B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A
           
  Johanna Spyri
1827 - 1901
     
   



H e i d i ' s   L e h r -
u n d   W a n d e r j a h r e .



C a p i t e l   I I I .
A u f   d e r   W e i d e .


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[31]

Heidi erwachte am frühen Morgen an einem lauten Pfiff, und als es die Augen aufschlug, kam ein goldner Schein durch das runde Loch hereingeflossen auf sein Lager und auf das Heu daneben, daß Alles golden leuchtete ringsherum. Heidi schaute erstaunt um sich und wußte durchaus nicht, wo es war. Aber nun hörte es draußen des Großvaters tiefe Stimme, und jetzt kam ihm Alles in den Sinn, woher es gekommen war, und daß es nun auf der Alm beim Großvater sei, nicht mehr bei der alten Ursel, die fast Nichts mehr hörte und meistens fror, so daß sie immer am Küchenfeuer oder am Stubenofen gesessen hatte, wo dann auch Heidi hatte verweilen müssen oder doch ganz in der Nähe, damit die Alte sehen konnte, wo es war, weil sie es nicht hören konnte. Da war es dem Heidi manchmal zu eng drinnen, und es wäre lieber hinausgelaufen. So war es sehr froh, als es in der neuen Behausung erwachte und sich erinnerte, wie viel Neues es gestern gesehen hatte [32] und was es heute wieder Alles sehen könnte, vor Allem das Schwänli und das Bärli. Heidi sprang eilig aus seinem Bett und hatte in wenig Minuten Alles wieder angelegt, was es gestern getragen hatte, denn es war sehr wenig. Nun stieg es die Leiter hinunter und sprang vor die Hütte hinaus. Da stand schon der Gaißen=Peter mit seiner Schaar, und der Großvater brachte eben Schwänli und Bärli aus dem Stall herbei, daß sie sich der Gesellschaft anschlössen. Heidi lief ihm entgegen, um ihm und den Gaißen guten Tag zu sagen.
      «Willst mit auf die Weide?», fragte der Großvater. Das war dem Heidi eben recht, es hüpfte hoch auf vor Freude.
      «Aber erst waschen und sauber sein, sonst lacht Einen die Sonne aus, wenn sie so schön glänzt da droben und sieht, daß du schwarz bist; sieh', dort ist's für dich gerichtet.» Der Großvater zeigte auf einen großen Zuber voll Wasser, der vor der Thür in der Sonne stand. Heidi sprang hin und patschte und rieb, bis es ganz glänzend war. Unterdessen ging der Großvater in die Hütte hinein und rief dem Peter zu: «Komm' hierher, Gaißengeneral, und bring' deinen Habersack mit.» Verwundert folgte Peter dem Ruf und streckte sein Säcklein hin, in dem er sein mageres Mittagessen bei sich trug.
      «Mach' auf», befahl der Alte und steckte nun ein großes Stück Brod und ein ebenso großes Stück Käse hinein. Der [33] Peter machte vor Erstaunen seine runden Augen so weit auf als nur möglich, denn die beiden Stücke waren wohl die Hälfte so groß wie die zwei, die er als eignes Mittagsmahl drinnen hatte.
      «So, nun kommt noch das Schüsselchen hinein», fuhr der Oehi fort, «denn das Kind kann nicht trinken wie du, nur so von der Gaiß weg, es kennt das nicht. Du melkst ihm zwei Schüsselchen voll zu Mittag, denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder herunterkommst; gib Acht, daß es nicht über die Felsen hinunterfällt, hörst du?»
      Nun kam Heidi hereingelaufen. «Kann mich die Sonne jetzt nicht auslachen, Großvater?», fragte es angelegentlich. Es hatte sich mit dem groben Tuch, das der Großvater neben dem Wasserzuber aufgehängt hatte, Gesicht, Hals und Arme in seinem Schrecken vor der Sonne so erstaunlich gerieben, daß es krebsroth vor dem Großvater stand. Er lachte ein wenig.
      «Nein, nun hat sie Nichts zu lachen», bestätigte er. «Aber weißt was? Am Abend, wenn du heimkommst, da gehst du noch ganz hinein in den Zuber, wie ein Fisch; denn wenn man geht wie die Gaißen, da bekommt man schwarze Füße. Jetzt könnt ihr ausziehen.»
      Nun ging es lustig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das letzte Wölkchen weggeblasen; dunkelblau schaute der Himmel von allen Seiten hernieder, und mitten [34] drauf stand die leuchtende Sonne und schimmerte auf die grüne Alp, und alle die blauen und gelben Blümchen darauf machten ihre Kelche auf und schauten ihr fröhlich entgegen. Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude, denn da waren ganze Trüppchen feiner, rother Himmelsschlüsselchen beieinander, und dort schimmerte es ganz blau von den schönen Enzianen, und überall lachten und nickten die zartblättrigen, goldenen Cystusröschen in der Sonne. Vor Entzücken über all die flimmernden winkenden Blümchen vergaß Heidi sogar die Gaißen und auch den Peter. Es sprang ganze Strecken voran und dann auf die Seite, denn dort funkelte es roth und da gelb und lockte Heidi auf alle Seiten. Und überall brach Heidi ganze Schaaren von den Blumen und packte sie in sein Schürzchen ein, denn es wollte sie alle mit heim nehmen und in's Heu stecken in seiner Schlafkammer, daß es dort werde wie hier draußen. So hatte der Peter heut' nach allen Seiten zu gucken, und seine kugelrunden Augen, die nicht besonders schnell hin= und hergingen, hatten mehr Arbeit, als der Peter gut bewältigen konnte, denn die Gaißen hatten es wie das Heidi, sie liefen auch dahin und dorthin und er mußte überallhin pfeifen und rufen und seine Ruthe schwingen, um wieder alle die Verlaufenen zusammenzutreiben.
      «Wo bist du schon wieder, Heidi?», rief er jetzt mit ziemlich grimmiger Stimme.
      «Da», tönte es von irgendwoher zurück. Sehen konnte [35] Peter Niemand, denn Heidi saß am Boden hinter einem Hügelchen, das dicht mit duftenden Prünellen besät war; da war die ganze Luft umher so mit Wohlgeruch erfüllt, daß Heidi noch nie so Liebliches eingeathmet hatte. Es setzte sich in die Blumen hinein und zog den Duft in vollen Zügen ein.
      «Komm' nach», rief der Peter wieder. «Du mußt nicht über die Felsen hinunterfallen, der Oehi hat's verboten.»
      «Wo sind die Felsen?», fragte Heidi zurück, bewegte sich aber nicht von der Stelle, denn der süße Duft strömte mit jedem Windhauch dem Kinde lieblicher entgegen.
      «Dort oben, ganz oben, wir haben noch weit, drum komm' jetzt! Und oben am höchsten sitzt der alte Raubvogel und krächzt.»
      Das half. Augenblicklich sprang Heidi in die Höhe und rannte mit seiner Schürze voller Blumen dem Peter zu.
      «Jetzt hast genug», sagte dieser, als sie wieder zusammen weiterkletterten; «sonst bleibst du immer stecken, und wenn du alle nimmst, hat's morgen keine mehr.» Der letzte Grund leuchtete Heidi ein, und dann hatte es die Schürze schon so angefüllt, daß da wenig Platz mehr gewesen wäre, und morgen mußten auch noch da sein. So zog es nun mit dem Peter weiter und die Gaißen gingen nun auch geregelter, denn sie rochen die guten Kräuter von dem hohen Weideplatz schon von fern und strebten nun [36] ohne Aufenthalt dahin. Der Weideplatz, wo Peter gewöhnlich Halt machte mit seinen Gaißen und sein Quartier für den Tag aufschlug, lag am Fuße der hohen Felsen, die, erst noch von Gebüsch und Tannen bedeckt, zuletzt ganz kahl und schroff zum Himmel hinaufragen. An der einen Seite der Alp zogen sich Felsenklüfte weit hinunter und der Großvater hatte Recht, davor zu warnen. Als nun dieser Punkt der Höhe erreicht war, nahm Peter seinen Sack ab und legte ihn sorgfältig in eine kleine Vertiefung des Bodens hinein, denn der Wind kam manchmal in starken Stößen dahergefahren, und den kannte Peter und wollte seine kostbare Habe nicht den Berg hinunterrollen sehen; dann streckte er sich lang und breit auf den sonnigen Weideboden hin, denn er mußte sich nun von der Anstrengung des Steigens erholen.
      Heidi hatte unterdessen sein Schürzchen losgemacht und schön fest zusammengerollt mit den Blumen darin zum Proviantsack in die Vertiefung hineingelegt, und nun setzte es sich neben den ausgestreckten Peter hin und schaute um sich. Das Thal lag weit unten im vollen Morgenglanz; vor sich sah Heidi ein großes, weites Schneefeld sich erheben hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf, und links davon stand eine ungeheure Felsenmasse, und zu jeder Seite derselben ragte ein hoher Felsenthurm kahl und zackig in die Bläue hinauf und schaute von dort oben ganz ernsthaft auf das Heidi nieder. Das Kind saß mäuschenstill da und schaute ringsum, und weit umher war eine große, tiefe [37] Stille; nur ganz sanft und leise ging der Wind über die zarten, blauen Glockenblümchen und die golden strahlenden Cystusröschen, die überall herumstanden auf ihren dünnen Stengelchen und leise und fröhlich hin= und hernickten. Der Peter war entschlafen nach seiner Anstrengung und die Gaißen kletterten oben an den Büschen umher. Dem Heidi war es so schön zu Muth, wie in seinem Leben noch nie. Es trank das goldne Sonnenlicht, die frischen Lüfte, den zarten Blumenduft in sich ein und begehrte gar Nichts mehr, als so da zu bleiben immerzu. So verging eine gute Zeit und Heidi hatte so oft und so lange zu den hohen Bergstöcken drüben aufgeschaut, daß es nun war, als haben sie alle auch Gesichter bekommen und schauten ganz bekannt zu ihm hernieder, so wie gute Freunde.
      Jetzt hörte Heidi über sich ein lautes, scharfes Geschrei und Krächzen ertönen, und wie es aufschaute, kreiste über ihm ein so großer Vogel, wie es nie in seinem Leben gesehen hatte, mit weitausgebreiteten Schwingen in der Luft umher, und in großen Bogen kehrte er immer wieder zurück und krächzte laut und durchdringend über Heidi's Kopf.
      «Peter! Peter! erwach'!», rief Heidi laut. «Sieh', der Raubvogel ist da, sieh'! sieh'!»
      Peter erhob sich auf den Ruf und schaute mit Heidi dem Vogel nach, der sich nun höher und höher hinaufschwang in's Himmelblau und endlich über grauen Felsen verschwand.
      [38] «Wo ist er jetzt hin?», fragte Heidi, das mit gespannter Aufmerksamkeit den Vogel verfolgt hatte.
      «Heim in's Nest», war Peter's Antwort.
      «Ist er dort oben daheim? O, wie schön so hoch oben! Warum schreit er so?», fragte Heidi weiter.
      «Weil er muß», erklärte Peter.
      «Wir wollen doch dort hinaufklettern und sehen, wo er daheim ist», schlug Heidi vor.
      «O! O! O!» , brach der Peter aus, jeden Ausruf mit verstärkter Mißbilligung hervorstoßend; «wenn keine Gaiß mehr dort hinkann und der Oehi gesagt hat, du dürfest nicht über die Felsen hinunterfallen.»
      Jetzt begann der Peter mit einem Mal ein so gewaltiges Pfeifen und Rufen anzustimmen, daß Heidi gar nicht wußte, was begegnen sollte: aber die Gaißen mußten die Töne verstehen, denn eine nach der andern kam heruntergesprungen, und nun war die ganze Schaar auf der grünen Halde versammelt, die Einen fortnagend an den würzigen Halmen, die Andern hin= und herrennend und die Dritten ein wenig gegeneinanderstoßend mit ihren Hörnern zum Zeitvertreib. Heidi war aufgesprungen und rannte mitten unter den Gaißen umher, denn das war ihm ein neuer, unbeschreiblich vergnüglicher Anblick, wie die Thierlein durcheinander sprangen und sich lustig machten, und Heidi sprang von einem zum andern und machte mit jedem ganz persönliche Bekanntschaft, denn jedes war eine ganz besondere Er[39]scheinung für sich und hatte seine eignen Manieren. Unterdessen hatte Peter den Sack herbeigeholt und alle vier Stücke, die drin waren, schön auf den Boden hingelegt in ein Viereck, die großen Stücke auf Heidi's Seite und die kleinen auf die seinige hin, denn er wußte genau, wie er sie erhalten hatte. Dann nahm er das Schüsselchen und melkte schöne, frische Milch hinein vom Schwänli und stellte das Schüsselchen mitten in's Viereck. Dann rief er Heidi herbei, mußte aber länger rufen, als nach den Gaißen, denn das Kind war so in Eifer und Freude über die mannigfaltigen Sprünge und Erlustigungen seiner neuen Spielkameraden, daß es Nichts sah und Nichts hörte außer diesen. Aber Peter wußte sich verständlich zu machen, er rief, daß es bis in die Felsen hinauf dröhnte, und nun erschien Heidi und die gedeckte Tafel sah so einladend aus, daß es darum herumhüpfte vor Wohlgefallen.
      «Hör auf zu hopfen, es ist Zeit zum Essen», sagte Peter, «jetzt sitz' und fang' an.»
      Heidi setzte sich hin. «Ist die Milch mein?», fragte es, nochmals das schöne Viereck und den Hauptpunkt in der Mitte mit Wohlgefallen betrachtend.
      «Ja», erwiderte Peter, «und die zwei großen Stücke zum Essen sind auch dein, und wenn du ausgetrunken hast, bekommst du noch ein Schüsselchen vom Schwänli und dann komm' ich.»
      «Und von wem bekommst du die Milch?», wollte Heidi wissen.
      [40] «Von meiner Gaiß, von der Schnecke. Fang' einmal zu essen an», mahnte Peter wieder. Heidi fing bei seiner Milch an, und so wie es sein leeres Schüsselchen hinstellte, stand Peter auf und holte ein zweites herbei. Dazu brach Heidi ein Stück von seinem Brod ab, und das ganze übrige Stück, das immer noch größer war, als Peter's eigenes Stück gewesen, das nun schon sammt Zubehör fast zu Ende war, reichte es diesem hinüber mit dem ganzen großen Brocken Käse und sagte: «Das kannst du haben, ich habe nun genug.»
      Peter schaute das Heidi mit sprachloser Verwunderung an, denn noch nie in seinem Leben hätte er so sagen und Etwas weggeben können. Er zögerte noch ein wenig, denn er konnte nicht recht glauben, daß es dem Heidi Ernst sei; aber dieses hielt erst fest seine Stücke hin, und da Peter nicht zugriff, legt' es sie ihm auf's Knie. Nun sah er, daß es ernst gemeint sei; er erfaßte sein Geschenk, nickte in Dank und Zustimmung und hielt nun ein so reichliches Mittagsmahl, wie noch nie in seinem Leben als Gaißbub. Heidi schaute derweilen nach den Gaißen aus. «Wie heißen sie alle, Peter?», fragte es.
      Das wußte dieser nun ganz genau und konnte es um so besser in seinem Kopf behalten, da er daneben wenig darin aufzubewahren hatte. Er fing also an und nannte ohne Anstoß eine nach der andern, immer je mit dem Finger die betreffende bezeichnend. Heidi hörte mit gespannter Auf[41]merksamkeit der Unterweisung zu, und es währte gar nicht lange, so konnte es sie alle von einander unterscheiden und jede bei ihrem Namen nennen, denn es hatte eine jede ihre Besonderheiten, die Einem gleich im Sinne bleiben mußten; man mußte nur Allem genau zusehen, und das that Heidi. Da war der große Türk mit den starken Hörnern, der wollte mit diesen immer gegen alle andern stoßen, und die meisten liefen davon, wenn er kam, und wollten Nichts von dem groben Kameraden wissen. Nur der kecke Distelfink, das schlanke, behende Gaißchen, wich ihm nicht aus, sondern rannte von sich aus manchmal drei, vier Mal hinter einander so rasch und tüchtig gegen ihn an, daß der große Türk öfters ganz erstaunt dastand und nicht mehr angriff, denn der Distelfink stand ganz kriegslustig vor ihm und hatte scharfe Hörnchen. Da war das kleine, weiße Schneehöppli, das immer so eindringlich und flehentlich meckerte, daß Heidi schon mehrmals zu ihm hingelaufen war und es tröstend beim Kopf genommen hatte. Auch jetzt sprang das Kind wieder hin, denn die junge, jammernde Stimme hatte eben wieder flehentlich gerufen. Heidi legte seinen Arm um den Hals des Gaißleins und fragte ganz theilnehmend: «Was hast du, Schneehöppli? Warum rufst du so um Hülfe?» Das Gaißlein schmiegte sich nahe und vertrauensvoll an Heidi an und war jetzt ganz still. Peter rief von seinem Sitz aus, mit einigen Unterbrechungen, denn er hatte immer noch zu beißen und zu [42] schlucken: «Es thut so, weil die Alte nicht mehr mitkommt, sie haben sie verkauft nach Mayenfeld vorgestern, nun kommt sie nicht mehr auf die Alm.»
      «Wer ist die Alte?», fragte Heidi zurück.
      «Pah, seine Mutter», war die Antwort.
      «Wo ist die Großmutter?», rief Heidi wieder.
      «Hat keine.»
      «Und der Großvater?»
      «Hat keinen.»
      «Du armes Schneehöppli du», sagte Heidi und drückte das Thierlein zärtlich an sich. «Aber jammere jetzt nur nicht mehr so; siehst du, ich komme nun jeden Tag mit dir, dann bist du nicht mehr so verlassen, und wenn dir Etwas fehlt, kannst du nur zu mir kommen.»
      Das Schneehöppli rieb ganz vergnügt seinen Kopf an Heidi's Schulter und meckerte nicht mehr kläglich. Unterdessen hatte Peter sein Mittagsmahl beendet und kam nun auch wieder zu seiner Heerde und zu Heidi heran, das schon wieder allerlei Betrachtungen angestellt hatte.
      Weitaus die zwei schönsten und saubersten Gaißen der ganzen Schaar waren Schwänli und Bärli, die sich auch mit einer gewissen Vornehmheit betrugen, meistens ihre eigenen Wege gingen und besonders dem zudringlichen Türk abweisend und verächtlich begegneten. Die Thierchen hatten nun wieder begonnen, nach den Büschen hinaufzuklettern, und jedes hatte seine eigene Weise dabei, die einen leicht[43]fertig über Alles weg hüpfend, die andern bedächtlich die guten Kräutlein suchend unterwegs, der Türk hier und da seine Angriffe probierend. Schwänli und Bärli kletterten hübsch und leicht hinan und fanden oben sogleich die schönsten Büsche, stellten sich geschickt daran auf und nagten sie zierlich ab. Heidi stand mit den Händen auf dem Rücken und schaute dem allen mit der größten Aufmerksamkeit zu.
      «Peter», bemerkte es jetzt dem wieder auf dem Boden Liegenden, «die schönsten von allen sind das Schwänli und das Bärli.»
      «Weiß schon», war die Antwort. «Der Alm=Oehi putzt und wäscht sie und gibt ihnen Salz und hat den schönsten Stall.»
      Aber auf einmal sprang Peter auf und setzte in großen Sprüngen den Gaißen nach, und das Heidi lief hintendrein; da mußte Etwas begegnet sein, es konnte da nicht zurückbleiben. Der Peter sprang durch den Gaißenrudel durch der Seite der Alm zu, wo die Felsen schroff und kahl weit hinabsteigen und ein unbesonnenes Gaißlein, wenn es dorthin ging, leicht hinunterstürzen und alle Beine brechen konnte. Er hatte gesehen, wie der vorwitzige Distelfink nach jener Seite hin gehüpft war, und kam noch gerade recht, denn eben sprang das Gaißlein dem Rande des Abgrunds zu. Peter wollte es eben packen, da stürzte er auf den Boden und konnte nur noch im Sturze ein Bein des Thierleins erwischen und es daran festhalten. Der Distelfink [44] meckerte voller Zorn und Ueberraschung, daß er so am Bein festgehalten und am Fortsetzen seines fröhlichen Streifzugs gehindert war, und strebte eigensinnig vorwärts. Der Peter schrie nach Heidi, daß es ihm beistehe, denn er konnte nicht aufstehen und riß dem Distelfink fast das Bein aus. Heidi war schon da und erkannte gleich die schlimme Lage der Beiden. Es riß schnell einige wohlduftende Kräuter aus dem Boden und hielt sie dem Distelfink unter die Nase und sagte begütigend: «Komm', komm', Distelfink, du mußt auch vernünftig sein! Sieh', da kannst du hinabfallen und ein Bein brechen, das thut dir furchtbar weh.»
      Das Gaißlein hatte sich schnell umgewandt und dem Heidi vergnüglich die Kräuter aus der Hand gefressen. Derweilen war der Peter auf seine Füße gekommen und hatte den Distelfink an der Schnur erfaßt, an welcher sein Glöckchen um den Hals gebunden war, und Heidi erfaßte diese von der andern Seite, und so führten die Beiden den Ausreißer zu der friedlich weidenden Heerde zurück. Als ihn aber Peter hier in Sicherheit hatte, erhob er seine Ruthe und wollte ihn zur Strafe tüchtig durchprügeln, und der Distelfink wich scheu zurück, denn er merkte, was begegnen sollte. Aber Heidi schrie laut auf: «Nein, Peter, nein, du mußt ihn nicht schlagen, sieh' , wie er sich fürchtet!»
      «Er verdient's», schnurrte Peter und wollte zuschlagen. Aber Heidi fiel ihm in den Arm und rief ganz entrüstet: «Du darfst ihm Nichts thun, es thut ihm weh, laß ihn los!»
      [45] Peter schaute erstaunt auf das gebietende Heidi, dessen schwarze Augen ihn so anfunkelten, daß er unwillkürlich seine Ruthe niederhielt. «So kann er gehen, wenn du mir morgen wieder von deinem Käse gibst», sagte dann der Peter nachgebend, denn eine Entschädigung wollte er haben für den Schrecken.
      «Allen kannst du haben, das ganze Stück morgen und alle Tage, ich brauche ihn gar nicht», sagte Heidi zustimmend, «und Brod gebe ich dir auch ganz viel, wie heute; aber dann darfst du den Distelfink nie, gar nie schlagen und auch das Schneehöppli nie und gar keine Gaiß.»
      «Es ist mir gleich», bemerkte Peter, und das war bei ihm so viel als eine Zusage. Jetzt ließ er den Schuldigen los, und der fröhliche Distelfink sprang in hohen Sprüngen auf und davon in die Heerde hinein.
      So war unvermerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne im Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinabzugehen. Heidi saß wieder am Boden und schaute ganz still auf die Blauglöckchen und die Cystusröschen, die im goldenen Abendschein leuchteten, und alles Gras wurde wie golden angehaucht und die Felsen droben fingen zu schimmern und zu funkeln an, und auf einmal sprang Heidi auf und schrie: «Peter! Peter! Es brennt! Es brennt! Alle Berge brennen und der große Schnee drüben brennt und der Himmel. O sieh'! sieh'! Der hohe Felsenberg ist ganz glühend! O, der schöne, feurige Schnee! Peter, sieh' auf, [46] sieh', das Feuer ist auch beim Raubvogel! sieh' doch die Felsen! sieh' die Tannen! Alles, Alles ist im Feuer!»
      «Es war immer so», sagte jetzt der Peter gemüthlich und schälte an seiner Ruthe fort, «aber es ist kein Feuer.»
      «Was ist es denn?», rief Heidi und sprang hierhin und dorthin, daß es überallhin sehe, denn es konnte gar nicht genug bekommen, so schön war's auf allen Seiten. «Was ist es, Peter, was ist es?», rief Heidi wieder.
      «Es kommt von selbst so», erklärte Peter.
      «O sieh', sieh'», rief Heidi in großer Aufregung, «auf einmal werden sie rosenroth! Sieh' den mit dem Schnee und den mit den hohen, spitzigen Felsen! wie heißen sie, Peter?»
      «Berge heißen nicht», erwiderte dieser.
      «O wie schön, sieh' den rosenrothen Schnee! O, und an den Felsen oben sind viele, viele Rosen! O, nun werden sie grau! O! O! Nun ist Alles ausgelöscht! Nun ist Alles aus, Peter!» Und Heidi setzte sich auf den Boden und sah so verstört aus, als ginge wirklich Alles zu Ende.
      «Es ist morgen wieder so», erklärte Peter. «Steh' auf, nun müssen wir heim.»
      Die Gaißen wurden herbeigepfiffen und =gerufen und die Heimfahrt angetreten.
      «Ist's alle Tage wieder so, alle Tage, wenn wir auf der Weide sind?», fragte Heidi, begierig nach einer be[47]jahenden Versicherung horchend, als es nun neben dem Peter die Alm hinunterstieg.
      «Meistens», gab dieser zur Antwort.
      «Aber gewiß morgen wieder?», wollte es noch wissen.
      «Ja, ja, morgen schon!», versicherte Peter.
      Nun war Heidi wieder froh und es hatte so viele Eindrücke in sich aufgenommen und so viele Dinge gingen ihm im Sinn herum, daß es nun ganz still schwieg, bis es bei der Almhütte ankam und den Großvater unter den Tannen sitzen sah, wo er auch eine Bank angebracht hatte und am Abend seine Gaißen erwartete, die von dieser Seite herunterkamen. Heidi sprang gleich auf ihn zu und Schwänli und Bärli hinter ihm drein, denn die Gaißen kannten ihren Herrn und ihren Stall. Der Peter rief dem Heidi nach: «Komm' dann morgen wieder! Gute Nacht!» Denn es war ihm sehr daran gelegen, daß das Heidi wiederkomme.
      Da rannte das Heidi schnell wieder zurück und gab dem Peter die Hand und versicherte ihn, daß es wieder mitkomme und dann sprang es mitten in die davonziehende Heerde hinein und faßte noch einmal das Schneehöppli um den Hals und sagte vertraulich: «Schlaf' wohl, Schneehöppli, und denk' dran, daß ich morgen wiederkomme und daß du nie mehr so jämmerlich meckern mußt.»
      Das Schneehöppli schaute ganz freundlich und dankbar zu Heidi auf und sprang dann fröhlich der Heerde nach.
      Heidi kam unter die Tannen zurück.
      [48] «O Großvater, das war so schön!», rief es, noch bevor es bei ihm war. «Das Feuer und die Rosen am Felsen und die blauen und gelben Blumen, und sieh', was ich dir bringe!» Und damit schüttete Heidi seinen ganzen Blumenreichthum aus dem gefalteten Schürzchen vor den Großvater hin. Aber wie sahen die armen Blümchen aus! Heidi erkannte sie nicht mehr. Es war Alles wie Heu, und kein einziges Kelchlein stand mehr offen.
      «O Großvater, was haben sie?», rief Heidi ganz erschrocken aus. «So waren sie nicht, warum sehen sie so aus?»
      «Die wollen draußen stehen in der Sonne und nicht in's Schürzchen hinein», sagte der Großvater.
      «Dann will ich gar keine mehr mitnehmen. Aber, Großvater, warum hat der Raubvogel so gekrächzt?», fragte Heidi nun angelegentlich.
      «Jetzt gehst du in's Wasser und ich in den Stall und hole Milch, und nachher kommen wir hinein zusammen in die Hütte und essen zu Nacht, dann sag' ich dir's.»
      So wurde gethan, und wie nun später Heidi auf seinem hohen Stuhl saß vor seinem Milchschüsselchen und der Großvater neben ihm, da kam das Kind gleich wieder mit seiner Frage: «Warum krächzt der Raubvogel so und schreit immer so herunter, Großvater?»
      «Der höhnt die Leute aus dort unten, daß sie so Viele zusammensitzen in den Dörfern und einander bös machen. [49] Da höhnt er hinunter: ›Würdet Ihr auseinander gehen und jedes seinen Weg und auf eine Höhe steigen wie ich, so wär's euch wohler!‹» Der Großvater sagte diese Worte fast wild, so daß dem Heidi das Gekrächz des Raubvogels dadurch noch eindrücklicher wurde in der Erinnerung.
      «Warum haben die Berge keine Namen, Großvater?», fragte Heidi wieder.
      «Die haben Namen», erwiderte dieser, «und wenn du mir einen so beschreiben kannst, daß ich ihn kenne, so sage ich dir, wie es heißt.»
      Nun beschrieb Heidi den Felsenberg mit den zwei hohen Thürmen genau so, wie es ihn gesehen hatte, und der Großvater sagte wohlgefällig: «Recht so, den kenn' ich, der heißt Falkniß. Hast du noch einen gesehen?»
      Nun beschrieb Heidi den Berg mit dem großen Schneefeld, auf dem der ganze Schnee im Feuer gestanden hatte und dann rosenroth geworden war und dann auf einmal ganz bleich und erloschen dastand.
      «Den erkenn' ich auch», sagte der Großvater, «das ist der Cäsaplana; so hat es dir gefallen auf der Weide?»
      Nun erzählte Heidi Alles vom ganzen Tage, wie schön es gewesen, und besonders von dem Feuer am Abend, und nun sollte der Großvater auch sagen, woher es gekommen war, denn der Peter hatte Nichts davon gewußt.
      «Siehst du», erklärte der Großvater, «das macht die Sonne, wenn sie den Bergen gute Nacht sagt, dann wirft [50] sie ihnen noch ihre schönsten Strahlen zu, daß sie sie nicht vergessen, bis sie am Morgen wiederkommt.»
      Das gefiel dem Heidi und es konnte fast nicht erwarten, daß wieder ein Tag komme, da es hinaufkonnte auf die Weide und wieder sehen, wie die Sonne den Bergen gute Nacht sagte. Aber erst mußte es nun schlafen gehen, und es schlief auch die ganze Nacht herrlich auf seinem Heulager, und träumte von lauter schimmernden Bergen und rothen Rosen darauf und mitten drinn das Schneehöppli in fröhlichen Sprüngen.