BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Carl Spitteler

1845 - 1924

 

Imago

 

9. Kapitel

 

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Ein jähes Ende

 

Am Morgen des Lichtmeßtages, wo die Menschen die ersten Knospen zu grüßen pflegen, die noch nicht da sind, begab er sich wie gewöhnlich zu ihr. «Mein Mann ist im Studierzimmer; wollen Sie, bis ich mit dem Aufräumen fertig hin, einstweilen ihm Gesellschaft leisten?»

Er stutzte. Was für eine neue Sprache! Schickt mich zu ihrem Mann! Hat sie etwa gebeichtet? Eine Auseinandersetzung? Meinetwegen; laß hören; ich bin immer so eingerichtet, daß ich jederzeit jedem Menschen ins Auge sehen darf.

Der Eintritt in das rauchdurchqualmte Stübchen beruhigte sein Blut; so raucht kein Richter. «Aha, willkommen, Sie sinds», scholl es ihm treuherzig entgegen. «Sehen Sie, da schickt mir der Buchhändler soeben wieder so einen Weiberfresser von Philosophen. Sie machen ja doch wahrscheinlich auch nicht mit? Oder was ist denn nun eigentlich Ihre Meinung von den Frauen?»

Eine schwierige Frage! und ein verfängliches Thema! Immerhin, besser an dem Fittich der Theorie gefaßt zu werden als persönlich, denn der ist ziemlich unempfindlich. Die Gerichtsverhandlung über die Frauen nahm denn auch einen friedfertigen, würdigen Verlauf, mit ordentlichen Gedankenschritten, gemessenen Urteilen und willigen Zugeständnissen von beiden Seiten. Wie jedoch Viktor im Eifer seines Frauenlobes den Satz fallen ließ: «Ohne die Frau möchte ich überhaupt nicht leben», bemerkte der Statthalter trocken: «Aber jeder mit seiner eigenen Frau, nicht wahr?»

Was war das? Ein Merks?

Einige Redereihen später, als die Grenzen des weiblichen Horizontes abgesteckt wurden und Viktor eben darauf hinwies, welch ein beschämendes Urteil in der Tatsache verborgen liege, daß alle Welt, auch die weibliche, es für selbstverständlich erachte, die Rolle einer jungen Frau in einem Theaterstück könne einzig eine Liebesrolle sein, öffnete Frau Direktor behutsam die Tür. «Verzeihen Sie, meine Herren, wenn ich Sie in Ihrer gelehrten Unterhaltung störe», hauchte sie zaghaft; «erschrecken Sie übrigens nicht, ich verschwinde im Augenblick.» Mit diesen Worten trippelte sie zum Bücherschrank, kauerte in anmutiger Haltung zu Boden, kramte, ab und zu die ungefügen Locken zurückwerfend, unter den Folianten, und schnellte dann plötzlich, ein Büchlein in der Hand, mit federndem Schwung wieder empor. «So; jetzt sind Sie erlöst», tröstete sie, während sie in ängstlichen Sprüngen auf spitzen Zehen zur Tür hinausflüchtete.

«Jedenfalls ihre einzige Rolle», schmunzelte der Statthalter, «spielen sie gut; im Leben wie auf der Bühne.»

Gleich darauf ertönte ein weicher Klavieranschlag, und ihre Stimme verklärte das Haus. Davor überquoll dem Viktor das Herz. «O mein Gott», stöhnte er, «ist das schön! ist das rein! ist das edel!» Und unversehens stürzten ihm die Tränen über die Wangen, so daß er hastig aufsprang und sich am Bücherschrank zu schaffen machte.

«Das kann ich nun gerade nicht finden», versetzte der Statthalter, «daß das rein und schön sei, wie sie das singt; man sollte sich eben überhaupt nie an ein Stück wagen, das man nicht kann und das einem zu hoch liegt.» Darauf wollte er das Gespräch zurücklenken. Allein Viktor war von dem unsichtbaren Gesange dermaßen gebannt, daß er nichts andres sonst wahrnahm. «Wenn sie doch nur endlich aufhörte! sie singt einem ja das Herz aus dem Leibe.»

Endlich hörte sie auf, und es gelang ihm, sich in geziemender Fassung zu verabschieden.

«Kommen Sie morgen abend zum Tee», begehrte ihre dringliche Bitte, während sie ihre Hand in der seinigen ruhen ließ, «ganz unter uns; niemand als Sie und mein Mann; meine Wenigkeit ungerechnet, die Sie schon mit in Kauf nehmen müssen.» Und bedeutungsvoll flüsternd fügte sie hinzu: «Es gibt nämlich Schlagsahne.» Das war mit einem Ton gesagt, als ob die Schlagsahne den Hauptanziehungsgrund vorstellen sollte. «Also morgen abend!» wiederholte sie, mit dem Finger drohend, «ich zähle darauf.»

Jetzt was? hat er etwas gemerkt, der Statthalter, oder hat er nichts gemerkt? Aus diesem behäbigen Pascha wurde er nicht klug. Übrigens nur um so besser, wenn er etwas gemerkt hat (zuviel ist nicht nötig), so war er die leidige Geheimtuerei los und zugleich einer geschmacklosen Beichte enthoben. Nun kommts recht; genau so hatte er sichs von jeher ausgedacht gehabt: eine einmütige Ehe zu dreien, wo er seinem getreuen Statthalter Imagos Leib und jener ihm zum Dank dafür Imagos Herz und Seele überließ; so tat keiner dem andern Abbruch. Die Vormittage ihm, dem Statthalter die übrige Zeit; der durfte sich wahrlich nicht beklagen, er wäre bei der Teilung zu kurz gekommen. Also morgen abend soll der Dreibund geschlossen werden. «Bei einem Teller voll Schlagsahne», spöttelte ein Gedanke. «Nun, warum nicht ebensogut Schlagsahne wie Wein? Oder hat man etwa zu einem ehrlichen Vertrage Gift nötig?» Und mit innigem Glück verglich er diese Schlagsahne mit jener andern, über welcher er ihr einst zuerst wiederbegegnet war, damals, vor Monaten, bei Frau Regierungsrat Keller. Eine hübsche Strecke Weg zurückgelegt, Viktor, findest du nicht? Von der verächtlichen Gleichgültigkeit am Anfang bis zur heutigen Herzinnigkeit! Und noch stehen wir ja erst am Anfang. O Wonne des Ausblicks!

Darob trendelte er vergnügt durch die Straßen der Stadt, leise vor sich hin singend und mit den Händen ein himmlisches Orchester leitend.

Da begegnete ihm Frau Steinbach. «Kommen Sie heute nachmittag zu mir», verlangte sie kurz, im Vorbeigehen, mit fremder Stimme, «ich habe mit Ihnen zu reden.»

Verstimmt, wie von einem kalten Regenschauer überrascht, trieb er weiter; nunmehr ohne Musikbegleitung. «Ich habe mit Ihnen zu reden.» Ob er schon nicht von ferne erriet, was in aller Welt die Rede aufrühren werde, ahnte ihm doch Verdrießliches; denn es ist selten etwas Erfreuliches, wenn jemand mit einem ‹zu reden hat›. Meinetwegen; ich schüttle es ab wie die Ente das Wasser. Einzig Theuda-Imago bestimmt mein Heil oder Unheil; bei ihr steht ja gegenwärtig alles aufs herrlichste.

 

«Mein Herr, Sie machen sich lächerlich», empfing ihn Frau Steinbach streng und kalt, ohne ihn anzublicken.

Unwille verfinsterte sein Gesicht. «Womit?»

«Bitte, verstellen Sie sich nicht; Sie wissen ganz gut, was ich meine.»

«Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen widerspreche. Ich verstelle mich nie und habe keine Ahnung, was Sie meinen.»

«Nun, dann werde ichs Ihnen sagen: mit Ihrem ebenso törichten wie unverantwortlichen Benehmen bei Direktors.»

«Darf ich um Belehrung bitten, was Sie dazu berechtigt, mein Benehmen töricht und unverantwortlich zu nennen?»

«Nun, wenn das etwa nicht töricht ist, eine verheiratete Frau mit Liebesergüssen zu belästigen, die Ihrer Liebe nicht bedarf, der Sie vollkommen gleichgültig sind und wo Sie sich höchstens die Brosamen des Mitleids erbetteln können? Wenn das nicht töricht sein soll! Unverantwortlich aber, oder, falls Ihnen der Ausdruck zu stark klingt, unrecht muß ich es nennen, daß Sie versuchen, sich zwischen rechtschaffene, pflichtgetreue Eheleute hineinzudrängen; glücklicherweise umsonst.»

Jetzt errötete er mit heftigem Blutschwall; zugleich vor Scham und Empörung. Wie das brennt, wenn ein Dritter weiß, was unter vier Augen geschah! Grimmig entgegnete er: «Darüber, was ich verantworten kann oder nicht verantworten, darüber werde ich Herrn Direktor Wyß Rede stehen, wenn er es wünscht, aber nur ihm, niemand sonst. Hier hingegen, wo ich töricht und lächerlich gescholten werde, gestatte ich mir die Bemerkung, daß ich in meinem Gedächtnis Gründe finde, die mich zu der Überzeugung berechtigen, Frau Direktor Wyß gewähre mir denn doch ein wenig mehr als die Brosamen ihres Mitleides und ich sei ihr auch nicht gar so vollkommen gleichgültig, wie Sie in so schmeichelhafter Weise anzunehmen belieben.»

Da wandte sie ihm ihr Gesicht zu und trat einen Schritt näher: «Ach, Sie armer, junger, naiver Herr! Ja, naiv, trotz Ihrem überlegenen Geist und Ihrer Welt- und Menschenkenntnis. Meinen Sie denn wirklich, Sie Ärmster, weil eine Frau Ihre Liebesgeständnisse duldet und nicht ungerne anhört, das beweise das mindeste für ihre Herzensneigung? Natürlich hört sies gerne; selbstverständlich! Ist das doch ein Triümphlein für sie. Und ein klein, klein wenig Blümleinspielen innerhalb der Grenzen des Erlaubten wird sie sich wohl auch nicht haben entgehen lassen; vielleicht ist sie darin ein bißchen zu weit gegangen, das kann ich nicht wissen. Übrigens, was heißt hier zu weit gehen? was für ein Sittengebot verwehrt ihr denn, mit jemand, der sie in unschicklicher Weise belästigt, umzuspringen, wie sie mag? Sie sind ihr ja doch nicht verwandt; sie hat nicht die mindeste Verpflichtung, Sie zu schonen. Wer eine Frau in eine schiefe Lage bringt, muß sichs eben auch gefallen lassen, wenn es ein bißchen krumm zugeht; das ist sein Fehler, nicht der ihrige. Doch gesetzt selbst den Fall, Sie hätten einigen Eindruck auf ihr Herz gemacht, und das scheint mir, aus Ihren Worten zu schließen, in der Tat der Fall zu sein – es wäre auch nichts Verwunderliches, Sie sind ja doch nicht der erste beste –, was haben Sie damit gewonnen? Ein oberflächliches, flüchtiges Gefühlchen, das beim ersten Ruf des Schicksals zerstiebt. Lassen Sie morgen ihr Kind oder auch nur ihren Mann krank werden, was sind Sie dann? wer sind Sie ihr? Eine Null, nein, weniger als eine Null, ein Abscheu, dessen bloßen Anblick sie nicht einmal erträgt. Frau Direktor Wyß, wie ich Ihnen schon früher sagte, ist eine einfache, brave, gerade Frau, die keinen andern Gedanken hat als ihr Kind und ihren Mann; alles, was Sie bei ihr erreichen können, ist, daß Sie sich bloßstellen und sich unglücklich machen, möglicherweise auch, wenn das sträfliche Spiel fortdauert, daß Sie sie ins Gerede bringen; sie hat ja auch Freundinnen. Jetzt handeln Sie, wie Sie wollen und wie Sies mit Ihrem Gewissen vereinigen können; ich maße mir nicht an, Ihnen Ihre Pflicht vorzuschreiben. Wie indessen ein geistig hervorragender, selbstbewußter und zum Selbstbewußtsein berechtigter Mensch wie Sie es aushält, von der gnädigen Nachsicht ihres Mannes zu zehren, ist mir unbegreiflich; gefallen Sie sich in dieser Rolle?»

«Ja, weiß ers denn?» stammelte er.

«Ob ers weiß? Diese Frage! Natürlich weiß ers; selbstverständlich weiß ers; selbstverständlich hat sie ihm getreulich jedes Wort, jede Träne, jeden Kniefall hinterbracht. Das war nicht bloß ihr Recht, sondern sogar ihre Pflicht; unterließ sie es, so hätte sies mit ihrem Gewissen zu tun bekommen.»

Da biß er sich auf die Lippen und senkte die Stirn. Plötzlich gewahrte er einen Gedanken, der schon lange unbeachtet vor ihm gestanden hatte. «Und Sie, Sie selber, gnädige Frau, woher, wenn mir die Frage erlaubt ist, woher wissen Sie das alles so genau?»

«Nun, natürlich von ihr. Sie weiß ja doch, daß ich Ihre nächste Freundin bin; mithin war sie sicher, mir mit der Erzählung Ihrer Demütigung weh zu tun; diesen Genuß wird sie sich doch nicht versagen; das ist einmal unter uns Frauen so Brauch. Und sie hat richtig gezielt! Anhören zu müssen, wie Sie Ihre Würde, Ihren Stolz vergessen, wie ein ernster, bedeutender Mann, an welchen man glauben möchte, Taktlosigkeiten begeht, sich wie ein schmachtender Jüngling zu Kniefällen erniedrigt, das schmeckt bitter. Mehr als einmal war ich auf dem Punkt, Sie zu mahnen; allein ich habe keine Lust, in andrer Leute Wohnung einzubrechen wie eine Salutistin; wer mich geflissentlich meidet, wer mir die Ehre seiner Besuche nicht gönnt, dem will ich mich nicht aufdrängen; auch hatte ich immer noch eine kleine Hoffnung, Sie würden sich schließlich von selber auf Ihren Wert besinnen. Bis ich Ihnen dann heute zufällig begegnete.»

«Also, kurz gesagt, Frau Direktor Wyß in Person hat Ihnen alles und jedes, was zwischen uns unter vier Augen geschah und gesprochen wurde, haarklein mitgeteilt?»

«Kurz gesagt: ja.»

«Und alles auf einmal? oder zu wiederholten Malen? Jeweilen die neueste Zeitung? – Sie schweigen? Dann brauche ich keine weitere Antwort.»

Ihm war, er ersaufe in Schande wie eine Maus im Nachttopf. Die Geschichte seiner selbstlosen, andächtigen Liebe von der Geliebten kolportiert wie ein Feuilletonroman im Stadtblatt; Tag für Tag eine Nummer, ‹Fortsetzung folgt›! Die Tränen, die ihm das unerträglichste Herzeleid erpreßte, ein heiliges Herzeleid, das weit über der Welt in der Heimat aller Seelen wurzelte, dem nüchternen Urteil Unbeteiligter vorgewiesen, zur verstandesmäßigen Prüfung.

Frau Steinbach aber, da sie ihn so kleingeschlagen sah, gedachte seine Zerknirschung zu benützen, um einen rettenden Willensschluß aus ihm hervorzustrafen. «Also was wollen Sie? was hoffen Sie? worauf warten Sie?»

«Ich warte darauf», antwortete er feindlich, «ob Sie mich nun endlich genügsam erniedrigt zu haben glauben oder ob Sie belieben, mich noch länger zu mißhandeln.»

Betroffen schaute sie ihn an. Er war gänzlich verändert; wie ein fremder, finsterer Dämon starrte er ihr entgegen.

«O sehen Sie mich nicht so an», rief sie schmerzlich. «Seien Sie doch nicht ungerecht! ich meine es ja gut mit Ihnen; es geschieht, das wissen Sie doch, aus lauter Freundschaft.»

Allein seine Augen rollten, sein Mund verzerrte sich. Plötzlich war er aufgesprungen, erhob den Arm und rief mit lauter, bebender Stimme, als spräche er in die Ferne:

«Wenn ich diese gräßliche Stunde erlebe, wenn ich schimpflich hier stehe wie ein abgestrafter Schulbub, mit Lächerlichkeit übergossen wie ein geprellter Liebhaber am Schluß einer Posse, ein Spielball herzloser Menschen, so erleide ich das, weil ich meinen Fuß auf den Weg zur Größe setzte. Ich hätte es anders haben können: Ruhm und Ehre, Ansehn und Reichtum, Glück und Liebe lagen zu meinen Füßen; ich sah es glänzen, ich brauchte es bloß aufzuheben. Hätte ichs getan, hätte ich als ein Wicht gehandelt, die Niederung vorziehend, ich schwelgte heute in Wonne und Seligkeit, geliebt und umworben; niemand spottete mein, niemand wagte mich zu schmähen, mich zu maßregeln; mit scheuer Ehrerbietung würdet ihr mir heute nahen, die Männer würden sich meine Freundschaft zur Auszeichnung anrechnen, und das unedle Gezücht der Weiber würde mich umbuhlen. Herzlose Menschen! stumpf und fühllos wie das Tier! Siehe da, meine arme Seele überflutet von reiner, heiliger Liebe wie ein brandend Meer, ich begehre zum Entgelt um das Opfer meiner Jugend, meines Lebensglückes nichts als ein winziges, geiziges Tröpflein Liebe für mein durstiges Herz – was sage ich ‹Liebe›, o nicht einmal Liebe; nichts als die Erlaubnis, ungestraft lieben und leiden zu dürfen. Und was gebt ihr mir dafür? Spott und Gelächter. Wohlan denn, demütigt mich, nehmt Kübel und Kannen, stürzt eimerweise über meinen Scheitel allen Unrat der Schande, ich werde auch das zu ertragen wissen. Das aber sage ich euch, es wird eine Zeit kommen, wo vor meine Persönlichkeit andersartige Menschen mit ihrem Urteil herantreten werden, Menschen, die ein Herz und Gemüt haben; die werden mir die beschmutzten Wangen mit Ruhm abwaschen, und wenn sie meine Wunden gewahren, werden sie sprechen: ‹Der war kein Narr, sondern er war ein Dulder.› Und meine arme, mißhandelte Liebe, die mir heute zum Verbrechen ausgelegt wird, um deretwillen ich von einer herzlosen Frau genarrt und von einer zweiten herzlosen Frau verunglimpft werde, ich sage euch, manch eine wird dereinst, wenn ich tot bin, in ihrem Herzen sehnlichst wünschen, so geliebt zu werden, wie ich liebte, und jene beneiden, der ein solcher mit solcher Liebe huldigte.»

Kaum hatte er diese Rede gerufen, so erwachte er wieder und war wie zuvor. «Verzeihen Sie mir», bat er trübe, «nicht ich habe das gesagt, sondern das Übermaß des Schmerzes hat es geschrien.» Hiermit schritt er zum Klavier und langte nach seinem Hut.

«Aber es verspottet Sie ja kein Mensch!» klagte sie. «Niemand nennt Ihren Namen anders als mit Wohlwollen und Hochachtung. Und was im besondern Frau Direktor Wyß betrifft, so ist sie Ihnen in warmer Sympathie aufrichtig zugetan und tief betrübt darüber, die unschuldige Ursache zu sein, daß Sie sich ihretwegen so viel unnützes, zweckloses Leid schaffen. – Und mir, mir Herzlosigkeit vorzuwerfen, wie können Sie, lieber Freund, mir das antun! Sagen Sie nicht ‹herzlos›, sagen Sie das mir nicht, sagen Sie das nicht mir!» Es tönte leise und klang doch wie ein Schrei.

Doch seine Sinne waren verschlossen, seine Augen blickten abwesend. Sie umgehend, tat er einige Schritte nach der Tür; dann, sich erinnernd, kehrte er um und verneigte sich. «Gnädige Frau», hub er an, «es bleibt mir noch übrig, Ihnen meinen Dank auszusprechen. Ich finde die Worte nicht; ich kann nur sagen: edle, treue Freundin, Dank, innigen Dank für alles. Und bewahren Sie einem reichlich Bestraften, der wohl manches versehen mochte, aber keinem Menschen etwas Böses wollte, ein nachsichtiges Andenken.»

«Sie reisen?» fragte sie tonlos.

Er nickte. «Morgen früh, so früh als möglich, so früh, als ein Zug abgeht.»

«O Gott!» schrie sie auf. «Und wohin?»

Er zuckte die Achseln. «Weiß ichs? Einerlei.»

«Ach mein lieber, lieber Freund», jammerte ihre Stimme. Und in dem Augenblick, da er ihre Hand erhob, um sie zu küssen, küßte sie die seinige.

Dann riß sie das Fenster auf und spähte in die Nacht. Wie sie den Schatten seiner Gestalt am Gartentürchen wahrnahm, rief sie ihm mit lauter Stimme nach: «Ich glaube an Sie und an Ihre Größe und Ihr Glück.»

 

Am nächsten Morgen früh, in nebelnasser Dämmerfinsternis, wanderte er, wie beschlossen, reisegerüstet zum Bahnhof, noch nicht völlig aufgewacht, einem Traum nachstaunend, dessen selige Farben bis in die öde Wirklichkeit hereinblühten.

Und, o Schmach! von ihr hatte ihm wieder geträumt, trotz allem. Erst auf dem Bahnhofplatze schaute sein verschlummerter Geist träge um sich. An diesem selben Tage, dessen Beginn ihn jetzt umdämmerte, wird sie ihn heute abend erwarten! «Heute abend», wie das alt ist! Vergangen, ehe nur geschehen. Übrigens nicht das mindeste Gefühl bei dem Gedanken an sie zu spüren, überhaupt keinerlei Abschiedsstimmung, weder Rührung noch Groll, höchstens ein fader Geschmack von Ekel im Gaumen; gleichgültig, wie ein Fremder, verließ er die herbe Heimat.

Ein Schalter war erleuchtet, mit einem Beamtengesicht zwischen dem geöffneten Rahmen. Da können wir also gleich fort. Nachdem er über dem Schalter die Richtung abgelesen hatte, heischte er den Namen irgendeiner fernen Stadt im Auslande.

«Zweiter Klasse?» tönte die Frage.

«Dritter», antwortete er, einem unklaren Bedürfnis folgend; sei es, um sich vor dem Zusammentreffen mit Bekannten zu schützen (die Unwahrscheinlichkeit des Zusammentreffens in dieser Morgenstunde genügte ihm nicht, er wollte gänzlich sicher sein), sei es zum Sinnbild seiner Erniedrigung; es paßte besser zu seiner schimpflichen Flucht: dritte Klasse.

Bei seinem Eintritt in den Wagen bemerkte er gleich auf der ersten Bank, hart neben der Tür, ein freundliches Männlein von bescheidenem Aussehen. «Ein bescheidener Mensch, ein guter Mensch», sagte er sich, «der sei mein Nachbar.» Wie er jedoch sein bißchen Gepäck unterbringen wollte, wehrte das Männlein eifrig ab: «Halt, halt, Herr! dort oben liegen meine Beine.» Nicht gelaunt, heute müßige Späßlein zu enträtseln, stellte Viktor verträglich anderswo ein und nahm dann gleichgültig Platz, sich seitwärts schiebend, um sein Gegenüber nicht an die Knie zu streifen. Das Männlein aber blinzelte schlau: «Herr! wegen meiner Knie brauchen Sie nicht so viel Umstände zu machen; die spürens nicht, wenn man sie stößt.» Hiermit schlug er eine Decke auseinander, und siehe da, er hatte gar keine Beine! «Die haben sie mir im Spital abgeschnitten», erklärte er schmunzelnd, beinahe stolz. Darauf begann er redselig seine Leidensgeschichte zu erzählen. «Was ich ausgestanden habe, das glaubt kein Mensch», lautete der Kehrreim. Da ging Viktor in sich: «Dem hats doch noch mehr weh getan!» «Bürgisser ist mein Name», schloß die Erzählung, «Leonhard Bürgisser von Ötlingen; oder Lienert, wie man bei uns sagt; sonst ein Schreiner.» Nach dieser Auskunft schwieg er befriedigt.

Die Maschine stampfte in regelmäßigen Stößen, so daß Viktor, der die Nacht nicht viel geschlafen hatte, unvermerkt einnickte. Da tupfte ihn sein Nachbar auf die Knie, daß er aufschreckte. «Sehen Sie doch», zischelte der Beinlose, «sehen Sie doch den mordsmäßigen Blumenstrauß mitten im Winter, den das feine, vornehme Fräulein dort spazierenführt, vorn bei der zweiten Klasse! Den hat die auch gern, für den sie alle die köstlichen Blumen gekauft hat; sehen Sie, beständig hat sie mit dem Nastuch an den Augen zu schaffen. – Aber wenn er jetzt nicht bald kommt, so kommt er zu spät; der Zug sollte sogar eigentlich schon abgefahren sein. – Bst! still! jetzt kehrt sie um, gegen uns zu: passen Sie auf. – Und Maienblümlein sind auch darunter; man riechts sogar von hier. – O jerum, du armes Frauelein! sehen Sie, jetzt bei der dritten Klasse, wo sie weiß, daß kein Mensch sie kennt, fängt sie an zu schluchzen.»

Viktor, nachdem er zuerst das Geschwätz ungeduldig mißachtet, schaute schließlich doch hinaus, mechanisch, wider seinen Willen. Eine schlanke und, soviel er in der düsteren Halle zu unterscheiden vermochte, ausnehmend wohlgestalte Dame schritt draußen mit einem Blumenstrauß vorbei, das Gesicht im Taschentuch verborgen, die Schultern vom Weinen geschüttelt. Darob schnitt ihn eine schmerzliche Vergleichung: «Mir, – o weh! keine Gefahr! – mir bringt niemand einen Blumenstrauß. O nein! eher eine Handvoll Disteln, wenn sie von meiner Abreise wüßten.» Hiermit wandte er den Kopf ab und rückte in bittern Gedanken vom Fenster weg.

«Einsteigen!» mahnten plötzlich die Rufe der Schaffner. «Endlich!» scholl aus den Fenstern die höhnische Antwort. Wagentüren wurden zugeschmettert, dann wartete ein Weilchen Stille. «Fertig!» Ein schriller Pfiff. – Da wurde hinter ihm die Wagentür aufgerissen; zwischen kalten Luftstrichen hauchte Blumenduft herein, – doch nur einen Augenblick, dann schlug die Tür wieder zu. «O nein, Frauelein», lachte der Schreiner der Verschwundenen nach, «der, den du suchst, sitzt nicht in der dritten Klasse. Aber wenn du nicht schnell abspringst, nimmt dich der Zug mit. – Hören Sie die Schaffner, wie sie aufbegehren? Sie sind aber auch in ihrem vollen Recht; denn wenn es einmal ‹Fertig!› geheißen hat, so hat niemand mehr die Abfahrt aufzuhalten, einerlei ob vornehm oder nicht.»

Ein nochmaliger gebieterischer Pfiff des Zugführers; dann rollten die Räder schwerfällig vom Fleck. Erleichtert seufzte Viktor auf. «Auf Nimmerwiedersehn!» gelobte er sich, während sein Blick an den Pfeilern der Bahnhofhalle gierig die erlösende Fortbewegung ablas. – «Doch halt! wart! Ist denn das nicht Frau Steinbach, die dort über die Schienen nach der Station zurückeilt, einen Blumenstrauß in der Hand? Ihr Schritt wäre es wenigstens. Wenn sie mir nur einmal das Gesicht zeigte! –»

«Alle Fahrkarten vorweisen, alle! – Fahrkarten gefälligst», forderte der Schaffner, die Hand gegen Viktor vorstreckend. Nach Erledigung des leidigen Geschäftes war der Bahnhof entschwunden; und allerlei Straßen rannten von links und rechts dem Zug entgegen. «Nun, Viktor, schenkst du uns denn kein Grüßlein zum Abschied?» riefen die Häuser im Vorbeilaufen.

«Nein», versetzte er trotzig. «Bitte, tut mir den Gefallen: nur keine gleisnerische Schlußakt-Rührszene! Meint ihr, ich sähe nicht auf euren Dächern die Hohnaffen hüpfen und die Spottdrosseln von euren Bäumen grinsen?» Mählich erhellte sich das Düster; Landhäuser, Gärten, Baumreihen entwichen, die einen nach hinten, die andern seitwärts; endlich sprang aus dem freien Feld der lichte Tag in den Wagen.

Jetzt erst erwachte völlig sein Geist. Mit ihm die Erinnerung; mit der Erinnerung der Groll: «Frohlockt! ihr habt gesiegt; ich fliehe, ein Überwundener, Schmachbedeckter. Doch überwunden von wem? Von der Gewöhnlichkeit, von der Sippschaft, von der hölzernen Stumpfherzigkeit.» Zu finsterm Gewölk sammelte sich sein Groll; das Gewölk ballte sich zum Grimm, und der Grimm kochte den Fluch.

 

Da traf ihn eine Stimme, daß er zusammenschrak: die Stimme der Strengen Herrin.

«Was trägst du, in der Tasche versteckt, Heimliches mit dir fort?» fragte die Stimme.

«Eine Schrift, von welcher niemand weiß, als ich und du allein.»

«Und von wem zeugt diese Schrift?»

«Sie zeugt von dir, gestrenge Herrin.»

«Und wann hast du dieses mein Zeugnis geschrieben?»

«Ich habe den ersten Zug geschrieben jenen Abend, als ich diese unselige Stadt betrat; und den letzten Zug habe ich verwichene Nacht geschrieben.»

«Und was habe ich zu dir gesprochen, verwichene Nacht, nachdem du den letzten Zug geschrieben?»

«Du hast zu mir gesprochen: ‹Ich nehme dein Zeugnis an, und weil du unbeirrt und unbefleckt trotz Pein und Leidenschaft und Torheit getreulich Zeugnis von mir abgelegt hast, will auch ich von dir Zeugnis ablegen: siehe, ich will dich auf den Gipfel des Lebens erhöhen und den widerspenstigen Ruhm der Menschen an den Hörnern zu deinen Füßen zwingen›, so hast du zu mir gesprochen.»

«Ja, so habe ich zu dir gesprochen. Und nun willst du Undankbarer die heilige Spanne Zeit, darinnen du solches errungen hast, mit deinem Fluch verunehren? Merk auf, was ich dir befehle: Stimme die Saiten deiner Seele und singe und frohlocke und segne diese Stadt mit allem, was darinnen ist; und jede Stunde, jedes Vorkommnis, jedes Leid, das dir widerfuhr; von den Menschen angefangen, die dir weh getan, bis zu dem Hunde, der nach dir gebellt hat.»

Traurig gehorchte er; stimmte mit Mühe und Gewalt die Harfe seiner Seele und sang und frohlockte aus seinen Wunden, und sein Gram segnete seufzend alles, was hinter ihm lag, von den Menschen, die ihm unrecht taten, bis zu dem Hunde, der nach ihm bellte.

«Wohl», sprach die Stimme. «Empfange den Lohn deines Gehorsams; schau auf, schau um.»

Und siehe da: draußen vor dem Fenster neben dem Wagen, im Gleichschritt mit dem enteilenden Zuge, sprengte auf weißem Renner Imago; nicht die unechte menschliche Imago, namens Theuda, die Frau des Statthalters, sondern die Wahre, die Stolze, die Seine. Und von ihrer Krankheit war sie jung genesen, und ein fröhlich Siegeskränzlein hatte sie im Haar. «Ich habe auf dich gewartet», lachte sie zum Fenster herein.

Staunend rief er: «Imago, meine Braut, wie mochte das Wunder geschehen, daß du von deiner Trauer genasest? Und zu welches Sieges Feier trägst du das Krönlein im Haar?»

Sie gab ihm die fröhliche Antwort: «Ich sah deine standhafte Treue durch Trübsal und Schmerzen: darob bin ich genesen. Ich sah dich aus den Strudeln der Leidenschaft ohn einen Makel emportauchen: darob setzte ich mir vor Freuden ein Krönlein ins Haar.»

«Und kannst du mir auch vergeben, Imago, meine hehre Braut, daß ich närrischer, verblendeter Mensch ein sterblich Trugbild mit deiner Hoheit verwechselte?»

Sie lachte: «Deine Tränen haben deine Narrheiten gewaschen.» Nach diesen Worten sprengte sie mit übermütigem Jauchzen voraus, den Zug überholend.

 

«Urteile jetzt», begehrte die unsichtbare Stimme, «nennst du mich noch eine Strenge Herrin?»

Ergriffen betete seine Seele den Dank: «Heilige Herrin meines Lebens, dein Name lautet ‹Trost und Erbarmen›. Wehe mir, wenn ich dich nicht hätte; wohl mir, daß ich dich habe.»