BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Ludwig Uhland

1787 – 1862

 

Zweites Nachtblatt

 

oder

Einstweilige Vorrede

für das erst zu fertigende Werk:

Der Rosengarten, Altteutsche Lieder und Volkslieder,

gesammelt von Julius Justus Justinus Kärrner,

Erbherrn von und zu Wartenburg, Doktor der

Medizin und Mandolin, praktischem Ohrenarzt

und Geisterseher, berühmten Maultambour

und Wunderhornisten, weiland pass-, nun

pensionierten Sonntagsblättler, der

säkularisierten Einsiedler- und andrer

gelehrten, auch Tisch- und

Trinkgesellschaften Mitglied.

 

1809

 

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Zuvörderst, liebster Leser und allerliebste Leserin! einiges über den Titel dieses Buches. Ich hätte nämlich dasselbe gar zu gerne «Fortsetzung des 'Wunderhorns'» betitelt; allein die Herausgeber des letztern haben solches für geschlossen erklärt, wiewohl des Klangs halber zu wünschen wäre, daß sie es offen ließen. Sonst aber ist «Wunderhorn» ein trefflicher Name. Wie unsäglich viel liegt nur in dem Wörtchen Horn! Ein Füllhorn altteutscher Blumen und Früchte; ein Posthorn, bei dessen Klange wir wieder auf echtteutschen Grund und Boden einfahren; des Wald-, Alp-, Wächterhorns usw. nicht zu gedenken, von welchen allen hier Klänge zu vernehmen sind. Auch ist das Horn auf der Stirne des Moses (jedoch nicht anderer Männer) ein Zeichen der Kraft und Würde. Meine Sammlung nun heißt: «Der Rosengarten», oder vielmehr sie soll wirklich ein solcher sein. Ich wünschte nämlich, daß der Leser soviel möglich vergäße, daß er ein Buch vor sich habe (daher ich auch nicht wie Büsching und Hagen es bei dem bloßen Titel: «Sammlung usw.» ließ, was zu sehr an den Sammler und Buchmacher erinnert), und bloß das reiche Leben dieser Lieder im Auge behielte, so wie man nicht an die Fensterscheibe oder die Luft denkt, durch die man in eine herrliche Gegend hinausschaut. Das Papier meines Buches soll transparent sein und den Rosengarten in seiner ganzen Pracht durchscheinen lassen. In einen wirklichen Rosengarten führ' ich den Leser oder vielmehr Lustwandler, und zwar in den Rosengarten zu Worms. Hier kämpften vor der schöncn Kriemhilde die hunnischen Helden mit denen vom Rheine (worüber sich so viele Lieder in meiner Sammlung befinden), hier schifften die drei Grafen mit dem römischen Glase vorbei, hier der Kölnische Schwanenritter. Aber diese romantische Insel ist noch nicht untergegangen. Noch fahren an jedem schönen Sonntag die Bürger von Worms mit ihren Söhnen und Töchtern in den duftenden Garten hinüber. Im wiegenden Kahne singen sie Schiff-Wiegenlieder, oder die eifersüchtigen Handwerker halten von verschiedenen Nachen aus gegeneinander Schifferstechen mit spitzigen Spottgedichten, wie Don Geishaar und Don Malmeel. Endlich auf der Insel selbst, was sag' ich von all dem regen Leben, von all den Tanz-, Trink- und Liebesliedern!

Hiemit genug über den Titel! Was aber den Inhalt betrifft, so findet sich hier, wie im Leben selbst, das regeste Gemisch von Ernst und Scherz. Denn wie bald würde das ernste, tragische Trampeltier langweilig werden, wenn nicht das komische Äffchen so possierlich auf seinem Höcker tanzte! Der Zeit nach aber teilt sich der Inhalt dieses Buchs in die altteutschen Heldenlieder und Legenden und die neuern, noch lebenden Volksstimmen.

Die Quelle der erstern entsprang in der Stadt Reutlingen, nahe bei der dortigen Kirche, so wie überhaupt bei Kirchen geweihte Bronnen zu sein pflegen. Die Stadt Reutlingen ist wie durch Gerberei, Färberei und den Nachdrucker Mäcken (Maecenas), so besonders durch den Druck von Volksliedern und Volksromanen berühmt. Wie ein Nordlicht verbreitet dies über die ganze Stadt einen höchst wunderbaren Schein. Dort denk' ich bei jedem Pferd an das Roß Bayart; bei jedem Schmiedknecht an den gehörnten Siegfried, so wie bei jedem vorbeiziehenden Wolkenschatten an den fliegenden Drachen; bei jedem Schulprovisor an die sieben weise[n] Meister; bei jedem Bronnen an die Melusina; bei jedem Achter an den Kaiser Oktavianus; bei jedem Spiegel sowohl an den Eulenspiegel als an den Zauberspiegel in der Genoveva; bei jedem Ring an die Liebesringe der Magelone und den Ort, wo sie lagen; bei jedem Hut und Beutel (den meinigen ausgenommen) an Fortunati Säckel und Wünschhütlein.

Vorzüglich aber besitzt diese Stadt ein herrliches, gotisches Münster und demselben gegenüber eine alte Kammer voll der herrlichsten altteutschen Gedichtbücher. Kaum hatt' ich das letztere erfahren, als ich mich eilends dahin begab, um zu retten, was noch zu retten wäre; denn wie manche herrliche Blüte und Frucht zernagt wohl täglich der Bücherwurm!

Es war an einem Sonntag, und man läutete gerad' in die Kirche, als wir, nach Ersteigung einer hohen Wendeltreppe, in der alten Kammer anlangten. Durch die vom Alter buntgefärbten Scheiben brach ein seltsames Licht, wie Mondschein, herein. Wie Gebirgschichten lagen die ungeheuern Folianten aufgetürmt, und das Glockengeläute gab in ihnen ein mehrfaches wunderbares Echo. Meine Empfindung glich sehr derjenigen, womit ich sonst alte Rüstkammern betrat. Denn nicht bloß an den gewichtigen Panzern, Helmen, Schwertern, Lanzen läßt sich die Kraft unsrer Väter erkennen, wahrlich! auch diese Bücherkolosse zeugen von ihrer nun unerhörten Stärke. Man denke sich einen Mönch oder Ritter, mit einem solchen ungeheuren Folianten spazierengehend (wie man jetzt wohl einen Musensohn mit dem Musenalmanach lustwandeln sieht), würde man ihn nicht heutzutage für einen Lastträger und Markthelfer halten? Ein solcher konnte, wann er müde war, sein Buch als Ruhebank gebrauchen und, wann er an einen Strom kam, es als Ponton darüber werfen Damals gehörten ohne Zweifel die Buchbinder in die Zunft der Zimmerleute und Dachdecker. Fürwahr! es ließe sich ein Kraftmesser der Zeiten nach dem Format der Bücher anlegen, wie man nach und nach von Großfolio zu Kleinfolio, Quart, Oktav, Duodez bis zu Sedez herabkam. Man verkauft jetzt sogar Kalender in einer Nuß. Ja, was das Ungeheuerste in der Kleinheit ist, es findet sich in einer gewissen Stadt eine Leihbibliothek und Disputationshandlung zusamt dem Bibliothekar – in einer Haselnuß. Und die Sache ist nicht bloß äußerlich, denn der Inhalt unsrer meisten Taschenbücher paßt trefflich zu ihrer Form; aber wie sollten sich diese Siegfriede, Hagene, Dietriche im Taschenformat regen und strecken können?

Aber ich kehre zur Bücherkammer zurück. Als ich nun endlich unter dem fortwährenden Geläut aller Glocken die mächtigen Kirchtorflügel einiger dieser Folianten aufgeschlagen hatte, in welch herrliche Tempelhalle sah ich da! Ritter, Damen, Mönche, Heiligenbilder, Legendengemälde, Glasmalereien an allen Fenstern; ein Platfond, der die Herrlichkeit des Himmels vorstellte, aber es war kein Gemälde, sondern eine Öffnung des wirklichen Himmels. Und als nun drüben im Münster das Orgelspiel und dann der Chor begann, da war mir, als stiegen diese Klänge aus meinen Büchern hervor, und ich zerfloß in Andacht und Entzücken.

Diesen neueröffneten Tempel nun hab' ich auch dir, lieber Leser, offen erhalten und durch gegenwärtiges Unternehmen zugänglich machen wollen, und ich hoffe, du werdest mir es Dank wissen.

Was aber die zweite Abteilung dieses Buchs, die noch lebenden Volksstimmen anbelangt, so ist mein Verdienst hierin unbedeutend, vielmehr gehört aller Dank des Lesers einem (wie es bei großen Männern zu geschehen pflegt) von seiner Zeit noch durchaus nicht genugsam gewürdigten, ganz genialen und welt­umfassenden Geiste – dem Jüngling Felix Schaber. Schon in die Namen dieses großen Sohnes einer Äpfelhändlerin legte das Schicksal unzweideutige Zeichen seines Wesens und seiner Geschichte. Über den obskuren und unbedeutenden Geschlechtsnamen der Schaber sollte er sich durch den edeln und glücklichen Taufnamen Felix (nomen, omen!), das heißt durch seine geniale Individualität erheben. Nennen wir ihn daher in Zukunft bloß Felix mit Abstreifung des Geschlechtsnamens Schaber, wie Napoleon den Bonaparte abfallen ließ!

Frühe schon, als er noch bei seiner Mutter, der Äpfelhändlerin, an der Marktecke saß, gewann er den Dingen eine höhere Ansicht ab. So balgte er sich stets nur im höhern Sinne, das heißt im Kampfe für das Heilige. Das sogenannte Känzelein am Rathause, wo den Bürgern die obrigkeitlichen Befehle abgelesen werden, betrachtete er als die rö­mischen Rostra oder, in großen Momenten, als den Richterstuhl beim Jüngsten Gerichte, wo dann die Schafe auf die rechte, die Neckarseite, die Böcke auf die linke, die Ammerseite, zu stehen kämen, auf welche Ansicht ihn ohne Zweifel der Umstand leitete, daß diesen verschiedenen Tierarten jetzt schon nach den genannten Regionen ihre Weiden zugeteilt sind. Er nahm nie einen Apfel aus dem Korbe seiner Mutter (denn dem Genie gehört die ganze Welt), ohne daß er dabei an den Zankapfel der Eris, die Äpfel der Hesperiden, den Apfel der Iduna, den Reichsapfel usw. gedacht hätte; und wenn er endlich nach solchen Be­trachtungen in den Apfel gebissen hatte, so erinnerte er sich des Ap­felbisses der Eva, des Pfirsichbisses der Proserpina, Friedrichs mit der gebissenen Wange usf. So reifte in seinem Geiste ein weltumfassender Plan. Er beschloß, nicht unähnlich dem Heinrich von Ofterdingen, mit dem Poetischen aller Stände und Lebensweisen sich bekanntzumachen. Zuerst begab er sich zum Militär, und zwar als Tambour, teils in Rücksicht auf seine Statur, teils weil ihm die Trommel eine mächtige Erweckerin kriegerischen Muts zu sein dünkte. Und wie er nun diese Mutpompe so innig an sich geknüpft hatte, steigerte er durch ihre hinreißenden Wirbel seine Heldenglut auf den höchsten Grad. Aber leider! waren es damals Friedenszeiten, er konnte nicht die Tat zum Enthusiasmus hinzufügen. Was ihm zu verbinden nicht gelang, suchte er nun getrennt zu genießen. Er vertauschte den Trom­melschlegel mit dem Hackmesser. So wie er im Kriegsdienste allein die Lust der kriegerischen Begeisterung genossen hatte, so erfuhr er nun beim Schlächterhandwerk abgesondert die Poesie des Totschlags und Blutvergießens. Doch auch hier ließ ihn sein Plan nicht lange verweilen. Vom Feisten wandte er sich zum Dürren, aus der Metzig in die Schneiderbude. Nicht unähnlich sind die dünnbeinigen Schneider den dürren Zweigen und Ruten, welche eben auch das grüne Laubgewand mit mancherlei Blumen- und Blütenaufschlägen verfertigen. Auch der knöcherne Tod ist ein Schneider, der uns in das Gewand der Verklärung kleidet. Ein Gedanke, der mich doch oft schauern macht, wann mir der Schneider ein Kleid anmißt und seine Spinnenhände so an mir auf- und niederkriechen.

So durchwanderte Felix in kurzem fast alle Verhaltnisse des Lebens. Da er aber in jeder solcher Verbindung nur die Flitterwochen aushielt, so erfuhr er nie das Gemeine und Drückende, sondern nur das Edle und Poetische der verschiedenen Stände. Er hatte in einem beständigen Frühling gelebt und kam nun mit einem reichen bunten Blütenstrauße (den mannigfaltigen Volksliedern) geschmückt nach Hause. Uneigen­nützig teilte er mir von seinem Reichtume mit.

Ich habe für meinen Zweck genug von diesem Einzigen gesprochen, aber dennoch werden mir's die Leser danken, wenn ich noch einige seiner Individualitäten mitteile.

Er bewohnt ein kleines, höchst einfaches Haus; hier sieht man ihn öfters durch die Öffnung einer zerbrochenen Fensterscheibe heraus­schaun. Aber wenn die Sonne des Himmels durch den engen Raum einer Fensterscheibe in sein Gemach scheinen kann, warum sollte nicht auch er, die Sonne der Erde, durch denselben Raum herausblicken?

Sein Geist ist groß, aber klein sein Körper. Diese seiner reinen Seele so fühlbare Disharmonie sucht er durch die Größe seines Gewandes zu heben. Er kleidet sich daher in einen langen und weiten Dragenermantel von blauer Farbe, der ihn ganz einhüllt, dessen Ärmel bis auf die Erde herabhängen, der seine Füße unsichtbar macht, und dessen Schleppe, wie der Fischschweif einer Meerfrau, hinten nachwogt, so daß er mehr zu schwimmen als zu gehen scheint. Diese Kleidung ist orientalisch, denn Felix neigt sich in vielem, besonders auch in der Lust zum Müßiggange, nach dem Orient. Zwar hat dieser Mantel mehrere Risse, allein Felix pflegt zu sprechen:

 

«Der Sänger geht auf rauhen Pfaden,

Zerreißt an Dornen sein Gewand.»

 

Das Haupt unsres Helden ist unbedeckt, denn er erwartet stündlich die Lorbeer- oder Bürgerkrone. Kurz, dieses Universalgenie gleicht auch in seinem Äußern dem allumfassenden Äther, der, wann er den dunkelblauen Mantel der Nacht angezogen, nur sein Gesicht, als Mond, unverhüllt zeigt und dann durch vielfache Risse des Mantels seine Blöße, als Sterne, durchschimmern läßt.

Es ist noch nötig, über den Anhang meiner Sammlung einiges zu sagen. Er besteht nicht in Kinderliedern, sondern – mirabile dictu – in Liedern der Vögel und andrer Tiere. Hier findet man Liebeslieder der Nachtigallen, Wanderlieder der Störche, Tanzlieder der Bären, persiflierende Gedichte der Mäuse, Bergmannslieder der Hamster, Trinklieder der Blutigel (höchst selten) usw. Ich beschäftige mich nämlich seit langer Zeit unermüdet mit Untersuchungen über das Gehör, und es ist mir endlich gelungen, das menschliche Ohr für die Sprache der Tiere empfänglich zu machen; auch hoffe ich, diese Kunst noch so weit zu treiben, daß in einiger Zeit ein Band mit Liedern der Blumen nachfolgen kann.

Zuletzt ergreif' ich diese Gelegenheit, einem hohen Adel und verehrten Publikum, das am Gehör leiden sollte, mich hiemit schriftlich (mündliches Anerbieten möchte nicht durchdringen) zu allen ärztlichen Diensten untertänigst und respve gehorsamst zu empfehlen.

 

J. J. Kärrner