter, der ihn unterwegs abfing und ins Bierhaus schleppte, ganz sachlich und gelassen, als ginge es ihn nichts an, über den Unterschied der antiken Liebe von der neuzeitlichen, empfindsamen abhandeln können und über die Ursachen dieses Unterschiedes. Nein, wer das kann, ist nicht liebeskrank. Und lächelnd erinnerte er sich, wie dem Statthalter im Eifer des Gesprächs der Satz entschlüpft war: «Tatsache ist, das kann ich Ihnen zugeben, daß mit dem Besitz, also zum Beispiel mit der Ehe, die eigentliche, echte Liebe in poetischem Sinn ein Ende nimmt.» Ei! ei! Statthalter! schon mehr ein kostverächterischer sofasatter Pascha! Freilich hatte der, sich besinnend, ängstlich den unbedachten Spruch zurückzuholen versucht. «Das heißt, wohlverstanden», verbesserte er sich, «nur die unechte Liebe; die echte, wahre Liebe im poetischen Sinn dagegen, die bleibt in der Ehe bestehen; im Gegenteil, sie fängt mit der Ehe erst eigentlich an.» Wie ihm das übrigens jetzt merkwürdig gleichgültig war, wie, was oder wen der Statthalter liebte oder nicht liebte! Entschieden, der Verstand hatte ihn ganz ohne Grund und Ursache geschreckt. Nur schade, daß er bei diesem Anlaß dem Statthalter hatte versprechen müssen, am Freitagabend zum Nachtessen zu kommen. Allein, wie man so in der Bedrängnis Einladungen annimmt: zu drei Vierteln genötigt und zum letzten Viertel gezwungen.

In der Nacht vom Donnerstag zum Freitag aber, ohne daß etwas Besonderes vorgefallen wäre – er hatte tagsüber gearbeitet und war dann nach dem Abendessen ein wenig ausgegangen – verriet ihn ein Traum.

Ihm träumte, Pseuda hüpfe in seinem Schlafzimmer herum, das eine Bein im Strumpf, das andere barfuß. «Wo ist denn mein Strumpf?» rief sie ärgerlich, «so hilf mir doch suchen, Faulpelz! Ah bah! weg mit! Der Johann soll den Jakob holen.» Setzte sich auf den Fußboden, zog den Strumpf aus und warf ihn in die Höhe. Da flügelten beide Strümpfe wirblings unter der Decke wie eine Windmühle. Dann war es eine Zeitlang verworren. Plötzlich stand sie neben seinem Bett, in einem kurzen Kinderhemdchen. «Platz da! Dilldapp!» befahl sie, stieß ihn gegen die Wand und lag neben ihm. Verwundert, mit großen Augen fragte er: «Ja, bist du denn nicht mit dem Statthalter verheiratet?» «Ich? mit dem Statthalter? wie kommst du auf diesen wunderlichen Einfall? Das wäre mir eine saubere Geschichte! da müßte ich mich ja zu ihm ins Bett legen! äh! uäh!» Da tat er aus tiefstem Herzen einen Seufzer, wie ein auf dem Wege zum Schafott Begnadigter. «So wäre es möglich? du wärest wirklich, wahrhaftig meine Frau und nicht dem Statthalter seine? O Gott, ich wage es noch immer nicht recht zu glauben. Wenn es am Ende bloß ein Traum wäre?» «Was hast du nur heute?» schalt sie unwillig. «Wenn es bloß ein Traum wäre, so schliefe doch nicht unser Kind dort in der Wiege, sondern dem Statthalter seins. Das ist doch klar!» «O Pseuda, Pseuda, wenn du wüßtest, wie unsäglich, wie namenlos unglücklich ich war, als mir träumte, du wärest dem Statthalter seine Frau!» «Wie kann man aber auch so einfältig träumen!» schmälte sie, «und noch so unanständig dazu! pfui, schäme dich!» Und stieß ihn mit dem Bein und patschte ihm mit der Hand auf den Mund.

Wie er dann aufwachte und, mit dem Finger die Tapete betastend, erfuhr, daß alles gerade umgekehrt war: er einsam im Bette liegend und Pseuda drüben beim Statthalter, wurde er inne, wie es um ihn stand; denn dieser Traum, das spürte er an seiner Traurigkeit, war ihm nicht von ungefähr gekommen; den hatte seiner Seele Sehnsucht gedichtet. Nicht mehr wegzutäuschen: er war liebeskrank, und zwar durch und durch, bis in die innersten Fasern. Und wen mußte er lieben! – o Schimpf der Demütigung! eine Frau, die er von oben herab zu behandeln pflegte, eine ihm gleichgültige Fremde, namens Ix, eine Frau, die ihn haßte. Er, der Bräutigam der hehren Imago. Jetzt konnte er an sich selber keine Freude mehr haben; am liebsten hätte er überhaupt nicht mehr leben mögen. Trübsinnig drehte er den Kopf gegen die Wand und versuchte, Gefühl und Bewußtsein zu verlernen. Und so oft ein Gedanke ihn berührte, drückte ihn die Schmach von neuem nieder, als ob eine mit Bausteinen geladene Wolke auf ihm lastete. Schließlich mußte er halt doch leben; und da ihm seines Körpers Ungeduld Gesundheit meldete, blieb ihm nichts übrig, als ihn aus dem Bett zu heben und auf die Beine zu stellen. Meinetwegen; es tut denselben Dienst, sich aufrecht zu schämen als liegend.

Da saß er nun den langen Tag, mut- und willenlos, mit stumpfem Geist seiner Erniedrigung nachstarrend. Plötzlich, gegen Abend, überfiel ihn eine garstige Erinnerung: Freitag ist heute; und er, der dem Statthalter versprochen hatte, Freitagabend zum Nachtessen zu kommen! Jetzt, in diesem Zustande, dorthin! zu ihr! Verhaßter Gedanke. Allein sein Versprechen stupfte ihn unablässig mit der Schnauze wie der Metzgerhund das Kalb; es half nichts, und so zwang er sich denn zu Direktors.

War das ein trostloser, von allen guten Geistern verlassener Abend! Er war gar nicht erwartet worden, das merkte er gleich bei seinem Eintritt, er störte bloß.

Er wieder, in seiner Grabesstimmung, wäre lieber überall anders gewesen als gerade hier. Das spürten ihrerseits die andern, was ebenfalls nicht zur Erheiterung beitrug. Zu allem mußte er ihnen obendrein noch das Musikspiel verleiden; eigentlich ganz gegen seinen Willen, denn er war heute nichts weniger als angriffslustig; allein jetzt in seiner Schwermut irgend etwas Aufdringliches, was irgend jemand belieben würde, über sich ergehen zu lassen, nein, dazu fehlte ihm die Kraft.

Wie er dann freilich Pseuda trostlos vor sich hin starren sah, ihrem zerstörten Musikabend nachsinnend, so trostlos, daß sie sogar vergaß, ihm deswegen zu zürnen, tat ihm der Anblick weh; tief schnitt ihn das Mitleid. «Weißt du, arme Pseuda», gelobte er sich im stillen, «ich spare dirs auf; aber heute, nicht wahr, das begreifst du, mußt du mirs verzeihen; denn ich bin wirklich zu traurig.»

Vorzeitig trennte man sich, enttäuscht und übel zufrieden.

Viktor hatte seinen Regenschirm vergessen und kehrte zurück, um ihn zu holen. «Warten Sie», mahnte das Dienstmädchen, nachdem es den Schirm behändigt hatte, «das Gas ist bereits ausgedreht; ich komme gleich mit dem Licht.» «Unnötig», wehrte er ab und war auch schon im Hausflur angelangt. Da warnte ihn von oben Pseudas Stimme: «Geben Sie acht; vor der Haustür kommen noch drei Stufen.»

Die Warnung traf ihn, als blitzte am Himmel ein Fenster auf und ein Sonnenstrahl flöge in sein Herz, mit tausend lachenden Engeln besetzt, die gleichzeitig links und rechts absprangen. Wie! ihn, den sie haßte, und zwar mit vollem Rechte, ihn, der sie unaufhörlich belästigte, reizte, verfolgte, ihn, der ihr soeben noch ihren armen gastlichen Abend schnöde verdorben hatte, ihn warnte sie, damit ihm kein Leid zustoße! O Adel der Großmut, o unermeßliche Herzensgüte! Und du blinder, blöder Tropf, du hast es vermocht, dieses hohe Weib gering zu achten. Wenn denn hier einer verächtlich ist, wer ist es, du oder sie? Du bist es, Elender, denn du bist boshaft, sie aber ist gut. «Geben Sie acht», hast du gehört? Das hat sie dir gesagt, dir, mit ihrer Stimme. Wie Harfenpsalm und Glockenchor läutete der Spruch in seinem Herzen; trunken vor Bewunderung stürzte er von dannen, fieberisch, in taumelndem Lauf.

Daheim, vor der Haustür, kehrte er sich um, nach der Richtung ihrer Wohnung und breitete die Arme aus: «Imago», rief er ihren Namen. «Nein, mehr als Imago, denn deine Hoheit ist mit dem Pathos der Leiblichkeit geadelt. Theuda und Imago vereint in einer einzigen Person.» Dann, in sein Zimmer stürmend, versammelte er alle Völker seiner Seele. «Kinder! eine köstliche Nachricht. Ihr dürft sie lieben; lieben ohne Bedingung noch Vorbehalt, ohne Maß und ohne Schranken, je stärker, je inniger, desto besser. Denn sie ist edel, und sie ist gut.»

Ein tosender Freudenjubel jauchzte der Erlaubnis Dank; die ganze Arche Noah umtanzte ihn. Und immer neue Scharen, von deren Dasein er gar nichts gewußt hatte, jauchzten aus dem Hintergrunde herbei; Fackeln schwangen sie in den Händen, und Kränze trugen sie auf dem Scheitel. Lächelnd schaute er dem Feste zu, selber selig ob seiner Erlaubnis; gleich einem König, der nach jahrelangem, heftigem Wider streben endlich eine Verfassung gewährt hat und den des Volkes ungeahnter Dank überwältigt. Da wallte durch die Menge würdigen Schrittes eine Gesandtschaft, angeführt von dem stolzen Ritter im weißen Friedensgewande, den Löwen an der Leine. «Gestatten Eure Majestät, Sie im Namen des gesamten Ritterstandes zu der gnädigen Gewährung zu beglückwünschen; wir haben diese Lösung von jeher für notwendig und billig erachtet.»

«Ja, warum hast du mir denn das nicht vorher gesagt?»

«Wie sollte ich mich erdreisten, Euer Majestät strengem Befehl zu widersprechen?»

Also die stolze Ritterschaft hatte gegen seine Liebe auch nichts einzuwenden? Nun stand er gänzlich sicher und fest, und sein Mut genas frei und froh. O Heil der Erlösung: lieben zu dürfen, wen man lieben muß.