BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Ludwig Uhland

1787 – 1862

 

Über die Aufgabe einer Gesellschaft

für deutsche Sprache

 

1817

 

______________________________________________________________________________

 

 

 

Die Berlinische Gesellschaft für deutsche Sprache bestimmt sich in ihrer Gesetzurkunde zu ihrem ausschließlichen Zweck die wissen­schaftliche Erforschung der deutschen Sprache nach ihrem ganzen Umfang. Zufolge dieses Zwecks setzt sie sich für ihre Werktätigkeit drei Hauptaufgaben:

1)  Erforschung des gegenwärtigen Zustandes der deutschen Spra­che nach sämtlichen Mundarten, in Rede, Schrift und Druck;

2)  Würdigung der heutigen deutschen Sprache nach ihrem eigen­tümlichen Musterbilde, wie es aus ihr selbst anzuschauen und zu er­kennen;

3)  Ausmittelung alles dessen, was im Geiste der geschichtlich gege­benen Sprache selbst getan werden kann, um die heutige deutsche Spra­che weiter auszubilden und den als zweckmäßig erkannten Sprach­verbesserungen bei dem deutschen Volke Eingang zu ver­schaffen.

Endlich als Ergebnis dieser dreifachen Arbeit strebt die Gesellschaft, Vorarbeiten für ein Wörterbuch, für eine Sprachlehre und eine Ge­schichte der deutschen Sprache zu liefern.

Mit Recht verlangt die Gesellschaft eine solche Forschung, welche belebend, für die weitere Ausbildung der Sprache förderlich sei.

Wie nun gerade die geschichtliche Betrachtung und Bearbeitung der deutschen Sprache sich als vorzügliches und wesentliches Mittel der Belebung und Förderung darstelle, soll in dem Folgenden näher angedeutet werden.

Die Gesetzurkunde, welche den Zweck und die Hauptaufgaben der Gesellschaft nur im allgemeinsten angeben konnte, um jeder besondern Ansicht und Verfahrensart freien Raum zu lassen, schließt auch jene geschichtliche Ansicht keineswegs aus, kömmt vielmehr derselben offenbar entgegen, wenngleich vielleicht derjenige, der zunächst von dem Standpunkt der Geschichte ausgeht, hierin eine schärfere Bezeichnung wünschen möchte.

Ist nämlich der ausgesprochene Zweck der Gesellschaft Erforschung der deutschen Sprache nach ihrem ganzen Umfange, so gehört in diesen Umfang unzweifelhaft auch die Erforschung der früheren Zustände unserer Sprache, so weit die Denkmäler derselben hinaufreichen. Sollten nun diesem Zwecke gemäß die Hauptaufgaben der gesellschaftlichen Werktätigkeit bestimmt werden, so hätte als erste Hauptaufgabe die Erforschung nicht bloß, wie geschehen ist, des gegenwärtigen, sondern des vormaligen und gegenwärtigen Zustandes der deutschen Sprache festgesetzt werden mögen; und zwar dieses um so mehr, als die zweite Hauptaufgabe, Würdigung der heutigen deutschen Sprache nach ihrem eigentümlichen Musterbilde, doch wohl vollständiger gesetzt und gelöst werden möchte, wenn das Musterbild nicht einzig aus der Betrachtung des heutigen Zustandes entnommen würde; als ferner die dritte Aufgabe, weitere Ausbildung im Geiste der geschichtlich gegebenen Sprache, die geschichtliche Forschung ausdrücklich voraussetzt, und als endlich, wenn bloß der gegenwärtige Zustand beachtet würde, unter den Ergebnissen der gesellschaftlichen Tätigkeit nicht Vorarbeiten für eine Geschichte der deutschen Sprache überhaupt, sondern zunächst bloß für eine Darstellung ihres heutigen Zustandes erscheinen könnten.

Es würde dem Bisherigen gemäß auch nicht unpassend gewesen sein, wenn unter den Gegenständen, für welche sich Vorarbeiten er­geben sollen, die Geschichte der Sprache vor dem Wörterbuch und der Sprachlehre benannt worden wäre. Nach diesen vorläufigen Be­merkungen zur Sache selbst!

Die Sprache ist eine Überlieferung, ein geschichtlich Gegebenes. Es kann zwar jeder aus sich selbst durch Nachdenken über das Wesen und den Zweck menschlicher Rede allgemeine Sprachgrundsätze ent­wickeln. Das Besondere der einzelnen Sprache aber, dasjenige, wodurch sie zur eigentümlichen Sprache wird, ihren Wortstoff, den Gebrauch, nach welchem dieser Stoff behandelt wird, und die aus diesem Gebrauch entnommenen Regeln empfängt jeder von außen und wenn er sich im Leben verständigen will, so muß er sich darnach achten.

So vererbt sich die Sprache von Geschlecht zu Geschlecht. Wenn aber das aufwachsende Geschlecht mittelst der überlieferten Sprache ins Leben eingetreten ist und darin Fuß gefaßt hat, so fühlt es das weitere Bedürfnis, nach der im Laufe der Zeit veränderten Denk- und Empfindungsweise an der empfangenen Sprache fortzubilden. Neue Begriffe erheischen neue oder neu angewendete Bezeichnung, andere Richtung des Geistes sucht andere Wendung des Ausdrucks.

Aber nicht durch Willkür des einzelnen, auch nicht durch beliebige Übereinkunft vieler, geht diese Erweiterung der Sprache vonstatten. Schon die Notwendigkeit der allgemeinen Verständigung verbietet solches Verfahren. Nicht durch das Aufpfropfen fremdartiger Reiser, vielmehr durch das Auftreiben neuer Schößlinge aus dem alten Stamm bildet sich die Sprache lebendig fort. Ja, man möchte sagen, es haben beim Anbruche der neuen Zeit verständige Männer vorgezogen, ihre der Bildung der Landessprache vorgeeilte Geistesbildung einer fremden, hiefür schon ausgebildeten Sprache anzuvertrauen, als das Wachstum der Muttersprache künstlich zu übertreiben. Will nun die Sprachlehre nicht bloß den dermaligen Sprachgebrauch in Regeln fassen und mit diesen die Sprache schließen, will und soll sie vielmehr die Gesetze auffinden, nach welchen die Sprache ohne Zerstörung ihrer selbst auf ihrer geschichtlichen Grundlage sich fortzubilden fähig ist, so wird hiezu nichts so dienlich sein, als eben die genaueste Kenntnis ihrer Geschichte selbst, die möglichst klare Ansicht der verschiedenen Zu­stände, welche die Sprache, soweit ihre Denkmäler reichen, durchge­macht hat und in denen sie, bei allem Wechsel der Gestaltungen, doch immer eine und dieselbe Sprache geblieben ist. Was in dem Wechsel der Zustände sich gleichgeblieben ist, das wird als unverletzbare Wurzel der Sprache erkannt werden und aus dem, was die Sprache zu ver­schiedenen Zeiten vermocht hat, wird sich am sichersten entnehmen lassen, was sie fernerhin vermöge.

Wenden wir dieses sogleich auf die deutsche Sprache an! Hier öffnet sich eine tausendjährige Geschichte. Wir sehen unsre Muttersprache im Zustande roher Kraft, in steigender und wieder sinkender Bildung, in wechselnder Herrschaft ihrer verschiedenen Mundarten. Namentlich zeigt uns die alemannische Mundart unter den hohenstaufischen Kaisern eine Ausbildung für die Dichtkunst, einen Reichtum, einen Wohlklang, eine Gewandtheit, eine schäpferische Freiheit, darum sie von neueren Dichtern mit Recht beneidet wird.

Alles dieses ist deutsche Sprache, überall der heimische Laut. Die Verschiedenheit von jetziger Schriftsprache oft mehr in der Mundart, als in der Zeitferne, begründet. Oft nur ein scharfes Anblicken, ein lebendiger Vortrag, und das alte Wort steht mitten im Leben.

Wenn in der neueren deutschen Dichtkunst die Vorliebe für das alte Wort sichtbar wird, so verdient dies nur bei denen Tadel, die bloß den Schein der Altertümlichkeit suchen oder nur auf der Oberfläche des Altertums schöpfen, nicht aber bei denjenigen, welche die etwas abgestandene Sprache jetziger Zeit in dem alten lebendigen Sprachquell gründlich zu erfrischen gemeint sind.

Der Dichter hat ein vielbegehrendes Sprachbedürfnis. Er soll das Leben in seinen mannigfaltigsten Gestalten und Bewegungen ergreifen, das Tiefste des Gemütes aussprechen, von ihm erwartet man das Neue, schöpferisch Hervorgerufene; und alles dieses in gemessener Kunst­form, die sich dem Gegenstand anschmiegt und dem Ohre wohltöne. Ihm vor allen muß also daran gelegen sein, daß er die Sprache offen­halte. Ist die Dichtkunst recht lebendig, so wird auch die Sprache, wie ein stark bewegter Strom, nicht so leicht zufrieren. Ist aber einmal die Sprache geschlossen, so erstarrt mit ihr das dichterische Leben.

Der Dichter wird daher immer der erste sein, der mit der Sprach­lehre, die ihre Regeln lediglich aus dem neuesten Gebrauche entnimmt, feindselig zusammentrifft, und es kann ihm nicht genügen, wenn die Sprachlehre bloß unter den Ausnahmen von ihren Regeln gewisse Dichterfreiheiten aufführt, die sie nachsichtig gestattet. Er verlangt keine Fasnachtfreiheit, er verlangt das Anerkenntnis eines stets lebendigen Sprachwachstums und nur diejenige Gesetzgebung wird ihn binden, welche die Bedingungen und Gesetze dieser Fortbildung selbst in sich aufnimmt.

Wenn nun der Dichter, wenn jeder andre, der für sein Sprachbe­dürfnis in dem gegenwärtigen Stand der Sprache keine Befriedigung findet, zu dem Vorrat früherer Zeiten seine Zuflucht nimmt, in welchen die Sprache für gewisse Zwecke, wie namentlich für die Dichtkunst, günstiger gebildet sein mochte, als sie es jetzt ist, so liegt hierin an sich nichts Verwerfliches. Diese Wiedererweckung, des Alten ist kein Rückschritt in der Bildung, sondern eine Erweiterung der Sprache, die sich in gewisser Beziehung gegen ihren vorigen Zustand zu ihrem Nachteile verengt hat, und im Vergleich mit den übrigen Wegen, auf welchen die Sprache erweitert und bereichert werden kann, empfiehlt sich dieser insoferne, als das Wort, welches schon einmal im Leben gewandelt, die Sprachform, welche schon einmal gewissen Zwecken gedient, ihre Tauglichkeit bereits erprobt haben, und als es der neueren Zeit erwünscht sein muß, auch durch Sprachannäherung sich demjenigen zu befreunden, was die Vorzeit Treffliches und für alle Zeiten Gültiges in ihrer Sprache niedergelegt hat.

Diese und andere Bestrebungen, die Sprache zu erweitern soll der Sprachlehrer nicht unterdrücken, er soll sie leiten, vor Untauglichem warnend, das Taugliche fördernd. Durch geschichtliche Erforschung der Sprache selbst belehrt, soll er hinwieder lehren, was die Sprache von dem Verlorenen zum Gewinn wieder in sich aufnehmen, wie sie dieses dem neueren Zustand aneignen, durch welche Mittel sie nach ihrer ge­schichtlich erhobenen Eigentümlichkeit sich naturgemäß fortbilden kön­ne; er soll in diese Fortbildung und Erneuerung Gesetz, Zusammen­hang, Folgerechtigkeit bringen.

Allerdings hat er ein jenem dichterischen entgegengesetztes Bedürf­nis zu beachten, er hat dafür zu sorgen, daß die Sprache allgemein verständlich, im Geschäftsverkehre bestimmt und gleichförmig, für den Jugendunterricht paßlich, dem Fremden erlernbar sei. Man verlangt von ihm Lehr- und Wörterbücher, für den nächsten Gebrauch berechnet, die das Gangbare darbieten, das Ungewöhnliche und Veraltete als solches bezeichnen. Daß er aber über diesem nächsten Bedürfnis jenes höhere nicht vergesse, davor wird ihn nichts gründlicher bewahren, als der Blick in die Geschichte. Wenn er hier sich überzeugt, daß die deutsche Sprache schon in früheren Zeiträumen Bildungsstufen durchlaufen hat, für die sich ebensowohl besondere Sprachlehren und Wörterbücher entwerfen ließen, wie für ihren gegenwärtigen Zustand, daß sie in diesem Zustande zwar an Bestimmtheit gewonnen, an Reichtum und Beweglichkeit aber verloren hat, so wird sich ihm die Ansicht feststellen, daß auch dieser gegenwärtige Zustand selbst nur als eine Bildungsstufe, als ein Stück jener tausendjährigen Geschichte zu betrachten sei.

Und diesem nach hätten wir von einer umfassenden Erforschung der deutschen Sprache, neben den für das nächste Bedürfnis berech­neten Arbeiten, allerdings ein dreifaches Ergebnis zu erwarten:

1)  Eine Geschichte der deutschen Sprache, worin ihre äußeren Schicksale und ihr inneres Wachstum, das Steigen und Sinken ihrer Bildung, die wechselnde Herrschaft der Mundarten, das Eigentümliche ihrer jeweiligen Zustände, und so auch des gegenwärtigen, in einem lebendigen Gemälde dargestellt wären.

2)  Ein Wörterbuch, worin dasjenige, was die Geschichte in größeren Zügen gegeben, an jedem einzelnen Worte durchgeführt, jedes von der Wurzel an durch die verschiedenen Bildungsstufen bis dahin, wo es im Gebrauche zu sein aufgehört, oder, wenn es noch im Gange ist, bis in seine gegenwärtigen eigentlichen oder uneigentlichen Bedeutungen verfolgt würde.

3)  Eine Sprachlehre, welche das Wesen der deutschen Sprache, wie es sich aus einer umfassenden geschichtlichen Betrachtung derselben ergibt, in allgemeinen Grundzügen und mit Anwendung auf die Mundarten darlegte, den Gebrauch derselben, wie er sich in ihrem gegenwärtigen Zustande beschränkt und geregelt hat, ausführte, und die Gesetze, nach welchen sie ihrer geschichtlich erhobenen Natur gemäß der Fortbildung fähig ist, aufstellte und entwickelte.